Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition)

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Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition) Page 10

by Bianca Iosivoni


  In einer kurzen Pause trank ich ein paar Schlucke Wasser, dann kam der nächste Song an die Reihe. Drag Me Down von One Direction hatte beim Auftritt im Club letztes Jahr noch nicht auf der Setlist gestanden, also studierte ich ihn gerade zum ersten Mal mit der Band ein – und verhaspelte mich gleich am Anfang. Okay, halb so wild. Trotzdem biss ich die Zähne zusammen, wollte mich schon entschuldigen, doch die Jungs winkten nur ab. Also versuchten wir es erneut. Diesmal verpatzte ich meinen Einsatz nicht, dafür kam es zu einer Disharmonie zwischen Keyboard und Schlagzeug, da sie nicht mehr im selben Tempo spielten, wodurch wir abbrechen und noch mal von vorne beginnen mussten. Beim nächsten Versuch schafften wir die erste Strophe, die Mason und ich abwechselnd sangen, allerdings vermasselte ich den Beginn des Refrains.

  Ich war ständiges Wiederholen von Texten und Gesang bereits durch diverse Theateraufführungen im College und in der Highschool gewöhnt. Jeder vermurkste hin und wieder eine Szene, das war ganz normal. Aber ich hätte nie gedacht, dass es mit einer Band so anders sein könnte. Oder dass ich mit jedem missglückten Versuch angespannter werden würde.

  Seufzend entschuldigte ich mich, und wir begannen von Neuem. Zweimal. Dreimal. Viermal. Mit jeder Wiederholung wurde ich nur noch verbissener und noch mehr darauf bedacht, ja keine Fehler mehr zu machen. Mein Atem wurde immer flacher, wodurch meine Stimme immer dünner klang – und mit dem nächsten verpassten Einsatz ruinierte ich den Song erneut.

  »Okay, wisst ihr was? Das war eine dumme Idee.« Ich trat vom Mikrofon zurück und drehte mich zu den anderen um. »Vielleicht soll es einfach nicht sein. Tut mir leid.«

  Ohne auf Jesses Rufen zu reagieren, ging ich von der Bühne, griff nach meiner Tasche und eilte aus dem Proberaum. Es war keine Panik, die mich lähmte wie damals, und auch keine Angstattacke, die mich zur Flucht trieb. Ich war genervt, frustriert und auf lächerliche Weise enttäuscht. Von mir selbst. Ich hatte wirklich geglaubt, es zu schaffen. Dass ich mir selbst beweisen könnte, meine Angst zu überwinden und das zu tun, was ich liebte – zu singen. Aber ich hatte mich geirrt. Ich würde es nie hinkriegen. Vielleicht hatte Mom doch recht gehabt. Manche Menschen sind einfach nicht für das Rampenlicht und den Erfolg gemacht, Liebling …

  »Hey!« Masons Stimme ließ mich innehalten. »Was zum Teufel sollte das?«

  Ich hatte nicht mal gemerkt, wie ich das Gebäude verlassen hatte. Jetzt stand ich auf dem gepflasterten Weg, der zwischen den Grünflächen zu den anderen Fakultäten auf dem Campus führte, und drehte mich langsam zu Mason um. Die Sonne war schon untergegangen – hatten wir wirklich so lange geprobt? –, aber der Himmel war noch von einem klaren Blau, und zwischen den Backsteingebäuden schimmerte das letzte Tageslicht.

  »Ich kann das nicht«, stieß ich hervor. »Ich vermassle es die ganze Zeit. Ihr habt euch die falsche Sängerin ausgesucht. Tut mir leid.«

  Mason starrte mich ungläubig an. »Also willst du einfach aufgeben? Bei der ersten Schwierigkeit? Wirklich? Ich hätte dich für ehrgeiziger gehalten.«

  »Das hat nichts mit Ehrgeiz zu tun.«

  »Womit dann, hm? Mit Angst?«

  Ich presste die Lippen aufeinander, erwiderte jedoch nichts darauf. Ich weigerte mich, ihm darauf eine Antwort zu geben.

