Vielleicht sollte ich eifersüchtig sein, dass sie ausgerechnet mit Jesse hier war, schließlich hatte der sich bis vor Kurzem auch ständig an Emery rangemacht, aber in Wahrheit war ich einfach nur froh. Froh für Grace, dass sie sich auch mit den anderen Mitgliedern der Band angefreundet hatte. Froh, dass sie eine Gemeinsamkeit mit Jesse gefunden hatte und außerhalb unserer festen Termine mit ihm probte. Freiwillig, wo sie doch am Anfang des Semesters noch nicht einmal hatte singen wollen. Aber vor allem war ich erleichtert, dass sie nach dem Desaster unseres letzten Auftritts doch noch den Mut gefunden hatte, an ein Mikro zu treten und zu singen.
Das Medley endete mit einer langsamen, sehnsüchtigen Note. Grace’ Stimme verklang, gleich darauf auch die letzten Keyboard-Töne. Als sie die Augen öffnete, sah sie mich geradewegs an. Mir wurde gleichzeitig heiß und kalt. Aber es war der überraschte, fast schon reumütige Ausdruck in ihrem Gesicht, der bewirkte, dass sich etwas in mir schmerzhaft zusammenzog. Weil ich in diesem Moment erkannte, dass sie nicht meinetwegen hier war.
Ich betrat den Proberaum und begrüßte die beiden mit einem knappen Nicken, dann machte ich mich daran, die Gitarre auszupacken. Ich spürte ihre Nähe vielmehr, als dass ich ihre Schritte hörte.
»Mason …«
Ich schloss die Augen. Atmete tief durch. Dann richtete ich mich wieder auf und drehte mich zu ihr um. »Was machst du hier?«
Während der letzten beiden Proben war sie schließlich auch nicht aufgetaucht. Sie hatte die Band einfach ohne ein Wort, ohne eine Erklärung verlassen.
»Jesse hat mich gebeten, wenigstens bis zum Wettbewerb dabeizubleiben.«
»Ach, und auf ihn hörst du?«
Sie presste die Lippen aufeinander, erwiderte jedoch nichts darauf. Musste sie auch nicht. Ihr Gesicht sagte mehr als genug. In ihren Augen konnte ich so viele verschiedene, so viele widersprüchliche Gefühle lesen, dass es mich innerlich zerriss. Ich wollte sie fragen, warum zum Teufel sie das mit uns beendet hatte. Warum sie einfach bei der ersten Schwierigkeit aufgab, statt weiterzumachen. Statt für uns zu kämpfen oder wenigstens mit mir darüber zu reden. Die Worte waren alle da, wirbelten in meinen Gedanken herum, doch mir kam kein einziges davon über die Lippen. Und da war noch immer so viel Wut. Wut und Enttäuschung. Verdammt, wir sollten doch ein Team sein, oder nicht? Ich hätte alles stehen und liegen gelassen, um ihr zu helfen, wenn sie zu mir gekommen wäre. Vor dem Auftritt. Danach. Ganz egal, wann. Aber sie hatte mich einfach ausgeschlossen und vor vollendete Tatsachen gestellt. Genau wie Jenny. Bei der Erinnerung breitete sich ein bitterer Geschmack in meinem Mund aus, und ich biss die Zähne zusammen.
Einen viel zu langen Moment hielt Grace meinen Blick fest, dann wirbelte sie herum. Ohne zu mir zurückzusehen, ging sie zum Standmikrofon zurück und nahm ihre Position wieder ein.
Ich schloss die Augen und seufzte. Diese Frau trieb mich noch in den Wahnsinn. Ein Teil von mir war erleichtert. Und so verdammt stolz auf sie, auch wenn sie sicher nichts davon ahnte. Und ein weiterer Teil war noch immer so verflucht wütend. Aber ich tat mein Bestes, es sie nicht merken zu lassen. Nachdem schließlich auch Kane und Pax zu uns gestoßen waren, die nicht minder überrascht wirkten als ich, sich jedoch jeden Kommentar verkniffen, begannen wir mit der Probe. Wir spielten uns ein und übten all die Songs, die wir für die Vorrundenauswahl am Samstag brauchen würden. Und als wir fertig waren, übten wir sie noch mal. Und noch mal. Bis es so spät wurde, dass unser Raum der einzige im ganzen Gebäude war, in dem noch Licht brannte.
Erst als uns allen die Augen zu- und die Arme beinahe abfielen, machten wir Schluss. Wir waren gut, aber noch lange nicht so gut wie beim Open-Air-Konzert. Und wenn wir in der Vorrunde dieses Wettbewerbs weiterkommen wollten, mussten wir noch besser werden.
