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ALTERED STATES Page 8

by Paddy Chayefsky


  Stille.

  Rosenberg las, und Parrish saß vornübergebeugt auf einem hölzernen Klappstuhl; aus seinen Taschen schauten die Werkzeuge seines Handwerks hervor - ein Stethoskop, ein Ophthalmoskop, Füllfederhalter, ein Leuchtstift. Um 16.47 Uhr wurden sie durch Jessups Stimme aufgeschreckt. »Okay«, tönte es aus dem Lautsprecher.

  »Sammlung um sechzehn Uhr siebenundvierzig erreicht«, sprach Rosenberg auf das Band. Er stellte fest, dass die Kassette sich dem Ende näherte, und bereitete ein zweites Gerät vor.

  »Und was passiert jetzt?« flüsterte Parrish.

  Rosenberg wollte gerade antworten, als Jessup sich wieder meldete: »Allerhand unzusammenhängendes Zeug, aber sehr präzise Bilder: Käfer, Maden, Mistfliegen, herabstoßende Vögel mit gezähnten Schnäbeln, Gänse, Geier, Sturmtaucher, Tölpel - ein flugunfähiger Vogel, sieht aus wie ein Strauß, aber gut drei Meter groß, ein Beutelmaulwurf, ein Biber, so groß wie ein Bär - ich bin in irgendeiner Urzeit - jetzt kann ich die Gegend erkennen, phantastisch! - breitblättrige tropische Pflanzen, Bananenbäume, Palmen, Jujuben-Dorn, Riedgras, Lanzettgräser - oh, es ist unglaublich! Ein Plateau oder eine Niederung, Grasland, Savannen - jetzt hab' ich es ganz klar und deutlich, vollständig, wirklich, keine Halluzination, ich lebe wirklich in dieser Landschaft - etwa ein bis zwei Kilometer weit weg dichter Wald, dahinter Berge, die anscheinend rauchen, eben geborene Berge, känozoisch, spätes Tertiär, ich bin in einer Randzone - Stille, aber lebendig, Leben in den Bäumen, Leben im Gras, Paradies, der Garten Eden, o mein Gott! Die Geburt des Menschen! Ja, das ist es. Die Geburt des Menschen! Das muss es sein! Ganz sicher! Mein Gott! Da ist er! Ein Vormensch! Die erste und ursprüngliche, wirklich menschliche Gestalt! Ganz klein! Vielleicht ein Meter zwanzig! Kaum über dem Gras zu sehen! Völlig behaart, Schimpansen-artig, aber aufrecht, kein Abstützen mit den Händen, kürzere Arme, graziöse Bewegungen - zwei, drei von ihnen! Kurze Beine, aber Zweifüßlergang, unausgeformte Füße, noch affenähnlich, unausgeformte Schädelwölbung, sie streifen immer noch durch das hohe Gras, kleine, behaarte humanoide Wesen, einen Stein, irgendeinen Basaltstein, einen Lavabrocken in der Hand, sie schleichen sich an, sie jagen, na klar! Sie sind auf der Jagd nach etwas - nach mir! Mich wollen sie jagen! Mich! Wunderbar! Wunderschön! Ich renne durch das Gras! Ich versuche, die Bäume zu erreichen! Sie sind neben mir! Ich werde von einem Stein getroffen! Ich breche zusammen! Sie sind über mir! Nein, nur einer von ihnen! Ich bin seine Beute! Die anderen müssen auf ihren Anteil warten! Er schlägt mit einem scharfkantigen Lavabrocken auf mich ein! Er schlägt damit Fetzen von mir los, reißt an meinen Eingeweiden! Kein Schmerz! Kein Schmerz! Ich sage euch, es tut nicht weh! Er verschlingt mich! Reißt mir das Fleisch von den Knochen, das Fell! Natürlich! Das bin ich! Mein Ur-Ich, das mich verschlingt! Ich kehre zu meinem ursprünglichen Ich zurück! Unglaubliches Gefühl! Unbeschreiblich! Seligkeit! Absolut unausdenkbar! Ich bin er, und er ist ich! Ich jage! Ich töte! Ich fresse! Ich fresse das blutig dampfende Fleisch einer riesenhaften Ziege! Reiner, unverfälschter Hunger! Ungezügelter, natürlicher, kreatürlicher Hunger! Das Es! Das fleischgewordene Es!«

  Damit ging der fast hysterische Fluss von Jessups Bericht in ein seltsames Krächzen über, gefolgt von einer Reihe kurzer Schnalzlaute und einem merkwürdigen, halb erstickten Heulen.

