Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition)

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Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition) Page 22

by Bianca Iosivoni


  Dunkles Holz, violette Beleuchtung, gepolsterte, runde Hocker, die allesamt besetzt waren. Ich quetschte mich an ein paar Leuten vorbei und gab dem Barkeeper, der am nächsten stand, ein Zeichen, sobald er in unsere Richtung sah. Bis er rüberkam, sammelte ich die Bestellungen von allen ein, auch wenn ich die Lieblingsgetränke der meisten sowieso schon kannte.

  Ich gab die erste Runde aus und hielt meine Bierflasche in die Höhe. »Auf die Band.«

  »Auf euch!«

  »Auf diesen Megaauftritt!«

  Wir stießen miteinander an, und irgendwie blieb mein Blick an Grace hängen, als ich den ersten Schluck trank. Sie lächelte, bevor sie sich zu Myung-hee beugte, die sie etwas gefragt hatte. Als ich aufsah, begegnete ich Kanes ruhigem Blick. Oder sollte ich sagen – seinem wissenden Blick? Ich kannte diesen Ausdruck bei meinem Bandkollegen und schüttelte warnend den Kopf. Was auch immer er sich gerade zusammenreimte, es stimmte nicht. Ich war einfach nur froh, die Sache mit dem Wettbewerb so schnell geklärt zu haben. Ja, Grace war enttäuscht, vermutlich auch wütend, aber sie war weder davongestürmt, noch hatte sie ihren Posten als Sängerin hingeschmissen. Genauso wenig wie einer der Jungs. Das Ganze geheim zu halten war vielleicht nicht die beste Strategie gewesen, aber wir hatten uns immerhin für diesen Wettbewerb qualifiziert, wie ich dank des kurzen Telefonats auf dem Weg zum Club wusste. Und nur das zählte, richtig? Abgesehen davon hatten wir einen fantastischen Auftritt hingelegt. Dass nicht jeder an diesem Abend wie versprochen zu unserem Konzert gekommen war, spielte keine Rolle. Absolut. Keine.

  Das Traurige war, dass es mich nicht mal überraschte. Ich wusste, dass ich nur kurz auf mein Handy schauen müsste, um eine Nachricht von ihr vorzufinden. Genauso wie ich erraten konnte, was darin stehen würde. Aus diesem Grund sah ich nicht nach. Dieser Abend gehörte ganz der Band. Wir hatten unseren ersten Auftritt mit Grace als neuer Sängerin gemeistert, und das Publikum hatte getobt. Besser hätte es nicht laufen können, trotz der kleinen Patzer zwischendurch und Grace’ spürbarer Nervosität am Anfang. Aber wir hatten unseren Groove gefunden.

  »Starke Leistung.« Dylan klopfte mir auf die Schulter.

  Grinsend hielt ich ihm meine Flasche zum Anstoßen hin. »Gleichfalls.«

  Irritiert zog er die Brauen zusammen.

  »Dass du überhaupt hier bist, Mann! Ich hab das Gefühl, dich Jahre nicht mehr gesehen zu haben.«

  »Ja, das …« Sein Blick zuckte zu Emery, die sich angeregt mit den Mädchen unterhielt. Schuldbewusst zog er die Schultern hoch. »Ich hätte es fast nicht geschafft. Ich musste ein paar Schichten tauschen und … egal. Jetzt bin ich hier.«

  Ich nickte ihm zu – und fragte mich insgeheim, warum Jenny sich nicht ebenso wie Dylan darum bemüht hatte, heute Abend hier zu sein. Scheiße, sie hatte mir nicht mal abgesagt … Aber das war nicht die erste Aktion dieser Art, und vermutlich würde ich bei unserem nächsten Treffen erfahren, welcher ihrer Freundinnen es diesmal schlecht gegangen war.

  »Ey, was soll die Trauermiene?«, rief Jesse und bahnte sich einen Weg zu uns. »Wir haben das Konzert gerockt! Scheiße, kurz dachte ich echt, wir versauen es, als ich mich an dieser einen Stelle verspielt habe, aber …«

  »Aber«, warf Pax ein und legte uns beiden einen Arm um die Schultern, »ich hab euch den Arsch gerettet, weil ich nicht aus dem Takt bekommen bin. Und ihr damit auch nicht.«

  Ich grinste. »Hört, hört.«

  Ohne unseren Drummer wären wir aufgeschmissen. Dummerweise wusste der Idiot das auch noch, und das pushte sein Ego manchmal so sehr, dass es größer wurde als das von Jesse. Wie jetzt. Amüsiert sah ich Pax nach, wie er zu einem dunkelhaarigen Typen hinüberging, der ihm bereits entgegenlächelte und ein Gespräch mit ihm begann.

