Faded Duet 2 - Faded - Wenn alles stillsteht

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Faded Duet 2 - Faded - Wenn alles stillsteht Page 26

by Julie Johnson


  Seit unserer ersten Begegnung hat Felicity Wilde ihre eigenen Bedürfnisse hinten angestellt. Sie hat ihre Träume geopfert, wenn das bedeutete, dass ich meine dadurch verfolgen konnte. Also weiß ich, dass es nur eine Reaktion gibt, wenn ich sie bitten werde zu bleiben, wenn ich sie bitten werde, weiterhin mit den Jungs und mir Musik zu machen …

  Sie wird es tun.

  Für mich. Für Aiden. Für Lincoln.

  Sie würde es sich niemals verzeihen, wenn sie unseren Träumen im Weg gestanden hätte … weil sie uns liebt. Mehr als sich selbst. Und weil diese Liebe größer ist als ihre eigenen Zweifel, als jeder Instinkt in ihrem Inneren, der sie vom Rampenlicht wegführen will.

  Aber ihr scheint noch nicht klar zu sein … dass wir sie ebenfalls lieben. Wir alle drei, jeder auf seine eigene Weise. Ich sehe es in Aidens Lächeln, wenn er sie anschaut, während sie singt. Ich höre es in Lincs Lachen, wenn er einen Witz auf ihre Kosten macht. Und egal wie viel Ruhm wir aufgeben würden, egal auf welchen Lebensstil wir verzichten müssten … wenn sie darum bitten würde, würden wir das alles hinter uns lassen.

  Für sie.

  Ich stecke mein Handy in meine Gesäßtasche und mache mich auf die Suche nach meiner Geldbörse. Sie ist nicht im Bad, nicht in meiner Reisetasche, nicht auf dem Nachttisch … nirgendwo. Mit einem frustrierten Knurren klappe ich den Deckel von Felicitys Koffer zu, um darunter zu suchen. Die ruckartige Bewegung sorgt dafür, dass ihre Sommerkleider in alle Richtungen fliegen. Ich höre einen dumpfen Aufprall, als etwas auf dem Boden landet.

  Ich beuge mich vor, um nachzusehen, und rechne damit, meine Brieftasche vorzufinden. Stattdessen entdecke ich ihr Notizbuch, in das sie ihre Liedtexte schreibt. Es liegt offen da, mit ihren Notizen, die sie zu Papier gebracht hat. Ich strecke eine Hand aus, um es wieder zuzuklappen, doch mein Blick fällt auf einen unverkennbaren Tränenfleck, der die Seite verunstaltet.

  Obwohl mich die Stimme der Vernunft in meinem Hinterkopf anschreit, dass mich das nichts angeht und dass ich kein Recht habe, ihre intimsten Gedanken zu lesen … überkommt mich eine furchtbare Neugier, als ich die Finger um das Notizbuch lege. Und als ich den Titel des Lieds lese – »Nineteen« –, kann ich einfach nicht anders. Ich blende mein protestierendes Gewissen aus und verschlinge ihren Text mit den Augen.

  Als ich mit dem Lesen fertig bin, umklammere ich das Notizbuch so fest, dass ich befürchte, es zu zerbrechen, während Schock, Trauer und Wut – so viel Wut, dass ich sie kaum ertragen kann – alles andere in mir ersticken.

  Keine Geheimnisse mehr. So lautete ihr Versprechen. Ich habe die ganze Zeit über eine Lügnerin in den Armen gehalten.

  Noch vor wenigen Augenblicken war ich mit einem Lächeln auf den Lippen mit der Planung unseres romantischen Abends beschäftigt. Nun erinnert der Ausdruck auf meinem Gesicht eher an kühle Berechnung, während ich dem Konzert entgegensehe.

  Keine Geheimnisse mehr, Baby, verspreche ich mit finsterer Miene. Nicht nach heute Abend.

  27. KAPITEL

  Felicity

  »Ich werde hier sein, wenn Sie bereit sind, wieder nach oben zu gehen, Ms Wilde.«

  Ich lächle das neueste Mitglied unseres Sicherheitsteams an – ein fünfter Mann, der nach der Begegnung mit meiner Mutter hinzugefügt wurde –, während ich in den Bus steige. Er bezieht Stellung an den Türen. In der ansonsten verlassenen Tiefgarage unseres Hotels stellt er einen beeindruckenden Berg aus Muskeln und Körperkraft dar.

