Die roten Backsteingebäude und kleinen Hörsäle waren mir inzwischen ebenso vertraut wie die Dozenten, meine Kommilitonen und das niedliche kleine Café ganz in der Nähe, in dem ich mir fast täglich meinen Kaffee holte. Doch während alle um mich herum offenbar ihrem neuen Alltag nachgingen, hatte ich noch immer keine Ahnung, was genau ich hier eigentlich tat. Ob dieses Gefühl jemals verschwinden würde? Oder wussten alle Erwachsenen da draußen im Grunde gar nicht, was sie machten, und gaben es bloß nicht zu? Der Gedanke hatte etwas Tröstliches und Erschreckendes zugleich.
Wie auf Kommando piepte mein Handy mit einer neuen E-Mail. Ich zog es aus meiner Tasche, überflog die Nachricht und seufzte innerlich. In den Ferien hatte Mom mehrmals laut darüber nachgedacht, dass mittlerweile ja genügend Zeit seit meiner Blamage vergangen wäre, und ich doch wieder an Schönheitswettbewerben teilnehmen könnte. Anscheinend war das nicht nur Gerede gewesen.
Liebes, ich habe dich für den Miss-Winternight-Wettbewerb angemeldet. Du bist in den Ferien hier, und das ist ein relativ simpler Contest mit wenig Konkurrenz. Das schaffst sogar du.
Mein Magen zog sich zusammen. Doch bevor ich darüber nachdenken oder darauf antworten konnte, hörte ich eine vertraute Stimme.
»Grace!«
Ich steckte das Handy wieder ein und drehte mich um. Myung-hee kam auf mich zu gerannt. Eine Strähne löste sich aus ihrem hochgesteckten schwarzen Haar.
»Und ich dachte schon, ich wäre die Letzte.« Keuchend blieb sie vor mir stehen und stützte sich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab. Als sie sich wieder aufrichtete, blitzten ihre dunkelbraunen Augen vergnügt. »Guten Morgen!«
Ich erwiderte ihr Lächeln und schob jedes bisschen ungutes Gefühl, das diese Mail in mir geweckt hatte, entschieden beiseite. »Morgen.«
Myung-hee und ich hatten uns zwar schon öfter auf dem Campus gesehen, uns aber erst richtig angefreundet, als ich mit Laptop und Cappuccino an einem Tisch im Café saß und versuchte, mich zu entscheiden, ob ich dieses weiße Chiffon-Kleid mit dem tiefen Ausschnitt wirklich bestellen sollte oder nicht. Myung-hee saß am Nebentisch, hatte zufällig einen Blick auf meinen Bildschirm geworfen und mir auf der Stelle zum Kauf geraten. Wenige Minuten und diverse Lippenstiftfarbentipps später waren wir vollkommen in ein Gespräch über Mode, den eigenen Stil und Farbkombinationen vertieft gewesen. Sie studierte ihren Eltern zuliebe hier am College, da ihr Vater beim Theater arbeitete, wollte aber eigentlich viel lieber Make-up-Artist werden, statt selbst auf der Bühne zu stehen. Wahrscheinlich sah sie deshalb immer perfekt gestylt aus und schaffte es, ihre komplizierte Hochsteckfrisur ohne Spiegel wiederherzurichten. Und es dabei auch noch leicht aussehen zu lassen.
»Schicker Lippenstift.« Ich deutete auf das strahlende Rot, das ihren Mund betonte und die einzige Farbe in ihrem ansonsten schwarzen Outfit war.
»Ja? Danke. Der ist neu.« Sie strahlte mich an. »Schöne Schuhe.«
Ich sah an mir hinunter. Zu dem dunkelblauen Kleid und dem dünnen Cardigan in Mauve trug ich silberne Riemchensandalen mit hohem Absatz. Den ganzen Tag in diesen High Heels herumzulaufen würde mörderisch werden, aber das war es mir wert. Und wie sagte Mom immer? Wer schön sein will, muss leiden.
»Danke«, erwiderte ich ehrlich.
»Okay, das war’s jetzt mit den Komplimenten. Los, sonst kommen wir noch zu spät! Und du weißt, wie Mr Denvers sein kann!« Sie hakte sich bei mir unter und zog mich mit sich. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als mitzulaufen, auch wenn die Muskeln in meinen Beinen bei jeder Bewegung protestierten und ich aufpassen musste, bei dem Tempo nicht in den hohen Schuhen umzuknicken.