  Das war zu viel für Parrish. Er riss die Tür zum Tankraum auf, schoss auf den Tank zu und hob das Kopfteil des Deckels hoch.

  Von unten aus der Schwärze des Tanks starrte ihn Jessups weißes Gesicht an, gelöst und heiter wie das Gesicht eines Heiligen.

  »Alles m Ordnung?«, fragte er das weiße Gesicht.

  »Großartig, fabelhaft«, murmelte das weiße Gesicht.

  Inzwischen war auch Rosenberg da und beugte sich über den Rand. »Soll ich dich runterholen?«, fragte er.

  »Nein.«

  Rosenberg ließ den Deckel langsam wieder herab, zuckte mit den Schultern und ging zum Kontrollraum zurück. Einen Augenblick später kam Parrish nach und schloss die Tür langsam hinter sich. »Klang mir so wie ein schlechter Trip«, sagte er zu Rosenberg.

  »Ja, diese Tanktrips können manchmal ganz schön unangenehm werden«, sagte Rosenberg bestätigend.

  Dann hockte er sich wieder auf seinen Stuhl und setzte die Kopfhörer auf. Parrish sank in seinen Klappstuhl, gespannt und nervös.

  Plötzlich tönte aus dem Lautsprecher wieder so ein krächzendes Grunzen, wieder eine Reihe von Schnalzlauten und schmatzenden Geräuschen. Parrish sprang auf.

  Rosenberg fragte wieder: »Alles okay?«

  »Wunderbar«, kam Jessups Stimme leise.

  Für den Rest dieses Experiments (das noch dreieinhalb Stunden weiterging) gab Jessup nichts mehr von sich außer direkten Antworten auf Rosenbergs ängstliche Fragen.

  Die Bänder liefen leise weiter.

  Hört man sich die Bänder an, so enthalten sie über Zeitabschnitte von bis zu vierzig Minuten nichts weiter als das Netzbrummen und dann wieder Rosenbergs fragende Stimme: »Hörst du mich, Eddie?«

  »Ja.«

  »Alles in Ordnung?«

  »Ja.«

  »Was passiert denn? Halt mich auf dem laufenden.«

  Stille.

  »Wirklich alles in Ordnung?«

  »Ja.«

  »Willst du aufhören?«

  »Nein.«

  »Willst du, dass ich dich einfach in Ruhe lasse?«

  »Ja.«

  Jessup kam erst um 20.46 Uhr von seinem Trip zurück, als plötzlich wieder dieses eigenartige Grunzen in Rosenbergs Kopfhörer war.

  Rosenberg legte seinen Roman hin und murmelte wieder ins Mikrophon: »Alles klar, Eddie?« Danach hört man auf dem Band ein leises Knirschen, offenbar vom Öffnen des Deckels. Als Rosenberg und Parrish in den Tankraum gingen, kletterte Jessup gerade aus dem Tank in das Halbdunkel des Zimmers. Parrish gab ihm seinen Frottee-Bademantel, und Jessup begann, seine Haare zu trocknen.

  Rosenberg sagte: »Ich bin nicht gerne so lange ohne Kontakt, Eddie.«

  Jessup nickte und trocknete sich weiter ab, eine seltsame, mönchische Gestalt in dem dämmrigen Raum, wie er so in seine dunkle Kutte gehüllt dastand, die Kapuze über den Kopf gestülpt, und nur die weißen, feuchten Augen in dem von Dunkelheit um. hüllten Gesicht zu erkennen. Die beiden anderen merkten plötzlich, dass er etwas zu sagen versuchte. Seine Lippen bewegten sich, aber er brachte nichts als ein krächzendes Grunzen heraus. Wieder versuchte er zu sprechen, aber es wurden nur ein paar schnalzende Laute. Langsam sank er in die Knie, seine weißen Augen starrten entsetzt aus dem schwarzen Oval der Kapuze seines Bademantels.

  Parrish zog ihm die Kapuze ab. In dem schwachen Licht des Tankraums sah Jessups Gesicht aus wie blutverschmiert. Rosenberg schaltete das Licht ein, und in der jähen, gelben Helle kniete Jessup in der Mitte des Raums, der Mantel hing schlaff über seinen weißen Körper, seine Augen starrten nach oben, Wangen und Mund waren blutverschmiert, man konnte wirklich annehmen, er hätte kürzlich einen Kadaver zerrissen. »Jesus, er muss sich auf die Lippe gebissen haben«, sagte Parrish und begann, das Blut abzuwischen. Er fühlte Rosenbergs zögernde Hand auf seiner Schulter und blickte auf.

