ALTERED STATES

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ALTERED STATES Page 4

by Paddy Chayefsky


  »Um Himmels willen, komm in den Schatten.«

  »Magst du mich immer noch?«

  »Natürlich.«

  »Und findest du mich immer noch sexy?«

  »Ich werde dich immer sexy finden.«

  »Okay«, sagte sie, »das soll mir genügen. Lass uns heiraten.«

  Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. Er umarmte sie. Sie hatte die lebhafte, stechende Empfindung von bevorstehendem Grauen. Dann wurde ihr schwarz vor Augen, und die Knie gaben nach. Er fing sie auf und trug sie in den schwarzen Höhleneingang.

  Am 26. August flogen sie zurück nach Boston, unterbrachen ihre Reise nur in Amsterdam, um zu heiraten, und schon am Labor Day, dem ersten Montag im September, zogen sie in eine Vierzimmerwohnung in der Powell Street, das Erdgeschoß eines dieser hübschen, efeubedeckten, vierstöckigen Ziegelhäuser im Beacon Hill-Bezirk.

  Sie wirkten wie das Urbild eines akademischen Paares; er ratterte jeden Morgen mit dem Toyota zur Harvard Medical School, und sie nahm den Bus nach Cambridge: strahlende, gutaussehende junge Leute. Sie unterrichteten, sie forschten, sie publizierten; Emily schrieb ein Buch mit dem Titel Einführung in die Anthropologie, das bis heute das am weitesten verbreitete Textbuch auf diesem Gebiet ist.

  Ihre erste Tochter, Grace, wurde 1970 geboren und Margaret, die zweite, 1973. Jessup wurde in diesem Jahr zum ordentlichen Professor und Emily im Jahr darauf zum außerordentlichen Professor ernannt. Geld hatten sie genug; zusammen verdienten sie mehr als 60.000 Dollar im Jahr. In Maine hatten sie ein Sommerhaus, kamen aber selten dorthin, weil sie meist zu beschäftigt waren. Emily konzentrierte sich jetzt auf symbolische Verhaltensmuster der Savannenprimaten; ihre Grundhypothese war, dass die physischen Voraussetzungen für solch symbolisches Verhalten wie die Sprache wahrscheinlich schon bei den gemeinsamen Primatenvorfahren des Oligozän vorhanden waren, und dass sie sich beim Menschen nur entwickelten, weil sie für ihn als Jäger und Fleischfresser überlebenswichtig waren.

  Jessups Forschungen lagen vorwiegend auf dem Gebiet des Langzeitgedächtnisses. Zusammen mit einem Endokrinologen namens Mason Parrish befasste er sich mit ACTH4-7, einer kurzen Kette von Aminosäuren, die für das Prägen von Kurzzeiterinnerungen eine Rolle zu spielen schien.

  Dann kam ihnen ein glücklicher Zufall zur Hilfe. Parrish wurde zur Behandlung eines Schlag-Patienten mit einem Cushing-Syndrom am Allgemeinen Krankenhaus von Massachusetts hinzugezogen. Der Mann brach immer wieder in heftiges Plappern aus, und wenn man ihm aufmerksam zuhörte, wirkte sein Sprechen durchaus zusammenhängend und zielorientiert. Irgendwer identifizierte sein Sprechen als einen slowenischen Dialekt. Parrish sah sich seine Karteikarte an; beide Eltern waren Iren, und er hatte Boston nie verlassen. Sie machten mit ihm ein CAT-Scan und ein Zerebral-Arteriogramm; er hatte Läsionen im vorderen Hippocampus und im Gyrus cinguli, zwei Organen des limbischen Systems. Das war interessant, denn das limbische System ist der Teil des Endhirns, der sich am frühesten entwickelte und selbst bei so primitiven Tieren wie Krokodilen schon zu finden ist. Parrish erzählte Jessup davon, weil er wusste, dass sein Kollege sich für solche abseitigen Dinge interessierte. Jessup fand, es klingt wie eine vorgeburtliche Erinnerung. Das interessierte ihn nun allerdings; er nahm sich im Allgemeinen Krankenhaus alle Fälle von Gehirnschlag und Schädeltraumen der letzten zehn Jahre vor und suchte nach ähnlichen Berichten. Was er dort über ungewöhnliche und unerklärliche Erinnerungen fand, war mehr, als dass man noch von Zufall hätte sprechen können.