»Ich bin schon so gespannt auf das Wintermusical! Dieses Jahr wollen sie noch früher mit den Vorbereitungen anfangen, also müssen wir üben, üben, üben!«
»Schlimmer als letztes Jahr kann es ja nicht werden«, kommentierte ich trocken.
Myung-hee kicherte. »Unglaublich, dass sie das Foto von Jessicas brennendem Kleid in der Collegezeitung gebracht haben. Sie ist so ausgerastet.«
»Zu Recht. Die Statisten waren eine Katastrophe. Wer ist überhaupt auf die Idee gekommen, dass sie ihre Fackeln wirklich anzünden?« Kopfschüttelnd betrat ich das Performing Arts Center.
Fast augenblicklich senkte sich eine angenehme Ruhe über mich. Draußen war es sonnig, warm und laut gewesen. Hier drinnen war es wesentlich dunkler, ein paar Grade kühler und stiller. Und das, obwohl jede Menge Leute an uns vorbeiwuselten, die Gänge entlanghuschten und in den einzelnen Räumen verschwanden. Das Gebäude vereinte sowohl die Proberäume für die Musik- und Theaterstudenten als auch Umkleiden voller Kostüme, eine mittelgroße Konzerthalle, zwei Theatersäle, ein Auditorium, ein Tanzstudio mit mehreren Übungsräumen sowie zwei Hörsäle. Es war der Ort auf dem ganzen Campus, an dem ich am liebsten war und wo ich mich am wohlsten fühlte. Hier konnte ich mich ausprobieren, hier konnte ich meinen Text und meine Schritte üben und Fehler machen, ohne dafür Ärger zu bekommen. In diesen Räumlichkeiten ging es nicht darum, perfekt zu sein, sondern darum, das Beste aus sich herauszuholen.
Zusammen mit Myung-hee schlüpfte ich ins Auditorium, wo sich bereits die meisten Leute unseres Studiengangs versammelt hatten. Jedes Semester gab es in der ersten Woche eine Pflichtveranstaltung, an der alle Jahrgänge teilnehmen sollten. Hier wurden die geplanten Projekte und Aufführungen und die damit verbundenen freien Rollen für die kommenden Monate vorgestellt. Ich entdeckte ein paar Leute, die ich aus dem letzten Jahr kannte und mit denen ich teilweise bis in die Nacht hinein trainiert hatte. Da waren Hannah, Jessica und ihr Freund Jacob, Chloe, Zachary, Alyssa und … Mason. Er stand neben zwei Kerlen, die zu seiner Band gehörten, wenn ich mich nicht irrte. Paxton, ein Senior und damit zwei Jahre über uns, und … den Namen des zweiten Typen hatte ich vergessen. Emery hatte ihn mir sicher bei einem Auftritt der Band ins Ohr geschrien, aber da wir abgesehen davon noch nie etwas miteinander zu tun gehabt hatten, konnte ich mich nicht daran erinnern.
Mason schien mich ebenfalls zu bemerken und zwinkerte mir verschwörerisch zu. Wenn er damit auf den Muskelkater aus der Hölle anspielte – um den er sich sicherlich keine Sorgen machen musste –, konnte er sich seine gute Laune sonst wohin stecken. Ich wandte den Blick ab und konzentrierte mich auf unseren Dozenten, der nun das Wort ergriff.
Rund eine Stunde später waren wir alle entlassen und durften in unsere jeweiligen Kurse gehen. Ich verabschiedete mich von Myung-hee, die in eine andere Richtung musste, und machte mich auf den Weg quer über den Campus zu meinem nächsten Seminar. Die Sonne strahlte noch immer, aber das angenehme Gefühl von Ruhe blieb im PAC zurück. Stattdessen stellte sich ein kaum merkbares Unwohlsein ein, an das ich mich schon vor langer Zeit gewöhnt hatte. Rücken gerade, Schultern nach unten, Kinn heben. Obwohl ich seit anderthalb Jahren bei keinem Schönheitswettbewerb mehr mitgemacht hatte, hallten Moms Anweisungen noch immer in meinen Ohren nach. Ihrer Ansicht nach musste man nicht nur auf dem Laufsteg perfekt sein, sondern auch darüber hinaus. Eine Lady mit hervorragenden Manieren, die nie aufbrausend wurde, stets dem Anlass angemessen gekleidet war, sich zurückhaltend verhielt und keine eigene Meinung hatte.