  »Diaz«, brummte er vor ein paar Tage, als ich ihn nach seinem Namen fragte.

  Natürlich ist auch er nicht sonderlich gesprächig.

  Ich fröstele in der kühlen Luft der Tiefgarage und wickele meinen dünnen Pullover enger um meinen Körper. Vermutlich hätte ich etwas Dickeres anziehen sollen, aber ich wollte für meine Verabredung mit Ryder hübsch aussehen.

  Ein vorfreudiges Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus.

  Eine echte, richtige Verabredung in einem echten, richtigen Restaurant.

  Nur ein normales Paar, das bei Kerzenschein miteinander lacht … Nur dass wir nach dem Verlassen des Restaurants zum Madison Square Garden fahren werden, um dort ein vorletztes Mal aufzutreten. Nach New York kommt noch Boston …

  Und dann die Freiheit.

  Ich werde Route 66 gegenüber keine vertraglichen Verpflichtungen mehr haben. Ich werde nicht mehr stundenlang mit den Jungs im diesem engen Bus sitzen müssen, in dem wir uns ständig gegenseitig auf die Füße treten. Ich werde nicht mehr Abend für Abend mit Ryder auf der Bühne stehen und mit ihm für unsere Fans singen.

  Aus irgendeinem Grund verspüre ich bei diesem Gedanken einen Anflug von Traurigkeit anstelle der Erleichterung, die er einst in mir auslöste.

  Es ist schwer zu glauben, dass das alles vorbei sein wird. Diese letzten paar Monate sind sowohl die besten als auch die schlimmsten meines Lebens gewesen. Auf jeden Fall waren sie die ereignisreichsten: Jeder Tag war mit so vielen neuen Eindrücken vollgepackt.

  Die Treffen mit unseren Fans, das Erkunden neuer Städte.

  Feinde, die zu Liebhabern wurden, und Freunde, die zu so etwas wie einer Familie geworden sind.

  Mein Herz quillt beinahe über, als ich die Kojen erreiche und die Leiter hinaufsteige, um mich über meine Matratze zu beugen. Ich balanciere auf einem Fuß, während ich die Decken durchwühle, um die Sonnenbrille zu finden, die ich in diesem niedlichen Vintageladen gekauft habe. Mittlerweile kann ich nicht mehr ohne eine schützende Sonnenbrille vor den Augen in die Öffentlichkeit treten, da mich dort jedes Mal ein Blitzlichtgewitter erwartet.

  In unserem Zimmer konnte ich sie nirgends finden, und da ich unseren Abend nicht hinauszögern wollte, schlich ich mich raus, als Ryder unter der Dusche war, und ging nach unten in die Tiefgarage, um im Bus nach der Brille zu suchen.

  Hinter mir höre ich das Zischen der aufgleitenden Bustüren. Wahrscheinlich ist das Diaz, der hereinkommt, um nach mir zu sehen. Ich denke nicht weiter darüber nach, denn endlich ertaste ich unter meinem Kissen, das an der Wand lehnt, etwas Hartes.

  »Da bist du ja«, murmle ich und ziehe die Retrosonnenbrille hervor.

  Ich drehe mich herum, um die Leiter hinunterzuklettern, halte jedoch auf halbem Weg abrupt inne, als ich den Mann entdecke, der mitten im Gang steht und mir den Weg zum Ausgang versperrt.

  Das ist nicht Diaz.

  Ich verharre auf der Leitersprosse, während sich seine Augen in meine brennen – sie sind so sehr von kaltem Zorn erfüllt, dass ich an Ort und Stelle festfriere. Der düstere Zorn in ihnen sorgt dafür, dass ich mich nicht mehr von der Stelle rühren kann.

  »Felicity«, knurrt er und verlagert sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Es ist lange her.«

  Ich bewege mich nicht. Ich atme nicht.

  »Was denn, willst du deinem alten Dad nicht mal Hallo sagen?« Er lacht, aber in dem Laut liegt keine Freude. Nur das Versprechen von Schmerz. »Es ist fast drei Jahre her. Freust du dich denn nicht, mich zu sehen?«

  Er ist high. Das kann ich sogar von hier aus erkennen. Nicht nur an der hageren Kantigkeit seiner Züge oder dem katastrophalen Zustand seiner Haut, sondern an diesem Ausdruck in seinen Augen. Immerwährender Hunger. Von der Art, die man erfährt, wenn man sein Leben damit verbringt, unablässig dem nächsten Schuss hinterherzujagen, ohne jemals zufrieden zu sein.