  »Donnerkeil!«, sagte Jessup, »da ist vielleicht tatsächlich eine Verbindung zwischen Läsionen des limbischen Systems und dem Gedächtnis.«

  Zusammen mit Milton Mitgang, einem Kollegen aus der Psychophysiologie, suchte er eine Gruppe von Patienten aus der Neurologie zusammen und ließ sie eine ganze Reihe von Aufgaben ausführen. Die Ergebnisse zeigten, dass die Fähigkeit zur Bewältigung von Aufgaben mit Hilfe des Kurzzeitgedächtnisses nicht beeinträchtigt war und dass die Funktionsmechanismen des Kurzzeitgedächtnisses intakt geblieben waren. Beim Langzeitgedächtnis zeigte sich dagegen ein deutlicher Verfall, und daraus ließ sich schließen, dass das limbische System die Verankerung von Langzeiterinnerungen beeinflusst. Aber wie? Jessup hätte gern die Regionen, die durch Läsionen ausgefallen waren, elektrisch stimuliert, aber in menschliche Großhirne kann man nun mal keine Mikroelektroden hineinstecken. Also besorgte er sich zwei graduierte Studenten und einen Zuschuss von 65.000 Dollar und machte seine Untersuchungen mit Ratten, und zwar mit bereits geschulten Ratten aus der Abteilung für Experimentaltiere. Seine Resultate waren gut. Die Experimente deuteten stark darauf hin, dass eine Stimulierung des limbischen Systems das Langzeitgedächtnis anregt.

  An diesen Versuchen arbeitete er immer noch, als Arthur Rosenberg 1975 in die Bostoner Gegend zog.

  Rosenberg war von Natur aus eine Art Wissenschafts-Streuner: Er war im ganzen Land umhergezogen, von Cornell zur University of California Los Angeles, zur University of Chicago und wieder zurück ans Langley Porter Psychiatrie Institute in San Francisco, immer bereit, sich für irgendwelche kleinen Forschungsaufgaben zu begeistern, die ihm über den Weg kamen. Aber er hatte eine Frau und zwei Kinder, und solche Zufallsforschung ist eine brotlose Kunst; also verschaffte er sich einen Lehrauftrag an der Bostoner Universität und fing an, ein Buch über Pharmakologie zu schreiben.

  An einem Samstagnachmittag im April tauchte er mit Sylvia, seiner Frau, plötzlich bei den Jessups auf. Emily hackte gerade in dem chaotisch unordentlichen Wohnzimmer auf der Schreibmaschine herum. Sie sprang mit einem Freudenschrei auf, und es gab eine große Begrüßung mit vielen Umarmungen. Jessup war mit den Kindern und seinem Kumpan Mason Parrish einkaufen gegangen; sie mussten jetzt schon wieder auf dem Rückweg sein. Rosenberg ging auf die Straße hinunter und wartete auf sie. So wie er Jessup nach über sieben Jahren jetzt zum ersten Mal wiedersah, bot er einen fast komisch familienväterlichen Anblick. Er kam um die Ecke geschlendert, gondelte seine zweijährige Tochter mit der linken Hand in einem Kinderwagen vor sich her, hielt in der Rechten eine große Papiertüte mit Lebensmitteln, während seine fünfjährige Tochter hinter ihm her hüpfte, und dabei unterhielt er sich auch noch angeregt mit einem vollbärtigen, bärenhaften Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren; das musste wohl Mason Parrish sein. Es war ein schöner, warmer Nachmittag, und die Straße wimmelte von Kindern auf Fahrrädern. Jessup und Parrish beide in Jeans und Pulli. Das Ganze wirkte so provinziell, dass Rosenberg kaum seinen Augen traute. Jessup nickte sogar den Nachbarn zu.