Warum? Warum fiel mir das alles ausgerechnet jetzt ein? Konnten die Sommerferien zu Hause und dieser eine lächerliche Kommentar meines Freundes so eine Wirkung auf mich haben? War mein Selbstwertgefühl wirklich so gering?
Unbewusst hob ich die Hand, um mir das Haar glatt zu streichen, nur für den Fall, dass es von der warmen Augustbrise zerzaust worden war. Doch als ich merkte, was ich da gerade tun wollte, nämlich sichergehen, dass die Narbe an meiner Schläfe weiterhin vor den Augen aller verdeckt war, senkte ich die Hand wieder. Moms Perfektionswahn hatte mich meine halbe Teenagerzeit über geprägt. Er war wie ein Käfig, in den ich mich freiwillig hatte sperren lassen. Und selbst jetzt, zweitausend Meilen von zu Hause entfernt, ließ ich es noch immer zu.
Ich schüttelte über mich selbst den Kopf. Ich war eindeutig zu optimistisch gewesen. Das Training mit Mason war wohl noch nicht hart genug, wenn ich so früh schon wieder in solche Grübel
eien verfiel.
In der sprachwissenschaftlichen Fakultät traf ich auf Emery Lance, die ein Gesicht zog, als müsste sie gleich vor Gericht statt in den Hörsaal.
»Sag mir noch mal, warum ich Französisch gewählt habe«, begrüßte sie mich und schob sich das platinblonde Haar mit den mittlerweile wieder pinkfarbenen Spitzen über die Schulter zurück.
»Weil du anfangs keine andere Wahl hattest und inzwischen sogar den einen oder anderen vernünftigen Satz auf Französisch rausbringst.«
Sie verdrehte die Augen, was dank Eyeliner und Mascara einen dramatischen Effekt hatte. »Ich hasse diese Sprache immer noch.«
»Und ich finde Biologie schrecklich«, erinnerte ich sie, während wir den Hörsaal betraten. »Trotzdem gehe ich immer noch hin und schneide kleine Tiere auf.«
»Du meinst wohl eher, ich schneide sie für dich auf«, korrigierte sie mich schnaubend.
In unserem ersten Semester waren wir uns zufällig über den Weg gelaufen – und beide gleichermaßen entsetzt gewesen. Denn Emery und ich waren früher in Montana zusammen zur Highschool gegangen und alles andere als beste Freundinnen gewesen. Genau genommen hatten wir uns aus mehr oder weniger gerechtfertigten Gründen nicht ausstehen können. Das hatte sich auch nach unserer Ankunft in Huntington, West Virginia, nicht geändert. Erst als wir dazu gezwungen gewesen waren, in Biologie und Französisch zusammenzuarbeiten, und unser Heimweh uns einander nähergebracht hatte, war diese offene Abneigung etwas anderem gewichen. Zuerst Akzeptanz und schließlich Freundschaft.
Ich mochte Emery, weil es ihr egal war, was die Leute von ihr dachten und welche Gerüchte gerade über sie kursierten. Sie zog ihr Ding durch, selbst wenn sie andere damit vor den Kopf stieß. Früher hatte ich sie dafür verabscheut, weil sie genau das tat, was mir nie erlaubt gewesen war. Ich hatte nie ich selbst sein dürfen. Wobei … um ehrlich zu sein, hatte ich viel zu oft das Gefühl, überhaupt nicht zu wissen, wer ich eigentlich war. Aber wer wusste das schon in unserem Alter? Mittlerweile bewunderte ich Emery dafür. Außerdem war sie eine willkommene Abwechslung zu dem oberflächlichen Getue, das es viel zu oft unter den Musik- und Theaterstudenten gab.
»Komm schon.« Ich ließ mich auf einen Platz im vorderen Drittel der Reihen fallen. »Eines Tages wirst du als Fotografin durch die Welt reisen und froh sein, dich auf Französisch unterhalten zu können.«
»Niemand braucht Französisch«, murmelte sie und setzte sich neben mich.