  »Der Aufreißer«, murmelte ich und nippte an meinem Bier.

  »Lass ihm doch den Spaß«, kam es von Dylan.

  »Habe ich da was von Spaß gehört?« Emery tauchte neben ihm auf, nahm ihm die Flasche aus der Hand und drückte sie mir gegen die Brust. »Lass uns tanzen, Westbrook.«

  Und schon waren die beiden im Hauptraum verschwunden.

  »Gute Idee.« Jesse klopfte mir auf die Schulter, steuerte Grace an, sagte etwas zu Myung-hee und deutete dabei auf Kane, dann griff er nach der Hand unserer Sängerin und zog sie einfach mit sich.

  Sie warf mir einen verwunderten Blick zu, aber ich zuckte nur belustigt mit den Schultern. Das war Jesse in Aktion, wenn er noch harmlos war. Sie wollte ihn nicht erleben, wenn er es wirklich auf ein Mädchen abgesehen hatte. Und wenigstens hielt er sich brav von Emery fern, nun, da Dylan wieder auf der Bildfläche aufgetaucht war. Zumindest für diesen Abend.

  Ich quatschte mit den anderen, spielte eine Runde Pool mit Luke und Trevor, tanzte erst mit Elle, dann mit Myung-hee und landete irgendwann bei Grace. Zuerst zögerte ich, genau wie sie, dann gab ich mir in Gedanken einen Tritt. Freunde. Wir waren Freunde. Sie hatte es selbst gesagt. Außerdem hatte ich sie schon mit Jesse und Pax auf der Tanzfläche gesehen, wenn auch nur kurz im Vorbeigehen.

  Trotzdem begann es in meinem Brustkorb zu hämmern, als ich die Hand an ihre Taille legte. Da ich mich noch genau daran erinnerte, wie schwer ihr das lockere Tanzen auf dem Dach gefallen war, brachte ich uns in eine Position, die ihr inzwischen vertraut sein sollte: ihre Arme um meinen Hals, meine Hände an ihren Seiten. Dann begann ich mit einer einfachen Schrittkombi. Sie warf mir ein dankbares Lächeln zu und begann sich zu entspannen. Mehr noch: Statt sich zu verkrampfen oder aus dem Takt zu kommen, schmiegte sie sich beim nächsten, langsameren Song an mich und lehnte den Kopf schon bald an meine Schulter. Ich schluckte hart, als ihr warmer Atem meinen Hals streifte und verstärkte unbewusst meinen Griff um sie.

  »Ich bin froh, dass wir das Konzert nicht abgesagt haben und zurück ins Wohnheim gefahren sind.«

  »Ich auch«, raunte ich und drehte den Kopf etwas, um ihren Blick einzufangen. »Und ich bin stolz auf dich. Das weißt du, oder?«

  Sie erwiderte nichts darauf, lächelte jedoch. Und dieses Lächeln war es, das mir durch und durch ging. Ich war beinahe froh, als der Refrain begann und wir uns schneller zur Musik bewegen mussten. Wie beim letzten Mal führte ich Grace in eine Drehung, nur dass wir diesmal kein Swing tanzten, sondern zu irgendeinem Popsong, den ich kaum registrierte, weil meine Tanzpartnerin meine ganze Aufmerksamkeit einnahm.

  Wieder war da dieses Wummern in meiner Brust, aber ich ignorierte es, genauso wie die Hitze, die sich in mir auszubreiten begann.

  Nur ein Tanz. Das hier ist nur ein Tanz.

  Das nächste Lied war deutlich langsamer und vertrieb einige Leute von der Tanzfläche, dafür kamen mehrere Paare neu dazu. Ich ließ Grace’ Finger los, nur um auch die zweite Hand auf ihren unteren Rücken zu legen und sie noch eine Spur näher zu ziehen. Ich wusste nicht, womit ich rechnete oder worauf ich hoffte. Aber bevor ich mir darüber klar werden konnte, schlang sie beide Arme um meinen Hals. Einen Herzschlag lang trafen sich unsere Blicke, dann biss ich die Zähne zusammen und schaute zur Seite. Denn eine Sache wurde mir in diesem Moment klar: Wenn ich sie auch nur eine Sekunde länger ansah, würde ich sie wieder küssen wollen – und das war absolut verboten. Scheiße, ich sollte nicht mal mit diesem Gedanken spielen. Ich liebte Jenny. Ich wollte eine Zukunft mit ihr. Das hatte ich schon immer gewollt. Warum musste ich in letzter Zeit also immer wieder an Grace denken? Das ergab überhaupt keinen Sinn.