  Rosenberg konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Gütiger Himmel«, sagte er, als sie an ihm vorbeigingen, »wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde, könnte ich es nicht glauben.«

  Jessup verschluckte den Rest des Satzes und starrte ihn an. »Mensch, Arthur! Du wolltest doch erst nächste Woche kommen. Weiß Emily, dass du hier bist?«

  »Na klar. Sie ist drinnen mit Sylvia.«

  »Na, das ist ja ein Ding. Mason, das ist dieser Rosenberg, von dem ich dir dauernd erzähle.«

  Parrish war so richtig der überschäumende Bursche aus West Virginia; er griff nach Rosenbergs Hand und dröhnte: »Hallo. Na klar ist er das.«

  »Hallo«, sagte Rosenberg.

  Jessup drückte Parrish die Lebensmittel in die Hand, schnallte die Kleine aus dem Wagen los, nahm sie auf die Schulter und zerrte den Wagen hinter sich her die Stufen zu seiner Wohnung hoch. Drinnen empfing sie ein genialisches Durcheinander. Stapel von Büchern verstopften den Eingangsflur, und auch in allen anderen Räumen lagen überall Bücher über den Boden verstreut. Emily hatte sich im Wohnzimmer eine Ecke eingerichtet; auf einem Klapptisch stand ihre Schreibmaschine, war aber kaum noch auszumachen unter den Bergen von wissenschaftlichen Zeitschriften und Studentenarbeiten, die mitunter auf den Boden fielen oder auch in die zahlreichen Pappkartons, die um den Tisch herumstanden und wohl Emilys Archiv darstellen sollten. Jessups Arbeitsecke im Schlafzimmer war weit ordentlicher; da gab es ein richtiges Karteischränkchen mit drei Schubladen und ein Schreibpult, und im Regal standen ordentlich beschriftete dicke Kladden säuberlich nebeneinander. Aber der Rest
dieses Zimmers war ein einziges Chaos. Es war schon fast drei Uhr nachmittags, aber das große Doppelbett war immer noch nicht gemacht, und die Kleidungsstücke von gestern hingen noch über Stuhllehnen oder lagen in Haufen auf dem Boden. Der Haushalt war sichtbar nicht Emilys Stärke.

  Sylvia kam aus der Küche, wo sie mit Emily geplaudert hatte, und umarmte Jessup. »Weißt du, wie lange das schon her ist?«, rief sie, »wir haben uns nicht mehr gesehen, seit du nach Indien gegangen bist!«

  »Ich weiß«, lächelte Jessup.

  Man wurde einander vorgestellt. »Sylvia, das hier ist Mason Parrish.«

  »Über sieben Jahre«, rief Sylvia wieder, »haben wir diese beiden nicht gesehen.«

  Parrish strahlte durch seinen Bart. Jessup ließ sich in einen der Polstersessel im Wohnzimmer fallen, und Margaret schlief sofort an seiner Brust ein. »Emily ist jetzt außerordentlicher Professor«, informierte er Rosenberg, der sich auf dem Sofa räkelte.

  »Ja, weiß ich; hat sie mir gesagt. Ihr müsst ja Geld wie Heu haben, zwei Professoren in der Familie.«

  »Wir haben ein Sommerhaus in Maine. Das könnt ihr benutzen, wenn ihr wollt. Emily geht nach Afrika, und ich werde im Sommer in Mexiko sein. Hör mal, kennst du einen Kerl namens Echeverria an der Universität von Mexiko; der sagt, er hätte mit dir am Langley Porter zusammengearbeitet?«

  »Aber sicher. Unheimlich heller Typ.«

  »Na, der ist hier in Boston am Botanischen Museum. Wir müssen uns alle mal treffen. Im Juni gehe ich mit ihm nach Mexiko.«