»Stimmt. Warum solltest du auch nach Frankreich wollen? Schreckliches Land, gar keine Atmosphäre, geschweige denn schöne Fotomotive. Oder nach Kanada. Da sind alle so nett, die wüssten gar nichts mit dir anzufangen«, fügte ich hinzu. »Belgien steht sicher auch nicht auf deiner Reiseliste, die Schweiz fällt weg, dann noch Luxemburg, Monaco, Haiti, die Seychellen, die Elfenbeinküste, Madagaskar und viele weitere Länder in Afrika.«
Sekundenlang starrte sie mich nur an. »Manchmal hasse ich dich, weißt du das?«
»Und ob ich das weiß.« Zufrieden lächelnd packte ich meine Unterlagen aus. Diese kleine Diskussion hatte eindeutig ich gewonnen.
Ich reihte Laptop, Buch, Notizblock und Stift säuberlich nebeneinander auf und begann, mich mental auf die erste Französischstunde im neuen Semester vorzubereiten. Glücklicherweise war mir diese Sprache immer leichtgefallen, aber ich hatte auch den Vorteil, damit neben Englisch aufgewachsen zu sein. Meinen Eltern zufolge war eine zweisprachige Erziehung unabdingbar, wenn man etwas aus sich machen wollte, und inzwischen war ich ihnen dankbar dafür. Denn die ganzen Länder, die ich Emery genannt hatte, gehörten definitiv zu den Orten, die ich eines Tages besuchen wollte.
Neben mir packte Emery ebenfalls ihre Sachen aus. Dazu noch einen knallig gelben Flyer mit fetter schwarzer Schrift, der mir irgendwie bekannt vorkam. Vielleicht, weil ich ihn schon mehr als ein Dutzend Mal gesehen hatte – an irgendwelchen Pinnwänden auf dem Campus, angeklebt an Litfaßsäulen und Ampeln in der Stadt, in diversen Clubs ausliegend und immer, immer in der Wohngemeinschaft meiner besten Freundin. Und jetzt platzierte sie das Ding auch noch so offensichtlich in meinem Blickfeld, während sie sich die größte Mühe gab, dabei völlig unbeteiligt zu wirken.
Ich zog die Brauen in die Höhe. »Ernsthaft?«
»Ach, komm schon!« Sie drehte sich halb zu mir um, als hätte sie nur auf diese Reaktion gewartet. »Das ist deine Chance, Grace.«
»Wozu? Um mich in aller Öffentlichkeit zu blamieren? Nein, danke, schon erlebt. Ich kann auf eine Wiederholung verzichten.«
»Aber du liebst das Singen!«
»Singen? Ja!«, stellte ich klar. »Öffentliche Auftritte? Nein, nein und nochmals nein!«
Allein beim Gedanken daran drehte sich mir der Magen um. Ich hatte kein Problem damit, bei Theateraufführungen und Musicals auf der Bühne zu stehen, denn dort war ich nicht allein. Selbst bei Soloauftritten wusste ich, dass es ein ganzes Team gab, das genau wie ich im Rampenlicht stand. Dort war ich nur eine von vielen, ganz egal, ob ich eine Haupt- oder Nebenrolle übernahm. Und vor allem ging es im Theater oder Musical immer darum, in die Haut eines anderen zu schlüpfen. Eine Rolle zu spielen. Nicht darum, man selbst zu sein. Aber genau das musste ich beim Singen.
