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by Nate Southard


  »Loch in der Welt. Verfluchtes Loch. Alle hineinspringen …«

  Er stieß mit der Schulter gegen eine Kiefer, die er übersehen hatte, und der Aufprall brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Irgendwie blieb er trotzdem auf den Beinen und setzte seinen stolpernden Spießrutenlauf durch den Wald fort.

  Im selben Moment, als er das Symbol berührte, waren Sterne in seinem Kopf explodiert. Sie hinterließen Dunkelheit und die Illusion einer unglaublich schnellen Bewegung, während etwas seinen wild um sich tretenden und schreienden Geist an einen Ort verschleppte, der ihm gänzlich unbekannt war.

  Er sah eine Höhle vor sich, einen langen Steingang, der tiefer und tiefer ins Erdreich hinabführte. Buchstaben und Schemen waren in den Fels gemeißelt, weiße Kratzer auf schwarzem Stein. Vereinzelt erspähte er vertraute englische Wörter zwischen den Symbolen:

  EIN LOCH IN DER WELT

  WIR WERDEN ALLE HINEINSPRINGEN

  EINE DUNKELHEIT IN GROSSER TIEFE

  SIE WIRD EMPORSTEIGEN

  ICH SEHE AUF EWIG

  WUT

  HASS

  LIEBE

  ÜBERALL HÄNDE

  In der weit entfernten Schwärze vernahm er ein Geräusch. Ein vibrierendes Grollen. Es schüttelte ihm das Gehirn im Schädel durch und drängte ihn, weiterzugehen. Etwas knurrte hinter ihm und er wusste, dass es etwas Großes, mit Fell und Narben Bedecktes war, das glühende Augen besaß. Es griff ihn nicht an, würde ihn aber auch nicht ziehen lassen. Das erkannte er instinktiv. Der einzige Pfad führte nach unten. In die Dunkelheit. In das Loch in der Welt.

  Im Wald stolperte er erneut über seine eigenen Füße und fiel zu Boden. Kiefernnadeln zerkratzten sein Gesicht, Dreckklumpen flogen ihm in die Augen. Mit hektischen Handbewegungen sorgte er für freie Sicht. Als er aufstand, bemerkte er etwas an seinen Händen, das ihn erstarren ließ. Seine Finger waren mit einer schwarzen Flüssigkeit beschmiert. Während er noch überlegte, worum es sich handelte, lief ein Rinnsal über seine Fingerknöchel und den rechten Handrücken. Etwas wollte sich in seiner Kehle Luft verschaffen. Ein Schrei, der den Weg nach draußen nicht fand?

  »Es will raus.«

  Er wusste nicht, was es war, aber er konnte es fühlen. Angst umklammerte seinen Brustkorb, jederzeit bereit, zuzuschlagen, aber ebenso spürte er eine seltsame Neugier. Fast schon eine Art Sehnsucht.

  »Wir werden alle hineinspringen.«

  In der Höhle bewegte er sich schneller und schneller, weil die Vibrationen ihn unwiderstehlich anzogen. Die Gewissheit, dass das Monster hinter ihm her war, brachte sein Herz zum Hämmern. Bald stürzte er in vollem Tempo durch den Gang und das spärliche Licht flackerte bei jedem seiner rasenden Schritte. Ein Schrei, kaum lauter als ein Atmen, heftete sich an seine Fersen. Er konnte die in die Wand gemeißelte Schrift deutlich erkennen, obwohl er in wahnwitzigem Tempo daran vorbeiraste:

  SPRING HINEIN UND BRICH ZUSAMMEN

  ES SAGT MEINEN NAMEN, WENN ICH SCHLAFE

  EINE STIMME WIE DIE EWIGKEIT

  DA IST EIN LOCH IN DER WELT UND ICH HABE ES GEMACHT

  GRABE UND GRABE UND GRABE UND GRABE

  WIR LEBEN IM SCHLAMM, DER UNS VIELES BERICHTET

  DIE GRUBE IST FÜR IMMER UND EWIG

  SCHMERZ

  WEISS DER HENKER

  ICH HABE MICH VERGESSEN

  Nichts davon ergab einen Sinn und dennoch kündete die Botschaft von einer tiefen Wahrheit, die er schon immer erahnt hatte. Er wusste nicht, woher der Gedanke kam, aber er wirbelte durch seinen Geist, bis nichts anderes mehr übrig blieb.