  »Willst du eine Probe von dem Blut nehmen?«, fragte Rosenberg.

  »Warum?«, fragte Parrish. Die beiden starrten sich an.

  »Herrgott noch mal«, platzte er dann plötzlich los, »fang bloß nicht an zu spinnen.« Er legte den Kittel ab, zog sein Hemd aus und befeuchtete es im Tank, um Jessups Gesicht damit abzuwischen; das Blut war teilweise schon angetrocknet. Die Lippen waren unverletzt, und auch als er Jessups Mundhöhle und Nase mit seiner Untersuchungslampe ausleuchtete, konnte er nirgends eine blutende Stelle finden. »Muss einen plötzlichen Anfall gehabt und sich den Kopf gestoßen haben oder so was«, murmelte er mehr zu sich selbst. Die ganze Zeit über war Jessup auf den Knien, offensichtlich hatte er einen Schock, starrte stumm in unsichtbare Räume der Mund weit offen.

  »Großer Gott«, stöhnte Parrish, der neben Jessup gekauert hatte, um ihn zu untersuchen. Er erhob sich mit knackenden Gelenken und begann, Jessups Kopf nach irgendwelchen Wunden abzutasten, die das
Blut in seinem Gesicht erklären konnten. Jessup schien aus dem Schock zu erwachen. Wieder versuchte er zu sprechen, erfolglos. Kiefer und Mund bewegten sich, aber es kam nur ein Pfeifen und Schnalzen heraus. Er streckte seine Hand aus, sie sollten ihm auf helfen. Als er stand, schien er wieder ganz normal. Der Schock war vorüber. Seine Augen reagierten wieder, sie schienen sogar vor Aufregung zu blitzen. Ganz kurz lächelte er sogar. Er gab ihnen zu verstehen, dass er nicht reden konnte, und signalisierte, dass er schreiben wollte. Dann führte er sie kurz entschlossen in den Kontrollraum zurück,

  setzte sich auf den hölzernen Klappstuhl und begann, in Rosenbergs Notizbuch zu kritzeln. Rosenberg beugte sich über ihn und las die Nachricht laut vor: »Ich kann nichts sprechen, nur diese Laute.«

  »Hörst du mich denn? Verstehst du mich?«, fragte Parrish.

  Jessup nickte ungeduldig und kritzelte noch eine Nachricht.

  Rosenberg blickte auf das Notizbuch. »Wozu brauchst du denn Blutuntersuchungen?«, wollte er wissen.

  Diese unbeholfene Form der Kommunikation regte Jessup sichtlich auf. Als Parrish sein Genick abzutasten begann, schob er die Hand ärgerlich weg und schrieb wütend wieder etwas auf.

  »Was sagt er?« fragte Parrish.

  »Er sagt«, Rosenberg las vor: »Ich will einen Wangenabstrich und eine Blutprobe für ein Karyogramm. Ihr sollt mir Blut abnehmen und an Goodmans und Sarichs Labors schicken. Ich will Bilder von meinem Hals. Ich will eine ganze Serie von Filmen! Jetzt gleich! Bevor ich mich rekonstituiere! Ausrufezeichen.«

  »Bevor er sich was?«, fragte Parrish, während er sich seinen langen Arztkittel wieder überzog.

  »Bevor er sich rekonstituiert.« -

  »Also mach schon die Scheißblutabnahme«, sagte Parrish, »vielleicht darf ich ihn mir dann ja mal ansehen.«

  Jessup war offenbar aufgebracht; er krempelte einen Ärmel seines Bademantels hoch und hielt Rosenberg den linken Arm hin. Dabei sah er ihn befehlend an. Rosenberg kramte einen Vakuuminjektor, ein paar Blutprobengläser und eine Aderpresse aus einer Flugzeugtasche und begann ihm Blut abzunehmen, fünf Gläser.

  »Macht es dir etwas aus«, fragte Parrish, »wenn ich deinen Hals kurz untersuche?«

  Jessup rollte wütend mit den Augen, ließ es aber geschehen.

  »Irgendwelche Verklumpungen?«, fragte Rosenberg.