Wir packten unsere Sachen, und in kürzester Zeit hatten sich alle auf den Heimweg gemacht. Ich schaltete das Licht aus und schloss den Raum ab, dann beeilte ich mich, nach draußen zu kommen. Ich wollte Grace einholen, wollte noch mal ganz in Ruhe mit ihr reden. Denn wenn es eine Chance gab, dass sie wieder mit der Band auftrat, gab es vielleicht auch noch eine Chance für sie und mich. Aber als ich aus dem Gebäude kam, war nichts mehr von ihr zu sehen. Sie musste sich sofort auf den Weg ins Wohnheim gemacht haben.
»Verdammt!« Ich fuhr mir durch das Haar und atmete tief durch.
Es war noch nicht vorbei. Und wenn ich mich beeilte, würde ich noch vor dem Auftritt mit dem Song fertig werden. Tate war schon eingeweiht und wartete nur noch auf mich. Also würde ich jetzt auch genau das tun. Ich würde meine ganze Konzentration in diese Lyrics stecken und das tun, was ich monatelang vor mir hergeschoben hatte. Ich würde Tate den Song für ihre Radiosendung geben. Sicher, es war nur ein Campusradio und ihre Sendung lief irgendwann spätabends, aber das änderte nichts daran, dass Menschen meine Musik hören würden. Dass sie den Song hören würde. Wenn es einen Menschen gab, für den ich all meine Bedenken beiseiteschieben und über meinen eigenen Schatten springen würde, dann war es Grace.
Ich konnte nur hoffen, dass es noch nicht zu spät war.
Kapitel 26
Grace
Jeder Muskel in meinem Körper tat weh, als ich Freitagabend auf meinem Bett lag. Nicht darin, wohlgemerkt, weil Emery noch vorbeikommen und irgendwelche Mitschriften von mir haben wollten, da sie in Französisch nicht aufgepasst hatte. Was bedeutete, dass ich wach bleiben musste, obwohl ich völlig erledigt war. Meine Beine zitterten noch immer von dem Workout, das ich im Fitnesscenter auf dem Campus absolviert hatte. Ein auf mich abgestimmtes Zirkeltraining, das Mom mir schon vor ein paar Wochen geschickt hatte, danach noch ein paar Bauch-Beine-Po-Übungen und dreißig Minuten auf dem Laufband. Ich hatte jede einzelne Sekunde davon gehasst, es aber trotzdem durchgezogen. Und jetzt lag ich hier und versuchte, die Nachwirkungen des Trainings ebenso zu ignorieren wie meinen knurrenden Magen.
Aber wenn ich nicht an diese Dinge dachte, musste ich automatisch an die Bandprobe am Mittwoch zurückdenken. An das Wiedersehen mit Mason. Tagelang war ich ihm aus dem Weg gegangen. Ich hätte auch all seine Nachrichten und Anrufe auf meinem Handy ignoriert, nur dass bis heute nie welche gekommen waren. Dafür war ich sogar so weit gegangen, mittags nicht bei ihm und den anderen zu sitzen, sondern mich mit Myung-hee an einen anderen Tisch zu verziehen, der so weit wie möglich entfernt war. Und ich hatte Emerys Einladung zu einem Filmabend ausgeschlagen, obwohl dieser in der WG von Luke, Dylan und Trevor stattfinden würde. Wo es auch die Katze gab und Mason aufgrund seiner Allergie mit Sicherheit nicht allzu lange bleiben würde. Aber allein die Vorstellung, Mason wieder gegenüberzutreten, war zu schmerzhaft. Ganz besonders, wenn ich nicht sicher sein konnte, ob er und Jenny nicht längst wieder zusammen waren. Die beiden hatten schon so viele Pausen eingelegt, und das hier war mit Sicherheit nur eine davon gewesen. Wieso sollten sie jetzt also nicht schon wieder ein Paar sein? Es war ja nicht so, als hätte Mason sich nach Samstag noch irgendwie um mich bemüht oder mir auch nur eine einzige Nachricht geschrieben.
Bei diesen Gedanken drehte sich mir der Magen um. Und obwohl er eindeutig leer war, spürte ich Übelkeit in mir aufsteigen. Ich wollte nicht nur eine Abwechslung für Mason gewesen sein. Nicht nur ein kleines Abenteuer, bevor er zur Liebe seines Lebens zurückkehrte. Aber genau das war ich gewesen. Besser, ich erkannte das früher als später.