  Die Klänge von Rihannas Love On The Brain waren langsam und sinnlich, begleitet von einer starken Stimme, die mich an die von Grace erinnerte. Und ich wusste: Wenn sie dieses Lied eines Tages singen würde, wäre das mein Untergang. Ich könnte keinen einzigen klaren Gedanken mehr fassen.

  Obwohl sich alles in mir dagegen sträubte, hob ich den Kopf und führte sie in eine neue Drehung, nur um sie sofort wieder an mich zu ziehen und ihren Blick festzuhalten. Noch ein bisschen näher. Noch ein bisschen intensiver. Ihre Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln, das etwas Seltsames in mir auslöste. Ein warmes, aber irgendwie auch schmerzhaftes Ziehen in meiner Brust, und trotzdem erwiderte ich
ihr Lächeln.

  Wir tanzten schweigend weiter. Ich suchte nach Worten, nach einem Spruch, einem Witz, um diese viel zu intensive Stimmung irgendwie aufzulockern, aber mir fiel nichts ein. Stattdessen erwischte ich mich immer wieder bei dem Gedanken, dass mir nur noch wenige Minuten, vielleicht auch nur Sekunden blieben, in denen ich sie so festhalten konnte. Gleich würde ein neues Lied beginnen und irgendetwas sagte mir, dass dieses sicher nicht mehr so langsam sein würde.

  Ich spürte ihren Blick auf mir und neigte den Kopf. Ihre Augen wirkten riesig. Riesig, von einem intensiven Grünblau und wunderschön. Ich schluckte hart und lehnte meine Stirn an ihre. In diesem Moment war es mir egal, wer von unseren Freunden uns so sehen konnte und was sie denken würden. Es war die einzige Weise, wie ich Grace nahe sein, wie ich sie berühren und ihren Duft einatmen konnte, ohne dass es verboten, ohne dass es falsch gewesen wäre. Wir waren nur zwei Bandkollegen, nur zwei Freunde, die miteinander tanzten. Nicht mehr und nicht weniger.

  Auch wenn es mich alles an Selbstbeherrschung kosten würde, sie nach diesem Song gehen zu lassen.

  Grace schien sich genauso wenig von mir lösen zu wollen. Einen viel zu kurzen Moment verharrten wir so, dicht voreinander, während sich die Welt um uns herum weiterdrehte, die Leute feierten, tranken und zur Musik tanzten. Ich wollte den Mund öffnen und etwas sagen … auch wenn ich noch immer keine Ahnung hatte, was das sein sollte. Aber ich brachte keinen Ton heraus. Ein einziger Blick, ein einziger Tanz – und es hatte mir die Sprache verschlagen.

  Letztlich war Grace diejenige, die einen halben Schritt zurück machte. Sie brach den Blickkontakt nicht ab, sondern hielt ihn fest, bis sie in der Menge verschwand. Und zum ersten Mal, seit sie in meinen Armen gelandet war, hatte ich das Gefühl, wieder durchatmen zu können. Nur warum fühlte es sich dann so an, als hätte sich gleichzeitig ein tonnenschweres Gewicht auf meinen Brustkorb gelegt?

  Was damals fast bei dieser Tanzstunde auf dem Dach passiert wäre, würde sich nicht wiederholen. Ich liebte Jenny. Ich wollte mit ihr zusammen sein. Trotzdem bekam ich Grace einfach nicht aus dem Kopf. Und jetzt, wo ich wieder viel zu genau wusste, wie sie roch, wie sich ihr Atem auf meiner Haut und ihr weicher Körper so dicht an meinem anfühlte, nachdem ich sie berührt und ihr Lächeln gesehen hatte, wurde es schier unmöglich, sie aus meinen Gedanken zu verbannen. Oder aus meinen Gefühlen.

  Scheiße. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Frustriert rieb ich mir mit beiden Händen übers Gesicht. Ich brauchte dringend einen Drink.

  In den nächsten Stunden redete ich mit meinen Freunden und spielte noch ein paar Runden Pool, wobei Trevor uns alle fertigmachte. Wenigstens nutzte er seinen Gewinn dafür, noch eine Runde auszugeben. Aber ganz egal, wo ich an diesem Abend war, ob an der Bar, auf der Tanzfläche, vor dem Billardtisch, ein Teil von mir war sich immer darüber bewusst, wo Grace gerade war. Wann immer sich unsere Blicke trafen, wurde mir eine Spur wärmer, bis ich nicht mehr wusste, was ich noch denken, tun oder fühlen sollte. Ich wusste es einfach nicht. Völlig klar war nur, dass ich derjenige sein würde, der sie zurück nach Hause brachte. Selbstverständlich nur, um sicherzugehen, dass sie heil im Wohnheim ankam. Das war das, was Freunde füreinander taten. Richtig?