  »Nein«, brummte Parrish. Er holte sein Stethoskop aus der Kitteltasche und horchte Jessups Hals ab. Seiner Grimasse war zu entnehmen, dass das Untersuchungsergebnis nicht seinen Erwartungen entsprach - keinerlei ungewöhnliche Geräusche. Er leuchtete Jessup mit dem Ophthalmoskop in die Augen, fand aber auch dort nichts, keine Pupillenschwellung. Jessup ließ das alles sichtlich widerstrebend über sich ergehen und auch nur deshalb, weil Rosenbergs Blutabnahmen ihn festnagelten. Mit übergeschlagenen Beinen, nervös wippend, saß er in seinem bauschigen Bademantel auf dem Klappstuhl. Der aufgestaute innere Aufruhr hatte sein Gesicht gerötet.

  Als Parrish ihn zu einigen Bewegungstests aufforderte, zum Beispiel, die rechte Hand auszustrecken, schubste er ihn weg und kritzelte mit der rechten Hand eine lange Nachricht in Rosenbergs Notizbuch. Sie lautete: »Verdammt noch mal, Mason, das hier ist doch offenbar kein Fall von gewöhnlicher Aphasie! Die Geräusche, die ich von mir gebe, sind doch dieselben verdammten Geräusche, die ich in der Halluzination gemacht habe! Das muss doch eine Art raum-zeitlicher Überrest aus der Halluzination sein!«

  »Red doch keinen Mist«, bellte Parrish. »Willst du etwa behaupten, dass deine blöde Halluzination sich externalisiert hat?«

  »Was hat er denn geschrieben?«, fragte Rosenberg, der gerade das letzte Röhrchen mit Blut füllte.

  Parrish las laut vor. Dann starrte er Jessup Stirn an Stirn in die Augen und sagte: »Du hast 'ne Meise, Jessup, also zieh dich an, und dann bring ich dich ins Brigham rüber und stell dich mal richtig auf den Kopf.«

  Jessup schüttelte den Kopf.

  »Du bist doch komplett plemplem, du blöder Hund!«, schimpfte Parrish. »Ich will dir in den Rachen gucken, ein paar Schädelaufnahmen machen, ein CAT-Scan, vielleicht sogar ein Arteriogramm, und ich will, dass ein unvoreingenommenes Auge diese EEG-Aufzeichnungen sieht!«

  Jessup saß steif auf seinem Stuhl, den Bademantel sittsam über die Knie geschlagen, ruhig, aber unnachgiebig. Sein Kopfschütteln drückte ein sehr deutliches Nein aus. Rosenberg war jetzt fertig mit der Blutabnahme und beschriftete die Gefäße. Jessup hielt den linken Arm angewinkelt, damit die Blutung aufhörte. Mit der rechten Hand schrieb er in Rosenbergs Notizbuch: »Nur röntgen.«

  »Na gut«, knurrte Parrish, »zieh dich an und dann los zur Röntgenabteilung.«

  »Die Türen werden um halb sechs abgeschlossen«, sagte Rosenberg, »wir müssen unten durch die Gänge.«

  Die drei stapften durch die langen Kellertunnel, leere, gewundene Katakomben, dantisch zu dieser Nachtzeit. Das waren die Eingeweide des Gebäudes, wo die Versorgungs- und Verbrennungsräume lagen. An den Wänden liefen dicke Heißwasserleitungen entlang, und als sie an den offenen Verbrennungsöfen vorbeikamen, schlugen Flammen aus den dreißig Meter tiefen Schächten. Wie sie so einher tappten, bildeten sie ein don-quichotisches Trio, der riesige Parrish im weißen Arztkittel und mit seinem latschenden Gang, der kleine Rosenberg in seinem abgerissenen Pullover, die Flugzeugtasche über der Schulter, Jessup in Jeans, die Enden seines Hemdes flatterten hinter ihm her.

  »Vielleicht ist er ein akinetischer Mutant«, brummte Rosenberg zu Parrish hinüber.

  »Red keinen Mist«, schnaubte Parrish, »er bewegt sich doch. Er reagiert.«

  »Vielleicht ist es rein mechanisch.«

  »Also neurologisch ist er vollkommen in Ordnung«, sagte Parrish mit grimmigem Gesicht, »Und wenn es nicht neurologisch ist, dann kann es nur mechanisch sein. Dieser Blödmann, ich möchte mir wenigstens mal seine Stimmbänder ansehen, auch mit Kontrastmittel. Vielleicht lauf ich mal zur Notaufnahme runter und hol mir eine HNO-Tasche.«

  Sie erreichten die Klinikgebäude und stiegen die Treppen zur radiologischen Abteilung hoch. Parrish musste seinen höheren Dienstgrad ausspielen, um die Aufnahmen zu bekommen. » Machen Sie ein paar Platten von diesem Hals«, sagte er zu dem Techniker. »Ich brauche ihn einmal posterior-anterior, einmal lateral und einmal schräg.«

  »Lieber Himmel, Doktor«, jammerte der Techniker, »ich bin 69 für heute Nacht vollkommen zugepflastert - «

  »Machen Sie die verdammten Bilder«, schnauzte Parrish, »das hier ist ein Notfall!«

  Der Techniker führte Jessup in den Röntgenraum.