  Die Vibration verwandelte sich in ein lautes Tosen. Um ihn herum verschwammen die Höhlenwände. Unter ihm bebte der Boden und er musste um sein Gleichgewicht kämpfen. Er rannte noch immer und wurde schneller, je tiefer er ins Erdreich hinabstieg. Er bekam keine Luft mehr, aber er brauchte sie auch nicht. Ein bleiches Licht füllte das Ende des Tunnels aus. Ein wahnsinniges Grinsen brannte sich in sein Gesicht ein. Er hielt darauf zu, mit ausgestreckten Armen und mit Fingern, die nach etwas griffen, das er nicht sehen, das er kaum wahrnehmen konnte.

  Eine weitere Botschaft an der Wand:

  URALTE

  MACHT

  BLUT

  VERACHTUNG

  GOTT

  SCHEISSE

  SAKRILEG

  LIEBE

  VERZWEIFLUNG

  DUNKELHEIT

  EWIGER

  HUNGER

  Er schloss die Augen, um die Mitteilung zu verdrängen, aber das half nicht. Er versuchte, sich abzulenken, aber die Wörter schlängelten sich trotzdem durch seine Gehirnwindungen und gruben sich tiefer und tiefer in seine Gedanken ein. Die Dunkelheit nahm ihn in einen erbarmungslosen Klammergriff. Undeutlich blitzte etwas darin auf und er hoffte, dass es lediglich seiner Fantasie entsprang. Möglicherweise entstammte es nicht der Dunkelheit, sondern den Abgründen seines eigenen Verstands.

  Schmutzige, rissige Hände mit Felsbrocken und gebrochenen Knochen stachen auf die Wände ein. Fingernägel kratzten über glitzernden Stein und brachen entzwei, ließen blutige Spitzen zurück, ähnlich verkrümmt wie die schwarzen Klauen des abscheulichen Monstrums. Er schüttelte irritiert den Kopf und rannte weiter. Kalte Luft küsste seinen Nacken, schlang sich um seine Schultern wie bleiche, knochige Arme.

  Als er den Blick erneut auf die Wände richtete, waren andere Wörter darauf zum Vorschein gekommen. Sie ergaben ebenso wenig Sinn wie alles Vorhergehende. Keine einzige Silbe wollte ihm ihre wahre Bedeutung offenbaren. Er weigerte sich, stehen zu bleiben und sich näher damit zu beschäftigen, hatte aber den Eindruck, dass es sich um wirre Buchstabenfolgen ohne erkennbaren Zusammenhang handelte. Außerdem waren sie diesmal nicht eingemeißelt. Sie wirkten wie aufgemalt, prangten in Schattierungen von Rost und hellerem Braun sowie einem Grau, eher einem glühenden Weiß, an den Seiten des Gangs.

  Weitere Motive rauschten an ihm vorbei und er bemerkte Fingerspitzen, welche die Wand bearbeiteten. Sie waren mit Blut und anderen zähen Flüssigkeiten verschmiert. Schwarze, bröckelige Zähne nagten am zweiten Gelenk eines Fingers, bevor schrundige Lippen ihn angewidert ausspuckten. Dann bewegte sich der blutende Stumpf an der Wand entlang, hinterließ eine grausame und unglaublich fremdartige Notiz.

  Er rannte schneller, getrieben von dem verzweifelten Wunsch, diesem Overkill zu entkommen. Doch der Ausgang befand sich hinter ihm. Vor ihm gab es nichts als Licht. Also stürmte er darauf zu, ängstlich und hoffnungsvoll zugleich.

  Der Tunnel endete.

  Der Boden verschwand unter seinen Füßen.

  Er schnappte nach Luft und wühlte mit dreckigen Fingern den Waldboden auf, vergrub sie, als ob ein Schatz unter der Erde auf ihn wartete. Oder eine Zuflucht, die den Wahnsinn von ihm fernhielt. Als er nicht länger nach Luft ringen musste, wimmerte er und fiel auf die Seite, krümmte sich unter Schmerzen. Es fühlte sich an, als ob sich namenlose Dinge in ihm wanden, ineinander verwickelten und verhakten. Aneinander zerrten. Etwas Heißes und Feuchtes lief über sein Gesicht. Nur vage nahm er die hochgewachsenen Föhren durch brodelnde Ströme von Grau und Schwarz wahr. Die Bäume begannen, sich zu verdrehen. Er kniff die Augen zusammen und ruderte mit beiden Händen, um etwas zu finden, das die Normalität in die Welt zurückkehren ließ.