  »Was wollt ihr denn da?«

  »Also, Echeverria hat doch da unten so einen Hexendoktor; die Hinchi-Indianer, hast du schon mal was von den Hinchi-Indianern gehört? Das ist ein ganz isoliert lebender Stamm in Zentralmexiko, in der Gegend von San Luis Potosī; da gibt es immer noch diese uralten Rituale, heilige Pilzzeremonien und so was. Es sieht so aus, als hätten sie eine Drogenmischung, die bei jedem, der sie nimmt, die gleichen Halluzinationen auslöst; also, wenn das stimmt - «

  Rosenberg seufzte. »So, so, du experimentierst also immer noch mit anderen Bewusstseinszuständen.«

  »Aber ja.«

  »Noch mal in einem Isolationstank gewesen?«

  »Nein. Der ist ein bisschen aus der Mode, glaube ich. Es gibt hier an der Medical School einen, aber in den letzten fünf oder sechs Jahren hat ihn wohl keiner mehr benutzt. Und du?«

  »Nein.«

  Emily kam aus der Küche herüber. »Herrje, Arthur, ich hab' ganz vergessen, dich zu fragen - willst du Kaffee, Kekse? Wir haben hier alles Mögliche Zeug für die Kinder herumliegen.«

  »Großartig«, sagte Rosenberg.

  »Und du, Mason?«

  Parrish lag platt auf dem Rücken und tat so, als hätte Grace, die vor Vergnügen gluckste, ihn umgehauen.

  Jessup stand auf. »Also die hier packe ich jetzt wohl besser ins Bett.«

  Er trug die schlafende Margaret ins Schlafzimmer. Rosenberg ging ihm nach, lehnte sich in den Türrahmen und sah zu, wie er das Kind ins Bett legte und zudeckte. Der Raum war dunkel, aber er kam Rosenberg doch beträchtlich unordentlicher vor als andere Kinderzimmer. Offene Pappschachteln standen herum, Kinderkleider, noch mit den Bügeln, lagen auf dem anderen Bett, und Spielzeug war in kleinen Haufen über dem Boden verstreut. Aber es war rührend zu sehen, wie behutsam sich Jessup um seine Tochter kümmerte.

  »Ihr beide habt die Sache schon ganz gut im Griff, Eddie«, sagte er.

  Aus dem Schatten auf der anderen Seite des Bettes sah Jessup zu ihm auf und lächelte. »Du machst wohl Scherze. Wir trennen uns. Ich dachte, Emily hätte dir das schon erzählt.«

  »Was soll das heißen, ihr trennt euch?«

  »Das soll heißen, dass Emily mit den Kindern auszieht. Für nächstes Jahr hat sie schon eine Wohnung in einem Haus in Cambridge, und da kann sie jetzt schon ihren Kram unterstellen. Meine Güte, Arthur, glaubst du etwa, dass wir immer in so einem Saustall wohnen? Emilys Haushaltsführung ist zwar lausig, aber so schlimm nun auch wieder nicht.«

  Das hatte Rosenberg tatsächlich nicht erwartet. »Das kann ich einfach nicht glauben«, schluckte er. »Wir sehen euch sieben Jahre lang nicht, und das erste, was man dann hört, ist, dass der eine in drei Wochen nach Afrika geht und der andere im Juni nach Mexiko, und jetzt erzählst du mir auch noch, dass ihr euch ganz trennen wollt! Was ist denn mit diesen ganzen fröhlichen Briefen, die du uns geschrieben hast, wo immer alles so eitel Sonnenschein war?«

  »Emily hat die Briefe geschrieben, Arthur. Und sie hat gelogen. Oder vielleicht hat sie zu der Zeit geglaubt, dass sie glücklich war. Die Kinder haben ihr viel Freude gemacht. Und mit der Arbeit lief alles so gut. In so einer Situation braucht es wohl nur wenig Selbstbetrug, um sich für glücklich zu halten. Ich hab' es versucht, Arthur. Ich bin kein Schuft. Ich bin nicht grausam. Ich habe wirklich versucht, den guten Ehemann und Vater zu spielen. Aber es war eben alles Mache. Kein Gramm Wahrheit.«

  Er betrachtete die Silhouette seines schlafenden Kindes auf dem Bett, zärtlich, wie es schien. Dann blickte er wieder zu Rosenberg auf, seine Augen plötzlich weiß in dem dämmrigen Raum.