»Du versuchst mich schon seit dem letzten Semester dazu zu überreden. Nicht mal in den Sommerferien zu Hause hatte ich Ruhe! Wann gibst du endlich auf?«
»Wenn du endlich zu diesem Vorsingen gehst.« Sie gestikulierte so wild mit den Händen, dass sie beinahe den Typen, der vor uns saß, am Kopf traf. »Ich weiß, dass du es draufhast und es locker in die Band schaffen würdest.«
»Schon mal daran gedacht, dass ich gar nicht in einer Band sein will?«
»Bullshit.«
Ich riss die Augen auf. »Wie bitte?«
»Oh, du hast mich schon verstanden: Bull. Shit«, wiederholte sie, und ich gab mir alle Mühe, nicht bei diesem schrecklichen Wort zusammenzuzucken. »Du liebst es, zu singen, und ich habe dich zusammen mit Maze und der Band letztes Jahr auf der Bühne gesehen. Und gehört! Ihr wart großartig!«
Ich verdrehte die Augen. »Das war eine Ausnahme. Ich habe nur einem … nur Mason ausgeholfen.«
»Und es hat dir Spaß gemacht, das konnten wir alle sehen.«
Ja, das hatte es. Weil ich gar keine Zeit gehabt hatte, mich vor dem Auftritt verrückt zu machen und nervös zu werden. Weil ich nicht darüber hatte nachdenken können, was es bedeutete, auf die Bühne zu gehen. Von allen angestarrt zu werden. Verwundbar zu sein. Schließlich war ich an jenem Abend mit Emery, Dylan, Luke und den anderen in diesen Club gegangen, um Elles Geburtstag zu feiern, und nicht, um vor über zweihundert Leuten aufzutreten. Aber dann war die Sängerin plötzlich krank geworden, der Auftritt drohte nach der Hälfte der Songs ins Wasser zu fallen, und Mason hatte mich geradezu angefleht, als Ersatz für Hazel einzuspringen. Keine Zeit für Lampenfieber. Keine Zeit, um darüber nachzudenken, dass all die Menschen mich dort oben auf der Bühne sehen würden – und keine Rolle, die ich gerade spielte.
Emery war die Einzige, die die Geschichte hinter meiner Abneigung gegen solche Auftritte kannte. Wir kamen schließlich aus derselben Kleinstadt, und kurz nach ihrem ganz persönlichen Skandal hatte es meinen gegeben. Nur dass sich die Leute nicht über mich empörten, sondern hinter vorgehaltener Hand kicherten, mir abfällige Blicke zuwarfen und mit dem Finger auf mich zeigten. Die Highschool-Queen, die von ihrem Thron gefallen war. Und ich war unglaublich tief gefallen. Doch bis wir beide zweitausend Meilen entfernt an diesem College gelandet waren, hatte auch Emery nur die Gerüchte gekannt. Irgendwann hatte ich ihr die ganze Wahrheit erzählt, genauso wie sie mir. Ich redete mir gerne ein, dass das der Wendepunkt in unserer Beziehung gewesen war, der Moment, in dem aus Feindschaft Freundschaft geworden war, aber das stimmte nicht. In Wirklichkeit war es ein schleichender Prozess gewesen, angefangen damit, dass wir Laborpartner in Biologie sein mussten und ich Emery Nachhilfe in Französisch gab, bis hin zum Heimweh, das uns beide genauso verband wie die Erleichterung, so weit weg von zu Hause zu sein.
Emery blies sich eine h
ellblonde Strähne aus dem Gesicht. »Der einzige Grund, aus dem du nicht zum Vorsingen gehen willst, ist …«
»Sag es nicht.«
»… dass du Angst hast.«
Ich presste die Lippen so fest aufeinander, dass mich der Schmerz davor bewahrte, in Gedanken zurück zu jenem Tag zu gehen. Danach war alles den Bach runtergegangen. Meine aufstrebende Karriere. Mein Familienleben. Meine Beziehung zu Stephen. Meine Gesundheit. Mein Selbstwertgefühl.
»Hey …« Emery stupste mich an. Auf einmal wirkte sie nicht mehr so wild entschlossen, mich zu dieser Sache zu überreden, sondern überraschend mitfühlend. »Ich weiß genau, wie es ist, Angst davor zu haben, dass sich etwas Schreckliches wiederholt.«
Ich schloss die Augen. Sie hatte recht. Von allen Menschen, die ich kannte, konnte niemand dieses Gefühl so gut nachvollziehen wie Emery. Aber im Gegensatz zu mir hatte sie sich den Gründen dafür schon vor einem Jahr gestellt – und sie überwunden. Selbst wenn bis heute noch Gerüchte über sie kursierten und ein paar idiotische Kommilitonen gelegentlich meinten, irgendwelche dämlichen Sprüche raushauen zu müssen. Die meisten trauten sich das allerdings nicht mehr, weil die Sache längst vergessen war oder weil sie gehörigen Respekt hatten. Nicht vor ihrem Freund Dylan oder den anderen Jungs in der Clique, sondern vor Emery selbst. Denn dieses Mädchen konnte sich nicht nur mit Worten zur Wehr setzen.
Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition) Page 3