  Parrish lehnte sich im Vorraum gegen die Wand und machte ein finsteres Gesicht. »Hör zu, Arthur«, sagte er leise, »erzähl Eddie nicht, dass er Blut im Gesicht hatte, als er aus dem Tank kam. Er wird uns dann wahrscheinlich weismachen wollen, dass das Blut von der Ziege aus seiner Halluzination ist. Womöglich will er dann noch Blutproben von meinem Hemd und von seinem Bademantel nehmen. Ich kann diese ganze Hexenscheiße einfach nicht mehr hören. Also erzähl ihm lieber nichts, ich befürchte nämlich, dass er bald ganz aus den Latschen kippt, und dann können wir ihn vielleicht noch ins Nervensanatorium schleifen.«

  »Was ist es denn deiner Meinung nach?«

  Parrish fischte eine Zigarre aus seiner Brusttasche, zog die Hülle ab und zündete sie an. »Er ist nicht der Typ für hysterische Ausbrüche; ich nehme an, es ist ein Anfall. Er kam doch vollkommen verstört aus dem Tank und hatte überall Blut im Gesicht. Er muss im Tank einen Anfall gehabt haben, hat sich auf die Zunge gebissen, und die Folge ist eben eine post-iktische Aphasie. Erst dachte ich, er hätte einen vasculären Insult, eine temporäre Ischämie oder einen Embolus. Aber neurologisch ist er in Ordnung, also wird es wohl ein Anfall sein. Hast du das EEG bei dir?«

  »Nein, das hab' ich im Tankraum gelassen.«

  »Dann nimm es mit, wenn wir nachher unsere Mäntel abholen.«

  »Wir müssen da auch noch aufräumen. Dein blutiges Hemd liegt noch da und Eddies Bademantel.«

  »Ja, ich weiß.«

  Die fertigen Röntgenaufnahmen jagten ihnen einen ziemlichen Schrecken ein, nur Jessup nicht, der stumm, aber mit sichtb
arer Freude zeigte, dass das Zungenbein offenbar etwas nach oben verlagert war; außerdem schien die Zunge an der Basis breiter geworden zu sein und der Rachenraum kürzer, als man es sonst beim Menschen findet.

  »Immer langsam«, knurrte Parrish, »wir sind alle keine Leuchten im Interpretieren von Röntgenaufnahmen.«

  »Wonach sucht ihr denn?«, fragte der Techniker.

  »Passen Sie mal auf«, sagte Parrish, »ich möchte mal sehen, wie er unter dem Fluoroskop aussieht. Haben Sie hier irgendwo Barium?«

  Sie gingen alle in den Röntgenraum und fluoroskopierten Jessup. Es waren keine Verschlüsse oder Verstopfungen zu finden.

  Es war halb zwölf, als sie die Radiologie verließen und sich auf den Rückweg zum Tankraum machten. Sie trotteten schweigend durch die menschenleeren Gänge, jeder ganz mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Sie holten ihre Mäntel aus dem Kontrollraum, Rosenberg packte das EEG-Gerät zusammen, Parrish rollte sein blutgetränktes T-shirt und Jessups Bademantel zu einem Knäuel zusammen, das er sich unter den Arm klemmte. Als er wieder in den Kontrollraum zurücckam, hatte Jessup schon seinen Mantel an und saß still auf dem hölzernen Klappstuhl. Parrish zeigte auf den Bademantel, den er unterm Arm hatte. »Soll ich den für dich reinigen lassen?«

  »Ja, das wäre nett, Mason«, sagte Jessup.

  Es dauerte fünf Sekunden, bis Parrish wahrnahm, dass Jessup wieder sprechen konnte. Er zündete seine ausgegangene Zigarre wieder an und schaute nach draußen auf den Korridor, um zu sehen, wo Rosenberg blieb. Dann fuhr er mit einem Ruck herum und starrte Jessup fassungslos an. »He, was ist los?« fragte er.

 

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