  »Alles Scheiße«, murmelte er, »alles künstlich.«

  Er ging um das Bett herum, blieb stehen und blickte stirnrunzelnd zu Boden. »Ich spiele den vernarrten Vater. Es stimmt nicht. Ich empfinde jetzt im Moment nicht wirklich etwas für dieses Kind, außer vielleicht Erleichterung, weil es endlich schläft. Oh, ich mache alles. Ich bin ein aufmerksamer Vater, ein besorgter Vater. Ich nehme sie mit in den Zoo, ich kitzle sie am Bauch. Ich sitze bei ihnen, wenn sie krank sind, ich raufe mit ihnen, wenn es ihnen gut geht, ich nehme sie in den Arm, wenn sie Angst haben. Manchmal bin ich sogar streng. Und ab und zu hab' ich sogar Freude an ihnen. Aber ich kann es nicht ändern, Arthur, meist will ich sie einfach nur los sein. Ich will allein sein. Ich habe noch viel mit mir selbst zu tun. Ich muss mir selbst noch begegnen. Denn das Selbst, das ich im Augenblick habe, ist ein unechtes, zusammengeschustertes Ding, erfunden, voller Täuschungen, unwirklich, ohne Wahrheit und Substanz, immer so als ob, immer verlogen, heute anders als gestern und immer wieder in anderer Form. Ich will zum verborgenen Urgestein des Lebens vordringen, zu der nackten und bloßen Seele, wie der biblische Johannes sagen würde. Ich will die Scheidung, Arthur, nicht Emily. Sie würde ganz gern so weitermachen wie bisher. Sie sagt immer noch, dass sie mich liebt, was immer das heißen soll. In Wahrheit meint sie wohl, dass ihr dieses Irgendwie-Zusammenleben lieber ist, als allein zu sein. Sie zieht das sinnlose Leid, das wir einander zufügen, dem Schmerz vor, den sonst jeder sich selbst zufügt. Aber ich habe keine Angst vor diesem einsamen Schmerz. Ich bin wie einer von diesen frühen patristischen Einsiedlern. Ich will in die Wüste wie der heilige Antonius. Wenn ich Gott schon nicht finden kann, dann will ich wenigstens mein eigenes Selbst finden.«

  Jessup trat aus dem Dämmer des Zimmers in die kleine Lache von Tageslicht an der Tür. Er freute sich wirklich, dass Rosenberg da war. Er legte ihm einen Arm um die Schulter und sagte: »Los, jetzt rufen wir Echeverria an, und dann gehen wir alle zusammen zum Essen.«

  »Prima«, sagte Rosenberg.

  Sie gingen zu Dom's, eine lärmende, fröhliche Tafelrunde, acht redselige Akademiker, alle etwa Mitte dreißig, und alle schwatzten gleichzeitig über ihre Arbeit, verdrückten ihre Spaghetti und schütteten reichlich Wein in sich hinein. Emily erzählte Parrishs Begleiterin, einer Medizinstudentin im zweiten Jahr, dass sie nach Afrika gehen wolle, um die Lautverständigung der Paviane zu erforschen. (»Der Mensch unterscheidet sich zum Beispiel dadurch vom Schimpansen, dass er Werkzeuge braucht, um überleben zu können, und deshalb eine Hirnrindenstruktur entwickelt hat, die mit Werkzeugen etwas anfangen kann. Ein Schimpanse kann einen Stock benutzen, um in einen Termitenhügel hineinzukommen, aber die Spezies kann auch ohne dieses Hilfsmittel überleben. Ein Pavian, der fast nur vegetarisch lebt, braucht eine halbe Stunde, um eine Wurzel auszugraben. Es kommt ihnen einfach nicht in den Sinn, dass sie mit einem Stock in fünf Minuten ans Ziel kommen würden. Ursprünglich gehörte der Mensch wie die Paviane zu den Savannenprimaten. Also was gab es denn in den Savannen Ost- und Süda
frikas für besondere Lebensumstände, dass eine bestimmte Gruppe von Affen anfing, Stöcke zu benutzen, um ihr Futter auszugraben? Vermutlich waren die Paviane und die gerade entstehende Menschheit den gleichen Einflüssen ausgesetzt...«)