  »Komm schon, Grace.« Er machte einen Schritt auf mich zu. Dann noch einen. Die warme Abendluft trug seinen Duft zu mir herüber. Ein Duft, der mir nicht so vertraut sein sollte, nachdem wir uns nur ein einziges Mal wirklich nahegekommen waren. Aber er war es. Genauso wie seine Stimme, die jetzt einen wütenden Unterton angenommen hatte. »Du lernst deine Texte und übst stundenlang für die Aufführungen hier, rackerst dich jeden zweiten Morgen mit mir beim Army-Workout ab, aber wenn unsere erste Probe nicht so läuft, wie du dir das vorgestellt hast, wirfst du gleich das Handtuch?«

  Ich schnaubte lautlos. Wow, da hatte jemand eine wirklich hohe Meinung von mir. »Du magst mich nicht besonders, was?«

  Er schob die Hände in seine Hosentaschen und zog die Schultern hoch. »Ich mag dich schon, sonst wärst du nicht Teil dieser Band geworden.«

  Ich ignorierte die erste Hälfte seiner Aussage, ignorierte das Gefühl, das sich bei diesen Worten in meiner Brust ausbreitete, und konzentrierte mich auf den zweiten Part.

  »Und wenn ihr euch falsch entschieden habt? Was, wenn ich eine Fehlbesetzung bin? Oder nicht die erste Wahl, weil es jemanden viel Bess…«

  »Du bist unsere erste Wahl«, beharrte er. In seinem Gesicht konnte ich nichts als Ehrlichkeit lesen. Und jetzt, wo er so dicht vor mir stand, fiel mir zum ersten Mal auf, dass seine Augen nicht grau waren. Sie waren eine ungewöhnliche Mischung aus Grau und Grün. »Außerdem bist du die Einzige, bei der wir uns sofort einig waren. Du glaubst gar nicht, wie viele Diskussionen wir nach den anderen Terminen zum Vorsingen hatten.«

  »Im Ernst …?«, fragte ich zögerlich.

  Er nickte. »Jesse hat zu jeder zweiten Sängerin, die irgendwie nett wirkte, sofort Ja und Amen gesagt, aber Kane hat alle mit seiner Kritik in der Luft zerrissen, und Pax war noch viel wählerischer als ich. Und der Kerl kann dich gegen die Wand argumentieren, das glaubst du gar nicht. Aber nicht bei dir. Bei dir waren wir uns alle sofort einig. Du bist die richtige Sängerin für uns, Grace. Wir wissen das, wir glauben daran, aber du musst auch selbst daran glauben und es wollen.«

  Ich atmete tief ein und zittrig wieder aus. Ich wollte es ja. Ich wollte wieder singen und zusammen mit den Jungs in einer Band sein. Aber konnte ich auch daran glauben, dass ich es schaffen würde? Was, wenn ich bei der nächsten Probe wieder so frustriert rausstürmen würde? Was, wenn ich unseren ersten Auftritt völlig ruinierte und die Band in ein schlechtes Licht rückte? Wenn sie danach keine Gigs mehr bekamen, weil ihre neue Sängerin keinen Ton auf der Bühne herausbrachte?

  »Hey …« Mason kam noch einen Schritt näher und suchte meinen Blick. »Was da drinnen passiert ist, ist völlig normal. Wir versauen alle mal einen Song, aber genau dafür sind die Proben da. Du gewöhnst dich dran.«

  Nachdenklich nagte ich an meiner Unterlippe – und stoppte mich sogleich selbst dabei, weil ich wieder die Stimme meiner Mutter in den Ohren hatte. Grace, eine wahre Lady achtet immer darauf … Ich schüttelte den Gedanken ab und zwang mich wieder ins Hier und Jetzt. Unschlüssig sah ich von Mason zum Performing Arts Center hinter ihm und wieder zurück. »Wollt ihr mich überhaupt noch dabeihaben nach dieser Diva-Nummer eben?«

  Jetzt grinste er. »Das nennst du Diva-Nummer? Prinzessin, du hast ja keine Ahnung, wie vier selbstverliebte Kerle sein können.« Ohne das geringste Zögern griff er nach meiner Hand und zog mich mit sich. »Lass es uns noch mal probieren, und ich verspreche dir, wir werden alle unsere Einsätze oder andere Dinge verpatzen. Irgendwann bist du am Durchdrehen, wenn du dieselbe Stelle noch mal spielen oder singen musst, obwohl du es schon hundertmal gemacht hast.«

  »Wie beruhigend«, erwiderte ich trocken.