  Wir teilten uns ein Taxi mit Myung-hee und Kane, das uns zurück zum Campus fuhr. Die anderen wollten noch im Club bleiben. Zumindest die, die noch übrig waren. Emery und Dylan waren irgendwann im Laufe des Abends verschwunden, um Gott-weiß-was zu tun. Ehrlich, ich liebte meinen Kumpel, und Emery war eine ganz passable Mitbewohnerin, aber was die beiden trieben, wollte ich mir lieber nicht vorstellen. Trevor hatte kurz überlegt, ob er ebenfalls zurückfahren wollte, dann hatte Tate ihm etwas ins Ohr geflüstert und er hatte seine Entscheidung überraschend schnell gefällt und war mit ihr dageblieben, genau wie Elle, Luke und die restliche Band.

  Wir verabschiedeten uns von Kane und Myung-hee auf dem Parkplatz, da sie ein anderes Wohnheim ansteuerten als Grace und ich.

  Ich wollte gerade losgehen, als ich eine Berührung an meinem Arm spürte, die mich zurückhielt. Verblüfft sah ich von der Stelle zu Grace, die mit hochgezogenen Brauen auf die beiden deutete. Zuerst verstand ich nicht, worauf sie hinauswollte, zumal die nächtliche Beleuchtung der Straßenlampen und der wenigen Lichter hinter den Fenstern eher suboptimal war. Doch dann bemerkte ich es: Sie hielten Händchen.

  Überrascht riss ich die Brauen hoch. »Bedeutet es das, was ich denke, dass es bedeutet?«

  »Definitiv.«

  »Na endlich.« Ich schnaubte leise, aber auch irgendwie amüsiert. »Wurde auch Zeit.«

  Sie gluckste. »Ja, oder?«

  Einen Moment lang sahen wir uns nur an, dann räusperte ich mich. »Ich bringe dich rein.«

  Diesmal widersprach Grace nicht und wies mich auch nicht darauf hin, wie unnötig es war, da sich unsere beiden Wohnheime direkt gegenüber standen. Stumm gingen wir nebeneinander her. Ich wusste, dass ich mich am Haupteingang von ihr verabschieden sollte. In der Lobby brannte Licht, und ein paar Kommilitonen kamen gerade aus dem Aufenthaltsraum und steuerten den Fahrstuhl an. Es war klar, dass Grace es ohne Probleme in ihr Zimmer schaffen würde. Aber ich konnte mich noch nicht von ihr verabschieden. Nicht jetzt schon. Also begleitete ich sie bis nach oben.

  In der vierten Etage war es wesentlich ruhiger. Nur aus einem Zimmer drangen gedämpfte Musik und Stimmen, ansonsten war es beinahe gespenstisch still. Kein Wunder, es war schließlich schon weit nach Mitternacht.

  »Du hättest mich nicht heimbringen müssen. Oder bis zur Tür«, fügte sie mit einem angedeuteten Lächeln hinzu und blieb vor besagter Tür stehen.

  »Ich weiß.«

  Sie drehte sich zu mir um, die Schlüsselkarte bereits in der Hand. Zögerte jedoch.

  Ihr Make-up war verschmiert, und dunkle Spuren hatten sich unter ihren Augen gesammelt. Sie war eindeutig müde, schien aber gleichzeitig noch immer von innen heraus zu glühen. Ich wusste nicht, ob es an den Nachwirkungen des Auftritts lag, daran, dass sie sich ihren Ängsten gestellt hatte, oder an diesem ganzen Abend mit den anderen im Club. Doch was es auch war, es machte sie noch schöner, als sie ohnehin schon war.

  »Grace …« Ich trat einen halben Schritt auf sie zu, hielt dann jedoch inne. Denn was genau wollte ich damit erreichen? Was wollte ich tun? Sie küssen? Das durfte ich nicht. Sie umarmen? Das konnte ich nicht. Denn wenn ich es tat, würde ich sie nicht mehr loslassen können. Zumindest nicht in dieser Nacht.

  Also stoppte ich mich, bevor etwas passierte, das wir beide bereuen würden. Ich schluckte hart und zwang mich dazu, zurückzutreten. Erst einen Schritt, dann noch einen.

  »Du warst heute echt unglaublich.« Ich räusperte mich, damit meine Stimme nicht mehr so verdammt rau klang.