  Als ich ihn anstarre, scheinen all die Stellen an meinem Körper, an die er je Hand angelegt hat, vor Phantomschmerz zu pochen.

  Das gebrochene Handgelenk.

  Der angeknackste Wangenknochen.

  Das zersplitterte Schienbein.

  Die gebrochene Seele.

  Er schleicht sich heran wie eine Schlange, die zum tödlichen Angriff ansetzen will. Endlich setze ich mich in Bewegung, und mein Überlebensinstinkt erwacht brüllend zum Leben. Ich schwinge mich von der Leiter, laufe weiter in den Bus hinein und halte auf das Bad zu. Ich behalte den Blick auf die Tür gerichtet, auf meinen Ausweg, und versuche, mich nicht auf die Geräusche seiner Stiefel zu konzentrieren, die
über den Boden poltern, während er mich verfolgt.

  Ich umfasse die Klinke und stürze ins Bad. Es gelingt mir, die Tür hinter mir zu schließen, doch bevor ich das Schloss verriegeln kann, legt er die Hand um die Klinke. Sie bewegt sich heftig unter seinem Griff, während er versucht, sich gewaltsam Zugang zu verschaffen. Das ganze Bad erzittert, als er mit der Faust gegen das Holz hämmert. Ich lehne mich mit meinem ganzen Gewicht gegen die Tür und versuche, sie mit aller Kraft geschlossen zu halten … Aber er ist so viel stärker als ich.

  Zentimeter für Zentimeter erzwingt er sich einen Weg hinein.

  »Ist das eine Art, seinen Vater zu begrüßen?«

  Ich schlucke einen entsetzten Aufschrei hinunter, als sich der Spalt noch ein wenig mehr weitet und er die Finger wie Klauen um die Tür schiebt. Meine Muskeln verkrampfen sich, während ich angestrengt versuche, ihn auf Abstand zu halten.

  »Deine Mutter hat mir erzählt, dass du dich weigerst, mit ihr zu reden.« Seine höhnische Stimme dringt durch den Spalt. »Ich dachte mir, es wäre an der Zeit, dass ich dir mal einen kleinen Besuch abstatte, um dich daran zu erinnern, was passiert, wenn du deinen Eltern keinen Respekt entgegenbringst.«

  »Respekt?« Ich spucke das Wort durch zusammengebissene Zähne hindurch aus. »Du hast nichts getan, um meinen Respekt zu verdienen.«

  »Und du hast nichts getan, um dieses Millionendollarvermögen zu verdienen, das dir Bethany hinterlassen hat.«

  Empörung schleicht sich in seinen Tonfall und vermischt sich mit Wut. Er ist schon immer dünnhäutig gewesen, und sein Ego überproportional. Er ist schnell beleidigt und gerät ebenso schnell in Rage. Daher möchte ich wetten, dass der bloße Gedanke, dass Oma selbst noch aus dem Grab heraus zuletzt lachte, ausreicht, um sein Blut zum Kochen zu bringen.

  Ich entblöße die Zähne und lächle. »Oma hätte lieber jeden Cent an eine Wohltätigkeitsorganisation gespendet, als dir das Geld zu überlassen.«

  »Dann wirkt es sich wohl zu meinen Gunsten aus, dass das Miststück tot ist.« Er senkt die Stimme. »Und meine liebe Tochter die Kontrolle über das ganze Barvermögen hat.«

  »Verpiss dich«, zische ich und keuche vor Anstrengung. Meine Füße rutschen über den gefliesten Boden, als er die Tür einen weiteren Zentimeter aufschiebt.

  »Du warst schon immer ein vorlautes kleines Biest.« Er lacht, als würde mein Widerstand ihn amüsieren. »Du weißt, dass du mich nicht für immer aussperren kannst, Felicity. Mach die Tür auf, damit wir über eine … Vereinbarung … reden können, die für uns beide funktioniert.«

  Ich mache mir nicht die Mühe, etwas zu erwidern.

  »Wenn du jetzt aufgibst, werde ich vielleicht nicht zu hart mit dir umgehen.«

  Wir beide wissen, dass das eine Lüge ist. Er weiß gar nicht, was es bedeutet, nicht zu hart zu sein. Das kann jeder Arzt, der meine Röntgenaufnahmen gesehen hat, bestätigen.