Seufzend drehte ich mich auf die Seite und ließ meinen Blick durch das halbdunkle Zimmer schweifen. Aber auch das lenkte mich nicht von meinen kreisenden Gedanken und meinem schmerzenden Körper ab. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und streckte die Hand nach meinem Smartphone auf dem Nachttisch auf. Es war schon nach elf. Irgendwann musste Emery doch endlich mal hier auftauchen, oder nicht?
Genau in diesem Moment piepte das Gerät mit einer neuen Nachricht. Kurzzeitig beschleunigte sich mein Puls. Hoffnung war eine trügerische Emotion. Sie gaukelte einem etwas Schönes vor, lockte einen damit, nur um dann wieder zu verpuffen, weil diese Sache doch nie eintreffen würde. Ich hielt die Luft an, doch als ich auf das Display sah, stieß ich sie seufzend wieder aus. Die neue Na
chricht war nicht von Mason, sondern von Emery.
Schalte das Campusradio ein! Jetzt!
Was? Wieso? Ich runzelte die Stirn, tat aber, was sie von mir verlangte, öffnete die Radio-App auf meinem Handy und suchte den richtigen Sender. Dann legte ich das Gerät zurück auf den Nachttisch und starrte wieder an die Decke.
Gerade wurde etwas von Halsey gespielt. Ich erkannte ihre Stimme sofort, wenn auch nicht das Lied. Allerdings endete es nach wenigen Sekunden, und zu meiner Überraschung ertönten die ersten Klänge einer Melodie, die mir vertraut war. Cry to Me von Solomon Burke. Die Musik, zu der Mason so albern im Proberaum getanzt hatte – und ich mit ihm. Ich konnte gar nicht anders, als bei der Erinnerung zu lächeln, auch wenn sich ein wehmütiges Ziehen in meiner Brust meldete. Es würde nie mehr so unbeschwert zwischen uns sein wie damals …
Das nächste Lied ließ mich leise kichern. A Teenager in Love von Dion & The Belmonts. Dieser Song war so übertrieben und gleichzeitig so typisch Mason. Doch mein Grinsen wurde schwächer, als gleich darauf die vertraute Melodie von Pretty Woman begann. Ich schloss die Augen und seufzte tief.
In Gedanken war ich wieder im Waschraum, bei der Schaumparty, und anschließend in seinem Zimmer. Ich konnte sein Lächeln so deutlich vor mir sehen und seine Lippen auf meinen spüren, dass meine Augen zu brennen begannen. Gott, warum tat er mir das an? Warum ließ er mich all diese Lieder hören? Er musste Emery und Tate in die Sache eingespannt haben, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was er damit erreichen wollte. Es fühlte sich so an, als würde jemand immer wieder in einer offenen Wunde herumstochern.
Ich drehte mich auf die Seite und streckte die Hand aus, um die App auszuschalten, weil ich es nicht länger ertrug, hielt dann jedoch mitten in der Bewegung inne.
»Okay, genug von den Oldies.« Das war Tates Stimme. »Zeit für etwas Modernes. Ich habe heute die Ehre, etwas ganz Neues auflegen zu dürfen. Ich bin sicher, ihr habt seine Stimme schon das eine oder andere Mal bei Waiting for Juliet gehört. Hier ist er ganz allein mit seiner ersten Solonummer: Mason Lewis!«
Mein Herz begann zu rasen, als ich die ersten Töne wahrnahm, und ich setzte mich ruckartig auf. Das konnte nicht sein … Das konnte nicht …
Es war der Song. Sein Song. Unser Song.
Masons Stimme war unverkennbar, warm und klar und ging mir wie jedes Mal sofort unter die Haut. Ich schloss die Augen, um mich ganz auf diesen Klang konzentrieren zu können. Mindestens ebenso vertraut waren mir die Worte, die er sang, da ich sie unzählige Male gelesen hatte. Und weil wir die meisten davon zusammen geschrieben, sie hin- und hergeschoben und mit ihnen gespielt hatten, bis wir die ideale Abfolge gefunden hatten.
Als er zum Refrain kam und das Lied an Tempo und Leidenschaft aufnahm, kribbelte meine Nasenspitze, und ich musste mehrmals tief durchatmen, um die Tränen zurückzuhalten. Trotzdem rollten sie mir aus den Augenwinkeln. Ich wischte sie nicht weg, weil ich es nicht wagte, mich zu bewegen, aus Angst, ein Geräusch zu verursachen und eine Millisekunde der Musik zu verpassen. Es war der erste Song, an dem wir gemeinsam gearbeitet hatten. Und gleichzeitig auch der letzte.