  Parrish flirtete mit Echeverrias Mädchen, einer Botanikerin vom Botanischen Museum. (»Niemand weiß wirklich, wie das Gedächtnis arbeitet. Offenbar behalten wir alles, was wir aufnehmen, für etwa fünfzig Millisekunden; dann verschwindet es entweder oder wird vom Bewusstsein herausgefiltert und festgehalten. Als Botanikerin wirst du ja wissen, dass Puromyzin ein Gedächtnis leerfegen kann und dass sympathikomimetische Drogen wie Strychnin, Dextroamphetamin und so weiter die Merkfähigkeit anregen können. Aber die sind alle giftig, machen süchtig, erzeugen Krämpfe und sind körperfremd. Besonders interessant finde ich deshalb, dass eine kleine Kette von Aminosäuren, ACTH4-7, eine körpereigene Substanz, bei der Fixierung von Gedächtnisinhalten eine Rolle spielt. Daraus entsteht allerdings gleich wieder eine neue Frage. ACTH ist ein Peptid. Seine Sekretionsrate wird vom Stress beeinflusst. Ist ACTH wirklich eine Schlüsselsubstanz für das Lernen oder ist es nur ein hormonaler Stoff unter anderen, die sich auf Stress hin bilden? Interessierst du dich wirklich für diesen Mist, Süße? Wenn ja, dann bin ich gerne bereit, diese Woche jede Nacht und bis in alle Einzelheiten...«)

  Rosenberg ging von einem zum andern und wollte von jedem eine Unterschrift unter eine Petition, in der eine Überprüfung und Verschärfung der vom National Institute of Health herausgegebenen Richtlinien für Forschungen auf dem Gebiet der DNA-Um-Kombinierung gefordert wurde.

  »Oh, Mann«, unterbrach Emily ihr eigenes Geplauder, »du bist noch keine vier Tage in Boston, und schon Mitglied der Vereinigung besorgter Wissenschaftler.«

  Sie unterschrieb aber doch. Rosenberg, immer schon ein sehr ernsthafter Wissenschaftler, war außerdem Mitglied der Bewegung Wissenschaft für den Menschen, des Komitees für Moralität in der Wissenschaft und der DNA-Um-Kombinierungsgruppe für Boston und Umgebung. Die Asilomar-Konferenz, die gerade erst zwei Monate zurücklag, hatte Regeln für die DNA-Forschung, für Labors mit gemäßigtem und hohem Risiko und selbst für unfallsichere biologische Schutzvorkehrungen festgelegt. Diese Regelungen wurden von vielen Mahnern als zu lasch angeprangert, und sie forderten jetzt, das National Institute of Health solle noch schärfere Bestimmungen festlegen. Darum ging es auch in Rosenbergs Petition, und er zwängte sich jetzt neben Echeverria an den Tisch, um ihn zum Unterschreiben zu überreden. (»Wir Wissenschaftler sind der Öffentlichkeit genauso moralisch verpflichtet wie unserer eigenen Forschung. Einige Splitter dieser Schrotladung könnte die krankheitsverursachende Potenz von Bakterien vergrößern. Lieber Himmel, sie zerschnippeln Fruchtfliegen, bauen die Stücke in E-Coli ein und machen damit eine Massenproduktion von diesen Bakterien. Wir haben es hier mit lauter Unbekannten zu tun; nur ein paar Gene können wir überhaupt identifizieren. Und jetzt heißt es sogar, dass sie uns hier in Cambridge ein P-3-Labor hinsetzen wollen. In Stanford und Massachusetts haben sie so was schon, und in Woods Hole ist die Sache mit den Tumorviren schon längst außer Kontrolle. Wir können doch den ganzen Planeten auslöschen, wenn wir nicht aufpassen, also unterschreib das verdammte Ding, Eduardo...«)

 

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