  »Bitte …« Er gurgelte und musste husten. Etwas Heißes spritzte an sein Kinn. Er wischte es weg und schwor sich, nicht hinzusehen. Andernfalls würde er wieder diese schwarze Flüssigkeit vor Augen haben, die fast so dickflüssig wie Schlamm war. Er konnte nicht. Würde nicht. Wenn er wegschaute, könnte er sich zumindest einreden, dass alles in Ordnung war.

  Dann verlagerten sich der Schmutz und die Nadeln unter seinen Fingern. Eine Sekunde lang glaubte er, dass er selbst dafür verantwortlich war – dass er den Boden umpflügte, nur um von der Stelle zu kommen. Obwohl er wusste, dass er sich irrte, öffnete er die Augen, um seine Finger in Aktion zu erleben. Doch sie rührten sich nicht, während der Boden unter ihnen nachgab.

  Eine graue Hand s
choss aus der Erde und packte seine eigene.

  Acht

  Mit jedem Schritt spürte Dani, wie die Verzweiflung sie fester in die Zange nahm. Sie packte sie mit kalten, pochenden Fingern und ließ jede Faser ihres Körpers erschauern. Jedes Mal, wenn Dani einen Hügel erklommen hatte, bloß um sich auf der anderen Seite mit noch mehr Wald konfrontiert zu sehen, verstärkte sich der Griff. Wenn sie etwas hörte, das sie zunächst für ein Geräusch aus der Zivilisation hielt, um dann festzustellen, dass es ihrer Fantasie entsprungen war oder der Wald ihr einen grausamen Streich gespielt hatte, wuchs der Druck, bis sie glaubte, keine Luft mehr zu bekommen.

  Nach ihrer Schätzung waren sie fast eine Stunde lang durch die Gegend gelaufen, möglicherweise sogar noch länger. Sie wusste, dass sie unter normalen Umständen in zehn Minuten etwa einen Kilometer schaffte. Wenn man die Beschaffenheit des Geländes berücksichtigte, dürften sie etwa vier oder fünf zurückgelegt haben. Und ringsum nichts als Kiefern. Allein darüber nachzudenken, brachte die kalte Hand der Verzweiflung dazu, ihren Klammergriff zu verstärken. Diesmal hätte sie ihr beinahe einen gereizten Aufschrei entrissen.

  Sie wollte losspurten. Schon jetzt triefte der Schweiß auf ihrer Stirn und die Beine schmerzten. Die verbrannte Haut an ihrem Oberkörper verursachte ein beißendes Ziehen. Bei jedem Schritt schien ein Stück von ihr aufzureißen. Und doch wollte sie nicht aufgeben, in Höchstgeschwindigkeit durch den Wald spurten und etwas finden, das Rettung versprach.

  Ein Blick über die Schulter verriet ihr, dass sie sich diese Idee abschminken konnte. Wo sie Erschöpfung verspürte, stand Conner nur Minuten vom Kollaps entfernt. Er stolperte 20 Meter hinter ihr her und wirkte, als würde er jeden Moment zusammenbrechen. Sein T-Shirt schien um zwei Größen geschrumpft zu sein und klebte wie ein lästiger Symbiont an seinem Körper. Er hielt die Augen geschlossen und den Blick in einer Mischung aus Erschöpfung und stillem Leid nach unten gerichtet. Hätte sie ihn nicht am liebsten an den Haaren gepackt und weitergezerrt, er hätte ihr furchtbar leidgetan.

  Dani gelangte an den Fuß einer weiteren Erhebung und begann, mit entschlossenen Schritten hinaufzukraxeln. Der Berg schien steiler zu sein als die vorherigen. Deshalb beugte sie sich vor, um mit den Händen Halt zu suchen und sich stückweise nach oben vorzuarbeiten. Ein Laut, der halb Seufzen und halb Stöhnen war, verriet ihr, dass auch Conner entdeckt hatte, welche Herausforderung vor ihm lag. Sie holte tief Luft und rief ihm aufmunternd zu: »Komm schon!«

  Für einen langen Moment stand er einfach nur da, die Hände in die Hüften gestemmt, und kämpfte gegen die Kapitulation an. Sie hatte die Hügelkuppe bereits erreicht, als er von unten winkte und mit kläglicher Stimme verkündete: »Ich werd … kurz Pause machen. Ich kipp sonst um.«

  »Erst kommst du hier rauf.«

  »Ich kann nicht.«

  »Doch, du kannst, Conner. Du schaffst das! Reiß dich ein letztes Mal am Riemen, dann legen wir eine kleine Verschnaufpause ein. Ich versprech’s dir.«

  Er atmete keuchend aus und nickte entschlossen. Langsam begann er, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Nach den ersten Metern ließ er sich nach vorn fallen und kroch auf allen vieren weiter. Dani beobachtete, wie er sich mühsam den Hang hinaufkämpfte. Der Junkie schien jede Etappe unter Einsatz seines Lebens zu bewältigen. Als er die Hälfte der Distanz geschafft hatte, wandte sie sich zum Weitergehen.