Mason hatte ihn beendet. Er hatte die richtigen Worte gefunden und die Musik aufgezeichnet. Es war ein herzzerreißendes Stück, das noch viel schöner klang, als ich es in Erinnerung hatte. Obwohl schön nicht mal ansatzweise ausreichte, um zu beschreiben, was das Lied in mir auslöste.
Und obwohl ich die Zeilen so oft gelesen hatte, dass ich sie auswendig kannte, hatte ich sie nie auf ihn und mich bezogen. Doch plötzlich passte jedes Wort auf uns. Auf das, was uns verbunden hatte. Auf das, was uns noch immer miteinander verband, auch wenn ich mir so viel Mühe gegeben hatte, dieses Band zu zerschneiden.
Es tat weh. Jeder Atemzug und jeder einzelne Gedanke tat weh. Gleichzeitig war ich so unglaublich stolz auf ihn, dass ich ihn sofort sehen und ihm um den Hals fallen wollte. Ich wollte ihn küssen und um Verzeihung bitten und ihm sagen, dass ich einen riesengroßen Fehler gemacht hatte. Aber das hatte ich nicht. Denn an den Umständen hatte sich nichts geändert. Das hier war nie unsere Liebesgeschichte gewesen. Wir waren nur ein Funken von etwas gewesen, das es nie hatte geben dürfen. Und das es nie wieder geben würde.
Als sich der Song dem Ende näherte, hielt ich es nicht mehr aus. Ich wischte mir über die Wangen, zog die Nase hoch und schaltete das Radio aus. Und auch gleich das Handy, damit ich nicht in Versuchung kam, ihm zu schreiben. Damit ich ihm nicht all das sagte, was mir gerade durch den Kopf ging.
Die nachfolgende Stille war unerträglich, aber ich stellte mich ihr, genauso wie ich mich meinen Gefühlen und dem Schmerz stellte. Und der Tatsache, wie sehr ich ihn vermisste. Diesmal kämpfte ich nicht gegen die Tränen an, sondern ließ ihnen freien Lauf, bis mich mein eigenes Schluchzen in den Schlaf wiegte.
Kapitel 27
Grace
Ich war nervös. Nein, das war die absolute Untertreibung. Ich war kurz vor einer Panikattacke. Fühlte sich das so an? Dass man das Gefühl hatte, nicht mehr richtig atmen zu können? Dass man anfing zu schwitzen und das Herz unkontrolliert klopfte? Wie sollte ich in diesem Zustand auf die Bühne gehen und singen? Wie sollte ich in diesem Zustand irgendetwas tun? Noch dazu dröhnte mein Kopf seit dem Aufwachen, als wäre ich verkatert, dabei hatte ich keinen Tropfen Alkohol getrunken. Nach dem Desaster auf dieser Halloweenparty zu Hause in Montana war ich sehr vorsichtig geworden, was Drinks anging.
Die Vorrunde des Bandwettbewerbs fand in einem Theater in Charleston statt. Wir waren alle gemeinsam hingefahren und viel zu früh da. Was uns immerhin genug Zeit gab, um einen ordentlichen Soundcheck zu machen. Und mir ausreichend Zeit, um Lampenfieber zu bekommen.
Mittlerweile waren die anderen teilnehmenden Bands beim Soundcheck. Und obwohl wir so früh dran waren, würden wir als letzte Gruppe auf die Bühne gehen. Was mir noch mehr Zeit gab, um nervös zu sein.
Ich hatte mich auf der Suche nach einem halbwegs ruhigen Ort von der Bühne entfernt und war schließlich in irgendeinem Flur in der Nähe der Umkleiden gelandet. Aber selbst durch die dicken Wände hörte ich gedämpfte Musik und Stimmen. Nicht mehr lange, und es würde losgehen. Wir würden auf die Bühne gehen, ich würde mich ans Mikro stellen und singen. Singen müssen. Dabei hatte ich schon jetzt das Gefühl, keinen Ton hervorbringen zu können. Als ich Mason und die Jungs heute getroffen hatte, war mir die Begrüßung nur krächzend über die Lippen gekommen. Das konnte aber auch an Mason selbst liegen. Ich hatte seinen hoffnungsvollen Gesichtsausdruck gesehen, hatte gemerkt, wie er einen Schritt auf mich zu machen wollte, sich dann aber selbst davon abgehalten hatte.