  Er hält inne. »Was meinst du?«

  »Verpiss. Dich.«

  Wütend rüttelt er immer heftiger an der Tür. Er hat die Finger nun vollständig um das Türblatt gelegt und wird keine dreißig Sekunden mehr brauchen, um sich Zugang zum Bad zu verschaffen. Ich schaue mich um, aber hier drinnen ist nichts, was ich als Waffe benutzen könnte. Wenn er durch die Tür kommt …

  Dann bin ich so gut wie tot.

  Meine Muskeln schmerzen vor Anstrengung, und mein Puls hämmert, während ich mich gegen die Tür stemme. Ich starre auf seine um die Tür gekrallten Finger, und in meinem Kopf fügen sich die Bruchstücke eines Plans zusammen. Eigentlich ist es gar kein richtiger Plan, sondern eher ein Akt der reinen Verzweiflung.

  Ohne über die Konsequenzen nachzudenken, falls es schiefgeht, nehme ich ein wenig Gewicht von der Tür und lasse ihn ein paar Zentimeter weiter hereinkommen, als würde meine Energie nachlassen. Die Tür schiebt sich weiter auf, und ich sehe seinen Kopf durch den Spalt kommen. Sofort richtet er den Blick fest auf mich. In seinen Augen liegt ein siegessicherer Ausdruck.

  Er glaubt, dass er gewonnen hat.

  Bevor er den Kopf zurückziehen kann, werfe ich mich mit meinem ganzen Gewicht und aller Kraft, die ich aufbringen kann, gegen die Tür. Sie fällt ins Schloss und schlägt hart gegen seine Schläfe, sodass sein Schädel herumgeschleudert wird und mit einem ungesunden Knacken gegen den Türrahmen prallt. Knochen knirschen, als er zurücktaumelt. Heulend vor Schmerz greift er nach oben, um nach seinem verletzten Kopf zu tasten.

  »Miststück!«

  Seine Augen blitzen auf, als er sich aufrappelt und dabei beinahe das Gleichgewicht verliert. Er stürzt sich auf mich, aber ich habe mich bereits in Bewegung gesetzt. Ich überquere die Schwelle des Badezimmers, renne in den Gang hinaus und rase von Angst und Hoffnung getrieben durch den gesamten Bus. Ich stürme an den Kojen vorbei, passiere die kleine Küche und den Fahrersitz und lasse die Stufen mit einem einzigen Satz hinter mir. Meine Füße treffen mit einem lauten Aufprall auf den Boden der Tiefgarage.

  Ich wirbele herum, suche nach Diaz und entdecke ihn zusammengesackt und bewusstlos in der Nähe des Radkastens. Ich verspüre kaum einen Funken Reue, als ich ihn einfach dort liegen lasse und mit Vollgas auf den Aufzug zurenne. Meine Lunge schreit nach Luft, mein Herz pocht gegen meine Rippen. Hinter mir höre ich das Poltern von Stiefeln, das mit jeder Sekunde näher kommt.

  Dreh dich nicht um. Dreh dich nicht um. Dreh dich nicht um.

  Ich habe den Aufzug fast erreicht, als die Türen aufgleiten.

  Erleichterung durchströmt mich, als ich York, Linden und Stevens aus der Kabine treten sehe. Ihre Mienen sind todernst. Lincoln, Carly und Aiden sind direkt hinter ihnen.

  Die Leibwächter rauschen an mir vorbei und haben die Blicke fest auf den Mann gerichtet, der mir dicht auf den Fersen ist. Ich höre ein erschrockenes Keuchen, als mein Vater den Kurs wechselt und mit polternden Schritten in die entgegengesetzte Richtung flieht. Doch es ist längst zu spät. Die drei Wachleute sind so gut wie bei ihm.

  Ich bleibe direkt vor dem Aufzug stehen und pralle ungebremst gegen meine Freunde. Linc und Aiden strecken die Arme aus, um mich zu stützen, während ich gerade noch rechtzeitig herumwirbele, um zu sehen, wie mein Vater an der Seite des Busses umzingelt wird. Die Bodyguards nähern sich ihm wie jagende Wölfe.

  Und dann ist in weniger als einer Sekunde alles vorbei.