  »Du auch«, wisperte sie, ohne meinen Blick loszulassen. »Nächstes Mal singen wir einen von deinen Songs.«

  Mir stockte der Atem. »Nächstes Mal? Heißt das, du bleibst in der Band? Und der Wettbewerb …?«

  Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Ja.«

  Ich dachte nicht mehr nach. Ich ging zu ihr, legte die Hände an ihre Wangen und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Aber statt mich sofort wieder von ihr zu lösen, wie ich es tun sollte, rührte ich mich nicht. Grace hatte die Finger um meine Handgelenke geschlossen, doch auch sie bewegte sich nicht.

  Sekundenlang verharrten wir so, viel zu nahe beieinander, als dass es noch in irgendeiner Form freundschaftlich sein könnte. Und das war es auch nicht. Grace war mittlerweile so viel mehr für mich als eine bloße Freundin, Kommilitonin oder Bandkollegin. Viel mehr, als ich in Worte fassen könnte. Aber ich würde einen Song finden, der es konnte.

  »Ich sollte jetzt besser gehen.« Ich musste mich dazu zwingen, diese Worte auszusprechen.

  Weil es das einzig Richtige war. Das Einzige, was wir tun konnten.

  Sie nickte kaum merklich und löste einen Finger nach dem anderen von meinen Handgelenken.

  Ich holte tief Luft, atmete ein letztes Mal ihren Duft ein, dann ließ ich sie los und wich Stück für Stück zur
ück, bis ich mit dem Rücken gegen die gegenüberliegende Wand stieß. Doch nicht einmal das brachte mich dazu, sofort von hier abzuhauen, obwohl ich genau das tun sollte.

  »Gute Nacht, Prinzessin.«

  Ihre Mundwinkel hoben sich. »Gute Nacht, Maze.«

  Ein letzter, viel zu intensiver Blick, dann wandte sie sich ab, öffnete mit der Schlüsselkarte die Tür und verschwand in ihrem Zimmer, während ich noch eine gefühlte Ewigkeit unbeweglich stehen blieb und auf das dunkle Holz starrte.

  Kapitel 15

  Mason

  Nachdem ich Samstag erst irgendwann in den Morgenstunden ins Bett gekommen war, verbrachte ich den Sonntag größtenteils mit meiner Gitarre, dem Laptop und hingekritzelten Liedzeilen in meinem Zimmer. Der Proberaum war dieses Wochenende durchgängig belegt, also blieb mir nur mein Zimmer, um an meinen Songs zu arbeiten. Emery schien sich nicht daran zu stören. Offenbar wollte sie sich ebenfalls den ganzen Tag über zu Hause verkriechen. Und das, obwohl sie allein war. Dylan war schon wieder verschwunden, als ich ins Bett ging. Vermutlich zur Arbeit, um die hunderttausendste Nachtschicht in diesem Jahr zu schieben. Wie er dabei wach bleiben und daneben noch sein Studium, regelmäßigen Sport, die Besuche im Pflegeheim bei seiner Ersatzgroßmutter und Zeit mit seiner Freundin in seinen Tag gequetscht bekam, würde ich niemals kapieren.

  Die neue Woche begann wie immer. Mittlerweile hatte ich mich an meinen neuen Stundenplan gewöhnt, aber die Müdigkeit vom Wochenende blieb nach wie vor. Vielleicht hätte ich nicht bis nach Mitternacht aufbleiben und an diesen verdammten Texten arbeiten sollen. Ich wusste, dass ich ganz kurz vor dem Durchbruch war. Ich konnte es spüren. Aber die richtigen Wörter zur Melodie wollten mir noch immer nicht einfallen.

  Kaffee und Energydrinks brachten mich durch den Tag, sodass ich in der letzten Vorlesung geistig total erschlagen, körperlich jedoch superwach war, am Rande zu völlig aufgedreht. Ich spielte mit dem Kuli zwischen meinen Fingern herum wie Pax sonst immer mit seinen Sticks, und machte mit ziemlicher Sicherheit all meine Sitznachbarn wahnsinnig. Aber ich konnte einfach nicht still sitzen. Grace saß zwei Reihen vor mir neben Myung-hee. Sie hatte mir beim Hereinkommen zugelächelt, mir seither aber keinen weiteren Blick geschenkt. Nicht, dass ich das erwarten würde. Schon gar nicht nach Samstagnacht. Wobei, wenn man es genau nahm, war gar nichts zwischen uns vorgefallen. Wir hatten miteinander getanzt. Ich hatte sie nach Hause gebracht. Wir hatten Gute Nacht gesagt. Ende der Geschichte.

 

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