  Mason ließ mir keine Zeit zum Nachdenken, sondern brachte mich zurück in den Proberaum, bevor ich mir in Gedanken überhaupt ausmalen konnte, wie der Rest der Band auf meine Flucht reagieren würde. Aber ganz egal, was ich mir vorgestellt hätte, nichts davon hätte mit der Realität übereingestimmt, denn … es spielte keine Rolle. Niemand machte einen Aufstand. Paxton zögerte das Weiterproben sogar um ein paar Minuten hinaus, weil er das nächste Level schaffen wollte, und ich konnte Kane ansehen, dass er kurz davor war, ihm das Handy wegzunehmen und es aus dem Fenster zu werfen. Als wir endlich alle so weit waren, stopfte sich Jesse die letzten Reste seines Tudor’s Biscuit Sandwich in den Mund und begann, mit vollen Backen zu spielen.

  Diesmal brachten wir den Song sogar zu Ende. Er war perfekt für Masons Stimme geeignet. Ich musste mich an meinen Part darin noch gewöhnen, aber da ich das Lied mochte und schon ewig auf meiner Playlist hatte, fiel es mir leicht, mich in der Musik zu verlieren.

  Mason behielt recht. Abgesehen von Kane am Bass, der mit einer Engelsgeduld alles hinnahm, vermurksten wir alle die eine oder andere Stelle: Mason seinen zweiten Einsatz für den Gesang, Paxton das Tempo beim Schlag
zeug, Jesse verspielte sich am Keyboard, und ich traf ein paar Töne nicht richtig. Mir war weiterhin unwohl dabei, und die Tatsache, dass niemand eine große Sache aus unseren Fehlern machte, war noch immer ungewohnt. Doch dann fiel mir ein, dass wir hier im PAC waren. Das Performing Arts Center war für mich immer ein Ort gewesen, an dem ich das Gefühl hatte, Fehler machen zu dürfen. Weil wir im Team jede Szene und jeden Auftritt so oft übten, bis wir sie bis zur Perfektion beherrschten. Und diese Bandprobe war im Grunde nichts anderes.

  Nach zwei Stunden und nur zwei kleinen Pausen machten wir Schluss für heute. Obwohl ich den ganzen Tag auf den Beinen gewesen, von einem Kurs in den nächsten gelaufen war und den späten Nachmittag mit Daniel verbracht hatte, war nichts davon so kräftezehrend gewesen wie diese Bandprobe. Vielleicht, weil sie so viel mehr Konzentration, Einsatz und Gefühl von mir erfordert hatte als alles andere. Und von meiner Stimme. Ich konnte zwar noch reden, war aber schon nach diesen zwei Stunden etwas heiser. Ein Tee wäre nicht schlecht, selbst wenn es draußen noch locker um die zwanzig Grad hatte.

  »Hier.« Mason hielt mir etwas hin, das wie eine Thermoskanne aussah.

  Zuerst dachte ich, es wäre Kaffee, aber schon der Duft passte nicht. Es war Tee. Heißer Tee mit Honig und damit Balsam für meine Stimmbänder.

  »Danke.« Ich gab ihm die Kanne nach ein paar Schlucken zurück und beobachtete ihn dabei, wie er davon trank. »Woher wusstest du …?«

  »In den letzten Wochen musste ich die Leadstimme übernehmen.« Er stieß mich mit der Schulter an. »Ich weiß genau, wie anstrengend das sein kann.«

  Wider Willen musste ich lächeln. So viel Einfühlungsvermögen hätte ich ihm niemals zugetraut. Aber diese Band und ihr Erfolg schien ihm wirklich wichtig zu sein.

  Während wir am Rande der Bühne saßen, packte Jesse seine Sachen zusammen, gleich danach einen Burger aus, den er offenbar in mehreren Lagen Papier in seinem Rucksack gehortet hatte, und winkte uns zum Abschied. Anders als Paxton, der das Schlagzeug im Proberaum stehen ließ, nahm Jesse sein Keyboard mit.

  »Er übt in seinem Zimmer«, erklärte Mason, der meinem Blick gefolgt war. »Und treibt seine Mitbewohner in den Wahnsinn.«

  »Das hab ich gehört!«, rief Jesse von der Tür aus. »Und es ist eine Lüge!« Dann war er verschwunden.

  Paxton folgte ihm. »Das war echt gut.« Er nickte mir im Vorbeigehen zu – und ich meinte sogar so etwas wie ein angedeutetes Lächeln von ihm zu sehen.

  »Danke«, erwiderte ich ehrlich und winkte ihm zum Abschied, genau wie Kane, der seinen Bass ebenfalls mitnahm.