  York setzt ihn so schnell außer Gefecht, dass ich nicht einmal mitbekomme, wie genau er das angestellt hat. Ich weiß nur dass mein Vater plötzlich auf dem Boden liegt und ein Knie im Kreuz hat, das ihn fest nach unten drückt. Stevens wirft seinem Partner ein Paar Handschellen zu, und als sie ihn auf die Füße zerren, ist er gefesselt wie ein gewöhnlicher Krimineller.

  »Felicity, vielleicht solltest du nicht …«, ruft Carly mir nach, doch ich gehe bereits auf den Bus zu. Meine Schritte hallen auf dem Betonboden der Tiefgarage wie Schüsse wider. Ich spüre, wie mir Linc, Aiden und Carly folgen, aber ich warte nicht auf sie. Ich höre Linden, der ein paar Schritte entfernt einen Krankenwagen ruft, während er nach Diaz sieht, aber ich konzentriere mich nur auf ihn.

  Ich wende den Blick nicht für eine Sekunde vom Gesicht des Mannes ab, der mich großgezogen hat, während ich mich dem Bus nähere, wo Stevens und York ihn mit eisernem Griff zwischen sich festhalten. Seine Lippe blutet, und in seinen dunklen Augen lodert Wut, als er sie auf mich richtet.

  »Bist du gekommen, um dich an meinem Elend zu weiden, Miststück?« Er spuckt vor meine Füße.

  Ich sehe ihn lange an und suche nach den richtigen Worten.

  Was sagt man zu dem Menschen, der einem die Kindheit ruiniert hat?

  Was sagt man zu dem Monster, das einen auf Schritt und Tritt verfolgt hat?

  »Was wollen Sie unternehmen, Ms Wilde?«, fragt York. Er klingt ernster, als ich ihn je erlebt habe. »Die Polizei ist bereits unterwegs. Wir können ihn den Behörden übergeben, wenn sie eintreffen. Oder wir können …« Er verstummt, aber ich verstehe seine unausgesprochene Andeutung auch so.

  Oder wir können das unter uns klären.

 
Uns um ihn kümmern.

  Ich spüre, wie ich von Dunkelheit umfasst werde, als ich mir den Gedanken durch den Kopf gehen lasse. Rachedurst und Wut, so stark, dass ich beides auf meiner Zuge schmecken kann. Ich will meine Hände um seinen Hals legen und zudrücken, bis er nicht mehr atmen kann. Ich will ihm die gleichen Schmerzen zufügen, die er mir all die Jahre zugefügt hat. Ich will ihn vom Angesicht der Erde tilgen, damit ich nicht eine weitere Sekunde lang mit der Angst leben muss, dass er eines Tages wieder auftauchen könnte.

  In diesem Moment würde ich York und Stevens am liebsten grünes Licht geben, dass sie ihn an irgendeinen geheimen Ort bringen und verschwinden lassen sollen, damit ich nie wieder über ihn nachdenken muss.

  Kümmern Sie sich um ihn. Die Worte liegen mir auf der Zunge. Werden Sie ihn ein für alle Mal los.

  »Sie hat nicht den nötigen Mumm«, zischt mein Vater und lässt seinen verächtlichen Blick über mein Gesicht wandern. »Sie ist willensschwach. Genau wie diese Närrin von einer Großmutter, die sie so verehrt hat.«

  Als er Oma erwähnt, erstarre ich. Ich schließe die Augen während sich ihre letzte Hoffnung für mich glasklar ihren Weg durch all den Zorn, die Verzweiflung und den Rachedurst schneidet.

  Felicity. Du bist ein Licht in der Dunkelheit.

  Sirenen erklingen in der Ferne. Die Polizei wird nun jeden Moment in die Tiefgarage gefahren kommen, und die Gelegenheit für meine eigene persönliche Rache wird sich in Luft auflösen. Das hier ist meine einzige Chance, dem Mann, der mich misshandelt hat, meinem Folterer, dem Monster meiner Kindheit den gleichen Schmerz heimzuzahlen, den er mir zugefügt hat, bevor er im Rechtssystem verschwindet und Behörden ausgeliefert ist, die mehr Einfluss als mein Sicherheitsteam haben.

  »Ms Wilde?« York räuspert sich. »Was wollen Sie unternehmen?«

  Ich hole tief Luft.

  Ich straffe die Schultern.

  Ich öffne die Augen.

  Und ich spreche mit dem Mann, der sich als mein Vater bezeichnet, aber niemals einer gewesen ist. Nicht auf irgendeine Art, die wirklich zählt.

 

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