  Die Sonne wanderte über den Himmel und stand fast senkrecht über ihnen. Es fühlte sich falsch an. Sie war noch nicht lange genug aufgegangen, um eine so große Distanz zurückgelegt zu haben. Trotzdem fühlte Dani sich durch den Anblick beflügelt. Das Letzte, was sie ihrer Gruppe wünschte, war, eine weitere Nacht an diesem verdammten Ort zu verbringen. Deshalb blieb ihr nur die Wahl, Conner entweder in den sicheren Herzinfarkt zu treiben oder ihn zurückzulassen. Nein, es musste eine andere Möglichkeit geben! Sie spähte noch einmal zur Sonne hinauf und ihr kam eine Idee. Sie federte auf den Fußballen und musterte die Umgebung, um im Kopf eine Route zu planen. Ja, das müsste zu schaffen sein!

  Conner erreichte die Hügelkuppe und fiel mit dem Gesicht voraus in die Kiefernnadeln. Sein Rücken hob und senkte sich und er streckte völlig ausgepumpt sämtliche Gliedmaßen von sich.

  »Ruh dich für eine Minute aus«, sagte sie zu ihm. »Ich gehe weiter rauf, um zu sehen, ob ich irgendwas entdecke.«

  Langsam kam sein Kopf vom Boden hoch. Seine Lider blieben zusammengekniffen, als er ungläubig fragte: »Weiter rauf?«

  »Ja. Auf einen Baum.«

  »Von mir aus.« Sein Kopf sank wieder nach unten. Sie nahm an, dass er ihn auf absehbare Zeit nicht mehr anheben würde.

  Sie atmete tief ein und machte ein paar Dehnübungen, malte sich aus, wie ihre Finger sich um den über ihr hängenden Ast schließen würden, und hoffte, dass das als Motivation ausreichte, damit ihr der Sprung gelang. Keuchend vor Anstrengung holte sie Schwung und streckte in der Luft beide Arme aus. Sie bekam den Ast mit den Fingerspitzen zu fassen. Ihr Körper schwang nach vorn, doch sie konnte sich nicht halten, und nach einem schrecklichen Augenblick der Schwerelosigkeit krachte sie zurück auf den Boden.

  Während sie in der Hocke abfederte, warf sie einen Blick zu Conner. Er hatte auf ihr kleines Malheur überhaupt nicht reagiert. Wahrscheinlich schlief er.

  Sie verbrachte noch einen Moment damit, ihr Ziel anzuvisieren, eine bessere Vorstellung von Winkel und Höhe zu bekommen, und gönnte ihren Beinen ein wenig Erholung. Sie brannten, jeder einzelne Muskel wirkte überreizt. Wenn sie nicht bald sprang, schaffte sie es überhaupt nicht mehr.

  »Okay, auf geht’s.« Eine tiefe Kniebeuge und dann hüpfte sie so hoch, wie ihre geplagten Gelenke es zuließen. Sie streckte die Arme aus, ihre Augen folgten ihren Händen und dann schlossen sich ihre Finger ein zweites Mal um den Ast. Wieder schwang ihr Körper nach vorn, doch diesmal verlor sie nicht den Halt. Ihre Hände fungierten als Krallen, die sich im Holz verhakten. Einen Augenblick später hievte sie sich hinauf.

  Ihre Arme, Schultern und Rippen brannten, als ob Flammen unter ihrer Haut züngelten und alles zerstörten, was sich ihnen in den Weg stellte. Sie zischte durch ihre gefletschten Zähne und kniff die Augen zusammen, um den Schweiß abzuwehren, der ihr übers Gesicht lief. Bald hockte sie rittlings auf dem Ast, den Rücken gegen den Stamm gelehnt, und sog gierig die Luft in ihre schmerzenden Lungen.