  »Er hat recht, weißt du?« Mason packte seine Gitarre in einen Koffer und blieb dann vor mir stehen. »Du passt gut in die Band. Mit Hazel hatten wir es am Anfang deutlich schwieriger.«

  Ich lachte ungläubig auf. »Das ist glatt gelogen. Ich habe euch ein paar Mal spielen gesehen. Hazel war die perfekte Sängerin für euch.«

  »Stimmt.« Er grinste gut gelaunt, wartete an der Tür auf mich und schaltete das Licht aus, bevor er den Proberaum abschloss. »Aber das war nicht von Anfang an so. Und es lief auch nicht immer alles glatt. Hazel und Kane waren ein paar Monate zusammen, dann haben sie sich getrennt, und die Proben wurden sehr … seltsam. Und anstrengend.«

  »Trotzdem habt ihr es irgendwie hingekriegt«, schlussfolgerte ich, denn an jenem Abend, bevor ich für die krank gewordene Hazel eingesprungen war, hatten Band und Sängerin wirklich alles gegeben. Der ganze Club hatte getobt.

  »Genau.« Mason lächelte. »Und das werden wir jetzt auch.«

  Die Worte erstarben auf meinen Lippen. Hatte er gerade meine eigene Aussage gegen mich verwendet, um so schrecklich optimistisch zu sein? Dieser … dieser … Kerl!

  Als wüsste er genau, was er getan hatte, zwinkerte Mason mir zu. »Wir sehen uns morgen früh beim Training. Und am Sonntag bei der nächsten Bandprobe.«

  Ich konnte ihm nur kopfschüttelnd nachsehen. Irgendwie hatte dieser Typ es geschafft, mir nicht nur Mut zu machen, was das Singen in einer Band anging, sondern auch noch alles erstaunlich positiv wirken zu lassen. Denn wenn sie die Probleme mit ihrer alten Sängerin überwunden hatten und trotz der Trennung von Hazel und Kane ein Team geblieben waren, was konnte uns in der neuen Konstellation noch passieren?

  Erschöpft, aber irgendwie auch seltsam zufrieden machte ich mich auf den Weg. Denn da gab es einen ganz anderen Kerl, der noch immer auf mich wartete … und ich konnte es gar nicht erwarten, ihm von der Probe zu erzählen.

  Kapitel 8

  Grace

  Zweieinhalb Wochen später verlief die Bandprobe kaum anders als beim ersten Mal – und war gleichzeitig überhaupt nicht damit zu vergleichen. Jeder von uns machte nach wie vor Fehler und verpasste seinen Einsatz, aber wir waren keine Fremden mehr füreinander. Inzwischen hatte ich die einzelnen Mitglieder der Band deutlich besser kennengelernt – genau wie sie mich.

  Ich wusste zum Beispiel, dass Jesse ständig etwas zu essen brauchte, und hatte ihm und den anderen auch schon mal ein paar Snacks mitgebracht. Ungesundes Zeug, weil ich mir ziemlich sicher war, dass meine Karottensticks und Paprikaecken auf nicht allzu viel Begeisterung stoßen würden. Wie Jesse so viele Kalorien verdrücken und dabei trotzdem noch so schlank, geradezu schlaksig bleiben konnte, war mir ein Rätsel. Ja, er joggte gerne, aber das konnte nicht der einzige Grund dafür sein, oder? Abgesehen davon war er der Spaßvogel in der Gruppe, immer gut drauf und ließ sich von nichts und niemandem aus der Ruhe bringen.

  Anders als Paxton. Ich hatte schnell gelernt, dass Pax wie das Wetter war – mal stürmisch, mal missmutig und mal wie ein strahlend blauer Himmel mit jeder Menge Sonnenschein. Seine Stimmungen nahm niemand persönlich, auch wenn ich das anfangs getan hatte. Aber mittlerweile wusste ich, dass es nicht an mir lag, wenn er grummelnd in einer Ecke saß oder einen von uns anfuhr, da irgendetwas nicht so klappte, wie er sich das vorgestellt hatte. Wenn es zu heftig wurde, mischten sich Kane oder Mason ein und verpassten ihm einen ordentlichen Dämpfer. An einem Abend war das beinahe in eine Prügelei ausgeartet. Ich war völlig erstarrt gewesen und hatte nicht gewusst, was ich tun sollte, aber Jesse hatte mich beiseitegenommen und mir erklärt, dass das ganz normal sei und alle paar Monate vorkam, weil sie alle Hitzköpfe waren. Dann hatten wir uns an den Rand gesetzt, ein paar Cookies geteilt und gewartet, bis der Sturm vorübergezogen war.