Ich hatte nicht auf seine Radio-Aktion reagiert. Hatte nichts zu dem Song gesagt, obwohl mir so viel auf der Seele brannte. Aber wenn ich erst einmal anfing, wenn ich den Mund aufmachte und ihm meine Meinung, meine Gedanken dazu und meine Emotionen mitteilte, würde ich nicht mehr aufhören können. Dann würde ich ihm alles sagen. Wie sehr ich ihn vermisste. Wie sehr ich bereute, dass ich ihn so verletzt hatte. Wie sehr ich mir wünschte, die Dinge wären anders. Dass ich nicht so eine verdammte Versagerin wäre, die ihre Freunde in wichtigen Momenten hängen ließ. Dass ich die Richtige für ihn wäre – und nicht das Mädchen, das sich zwischen ihn und Jenny gedrängt hatte.
Aber ich hatte keinen einzigen dieser Gedanken ausgesprochen, sondern war schweigend ins Auto geklettert, ohne ihm einen weiteren Blick zuzuwerfen. Gott, manchmal hasste ich mich selbst.
Was nur noch bestärkt wurde, als ausgerechnet jetzt, während ich auf dem Boden in einem kleinen, abgedunkelten Gang saß, eine weitere von Moms Nachrichten auf meinem Smartphone eintrudelte.
Schätzchen, deine aktuellen Maße gefallen mir immer noch nicht. Und was ist das bitte für ein Gewicht? Wie willst du so zur Miss Winternight gekürt werden? So geht das nicht, Grace. Wir können dieses Desaster nicht erst in den Winterferien kurz vor dem Wettbewerb in Ordnung bringen. Du bist an Thanksgiving zu Hause und danach begleite ich dich zum College, um ein Auge auf dich zu haben, da du das allein ja nicht schaffst. Wie du weißt, ist Miss Winternight ein relativ simpler Co
ntest mit wenig Konkurrenz, trotzdem müssen wir dringend an dir arbeiten. Wieso ist das nur so schwierig für dich? Deine Schwester hatte nie solche Probleme.
Ich wollte darüber lachen, es abtun, doch das Lachen blieb mir in der Kehle stecken. Wir wussten beide, dass Mom lieber Gillian zurückgehabt hätte, aber für den Fall, dass ich es vergaß, erinnerte sie mich regelmäßig daran. Es grenzte an ein Wunder, dass ich meine große Schwester nicht abgrundtief hasste. Eine Zeit lang hatte ich das tatsächlich getan, hatte ihr nach dem Unfall alles an den Kopf geworfen, was sich in den vergangenen Monaten in mir aufgestaut hatte, und jeden Kontakt zu ihr vermieden. Doch dann hatte ich gemerkt, dass sie gar nicht das Problem war. Ich war es. Und unsere Mutter, der es gelungen war, einen Keil zwischen uns zu treiben. Ich hatte Gillian als Erstes von meinen College-Plänen erzählt, und sie war es auch gewesen, die mir bei der Auswahl geholfen und mir mit Tipps zur Seite gestanden hatte. Und jetzt war sie diejenige, an die ich mich wandte.
Obwohl ich keine Ahnung hatte, wie spät es war oder wie viel Zeit ich noch bis zu unserem Auftritt hatte, blieb ich in diesem Gang hocken und hämmerte auf mein Handy ein. Meine Finger flogen über das Display. Ich erzählte ihr alles. Ohne nachzudenken, ohne irgendetwas zu beschönigen. Nur die reine, brutale Wahrheit. Und dann schickte ich die Mail ab, ohne sie vorher noch mal durchzulesen und auf perfekte Rechtschreibung und stilistisch schöne Sätze zu trimmen, wie ich es sonst automatisch immer tat.
Und tatsächlich half es gegen die beginnende Panik. Mein Herz raste noch immer, und meine Atmung war viel zu schnell, aber ich fühlte mich auch ein bisschen leichter. Als hätte ich etwas von dem ganzen Chaos, das in mir herrschte, an meine Schwester abgegeben. Was vielleicht nicht nett war, aber ich war mir sicher, dass sie es mir verzeihen würde.
Ich ließ meinen Blick durch den Gang wandern. Gerahmte Bilder hingen an den Wänden. Fotos von erfolgreichen Aufführungen und Autogramme berühmter Künstler, die hier aufgetreten waren. Irgendwo ging eine Tür auf und fiel gleich darauf wieder zu. Schritte waren zu hören, kamen aber nicht näher.
Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition) Page 36