  »Ich bin die Königin der Welt«, flüsterte sie zwischen zwei keuchenden Atemzügen. »Ist das nicht herrlich?« Sie lachte leise in sich hinein. Es tat höllisch weh, aber das war ihr in diesem Augenblick egal. Sie hatte es geschafft!

  »Schau mich an, Conner! Ich bin die Königin der ganzen Welt!« Der Gitarrist gab keine Antwort. Ein träges Wackeln mit den Fingern war die einzige erkennbare Reaktion. Dani warf den Kopf in den Nacken und gönnte sich einen hysterischen Lachflash. Verdammt, sie hatte etwas Wichtiges erreicht. Selbst wenn sonst nichts dabei herauskam, konnte sie zumindest von sich behaupten, mit einem Riesensatz auf einen Baum gesprungen zu sein. Spider-Man konnte einpacken.

  Als sie sich so weit erholt und das Brennen in ihrem Körper einem dumpfen Ziehen Platz gemacht hatte, inspizierte sie die nähere Umgebung. Dank früherer Erfahrungen mit den Kiefern, die unweit ihres Elternhauses wuchsen, wusste sie, dass man diese immergrünen Bäume wie eine Wendeltreppe besteigen konnte, wenn man sich Zeit ließ und vorher in Ruhe einen Weg zurechtlegte. Das einzige Problem bestand darin, dass sie ein ganzes Stück kleiner gewesen war, als sie das letzte Mal einen Baum bestiegen hatte. Räume, die Kindern weit offen erschienen, kamen für Erwachsene einem klaustrophobischen Albtraum gleich. Diese Kiefer – zu gerne hätte sie gewusst, um was für eine Unterart es sich handelte – schien jedoch breit genug gewachsen zu sein, dass sich dieses Problem nicht stellte.

  »Wird schon schiefgehen.« Sie holte tief Luft, klammerte sich an den Ast unter ihr, holte Schwung und zog die Beine an. Nach ein paar bangen Momenten, in denen sowohl Kraft als auch Gleichgewicht sie kläglich im Stich zu lassen drohten, schaffte sie es, sich aufrecht hinzustellen. Dabei umarmte sie den Baumstamm regelrecht. De
r Boden befand sich unvorstellbar tief unter ihr. Sie versuchte, den Blick in diese Richtung zu vermeiden, scheiterte jedoch. Conners Körper schien unendlich weit entfernt zu sein. Ihn auf den Kiefernnadeln liegen zu sehen, führte dazu, dass die Landschaft um sie herum zu einer spontanen Karussellfahrt ansetzte. Sie drückte das Gesicht an die Baumrinde, atmete schwer und stoßweise.

  »Okay«, flüsterte sie den Baum an. »Also noch mal. Irgendwann klappt das schon.«

  Der nächstgelegene Ast befand sich knapp einen Meter höher und gut 50 Zentimeter weit zu ihrer Rechten. Sie packte ihn ganz fest, erst mit einer Hand, dann nahm sie die andere zur Hilfe, und stemmte sich mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, hinauf. Nach einer nervösen Hängepartie, die ihr das Gefühl gab, die Welt sei unter ihr weggestürzt, erreichte sie ihr Ziel und schaffte es nach einigen Sekunden, ihren Körper sicher auszubalancieren. Der nächste Aufstieg fiel ihr schon deutlich leichter und als sie den vierten und schließlich fünften Ast erreicht hatte, war einiges der in ihren Muskeln gespeicherten Erfahrung zurückgekehrt. Je weiter sie kletterte, desto leichter fiel ihr der Aufstieg. Bald bahnte sie sich eine spiralförmige Route um den massiven Kiefernstamm, höher und höher, während der Waldboden unter ihr zusammenschrumpfte.

  »Mittagessen!«, rief Potter durch das Loch im Flugzeugrumpf.

  Kevin hob den Kopf nur kurz. Er sank sofort zurück auf das Kissen, das Potter für ihn aufgetrieben hatte. »Wir haben das Frühstück ausgelassen.«

  Das hörte sich nicht richtig an. Potter warf einen ungläubigen Blick auf die Uhr, als er registrierte, dass es bereits elf Uhr durch war. Die Stunden waren wie im Flug vergangen und er wusste nicht recht, ob sein Kopf ihm aufgrund des Schlags, den er abbekommen hatte, Streiche spielte oder er so viel über Termine und Entscheidungen nachgrübelte, dass er sich nicht länger auf sein Zeitgefühl verlassen konnte. Verdammt, er baute ab. Er musste sich zusammenreißen, wenn sie überleben wollten.

 

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