  Heute sah es bei Pax jedoch wieder nach Gewitter aus. Das Vorsprechen für das nächste Theaterstück hatte begonnen, und wir waren beide in die Endauswahl gekommen. Nach der heutigen Probe schien er allerdings nicht allzu glücklich zu sein.

  »Das kann nicht sein«, murmelte ich und schüttelte den Kopf, während wir die Treppe nach unten nahmen.

  Früher hätte ich mich nie neben jemandem wie ihm sehen lassen. Das reiche Mädchen mit den teuren Klamotten neben dem Emo-Typ, der immer nur in Schwarz herumlief und mehr Löcher in den Ohren hatte als ich. So etwas war in meiner Misswahl-Welt eine vollkommen absurde Vorstellung gewesen.

  »Doch!«, rief Pax. »Ich sag’s dir, Alyssa hat in jeder einzelnen Szene versucht, mir an den Hintern zu grapschen. Ich kann nicht fassen, dass dir das nicht aufgefallen ist.«

  »Sie war eben sehr … diskret?«, schlug ich vor und stopfte meinen eigenen Text in meine Umhängetasche.

  »Einen Scheiß war sie!« Er vergrub das Gesicht in den Händen und stöhnte frustriert auf. »Wieso ziehe immer ich die Verrückten an?«

  »Hey, was ist los?«, fragte Jesse, als wir den Proberaum betraten, und sah neugierig zwischen uns hin und her.

  Ich legte meine Tasche auf einen der Sitze in der ersten Reihe. »Alyssa ist Pax bei der Theaterprobe ein bisschen zu nahe gekommen.«

  Jesse stieß einen leisen Pfiff aus und biss von seinem Apfel ab. »Du hast vielleicht Probleme, Mann.«

  Pax zeigte ihm den Mittelfinger. »Hab ich, wenn sie nicht mein Typ ist. Und als ich ihr das in einer ruhigen Minute gesagt habe, hat Jenkins das mitgekriegt und mir zugezwinkert.«

  Jesse grinste. »Vielleicht will er auch ein Stück vom Pax-Kuchen abh
aben.«

  Pax schnaubte. »Jenkins wäre wenigstens interessanter. Aber auch nicht mein Typ.« Ächzend ließ er sich auf den Sitz neben mir fallen und streckte alle viere von sich. »Ich wusste, dass es eine miese Idee war, für diese Rolle vorzusprechen.«

  »Warum hast du es dann getan?«, fragte Kane von der Tür aus. Er nickte uns zur Begrüßung zu, ging zur Bühne hinüber und packte seinen E-Bass aus.

  Kane war der Ruhige in der Band, aber wenn er mal etwas sagte, dann brachte er die Dinge knallhart auf den Punkt. Anfangs war ich nur schwer mit seiner Kritik zurechtgekommen, hatte aber schnell gemerkt, dass er es nicht böse meinte und tatsächlich hilfreiche Vorschläge machte, was die Lieder, meine Performance und die Duette mit Mason anging.

  Ich sah wieder auf mein Handy und textete Emery und Myung-hee, dass wir da waren. Sie wollten heute zum Zuschauen vorbeikommen.

  Pax gab einen undefinierbaren Laut von sich. »Weil mein Prof mir zu verstehen gegeben hat, dass ich schriftlich und mündlich zwar klasse bin, mich aber in den praktischen Kursen mehr einbringen sollte. Sonst wird er meine Bachelorarbeit nicht betreuen.«

  »Na dann …« Kane zuckte mit den Schultern. »Selbst schuld.«

  »Versuch es zu genießen«, warf Jesse wenig hilfreich ein. »Du kriegst ja sonst nicht so viel weibliche und männliche Aufmerksamkeit.«

  Pax schnappte sich meine Handyhülle und warf sie nach ihm.

  »Hey!«, rief ich, aber mein Protest ging in Jesses Gelächter unter. Auch Kane grinste jetzt. Pax gab sich alle Mühe, finster dreinzublicken, aber seine Mundwinkel zuckten trotzdem, und auch ich musste lächeln. Diese Jungs waren ein Haufen Chaoten, aber seltsamerweise fühlte ich mich wohl in ihrer Mitte. Sogar mit Mason in der Band.

 

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