Ich wollte gerade etwas erwidern, als die ersten Klänge eines vertrauten Songs erklangen. Eines Songs, in den ich mich vom ersten Moment an verliebt hatte. Aber es war nicht derselbe Oldie, sondern ein modernes Cover davon.
Stirnrunzelnd sah ich zu Keith. Noch bevor ich die Frage aussprechen konnte, beugte er sich zu meinem Ohr hinunter. »Holly«, sagte er nur.
Keith verfiel in den wechselnden Rhythmus von You Don’t Own Me von Grace und wirbelte mit mir über die Tanzfläche. Gegen meinen Willen musste ich lächeln. Das war kein typischer Song für solch eine Veranstaltung, dennoch war ich meiner Schwester dankbar. Meine verkrampften Muskeln entspannten sich zunehmend und ich begann diesen Tanz tatsächlich zu genießen. Wer hätte das gedacht?
Während einige andere Paare Schwierigkeiten hatten, der Melodie zu folgen, führte Keith mich mit einer Selbstverständlichkeit über das Parkett, die mir den Atem raubte. Als der Rap-Anteil begann, schob er mich in eine doppelte Drehung und zog mich ruckartig wieder an sich. Zweimal. Dreimal. Bis ich zum Schluss beinahe waagrecht in seinen Armen lag und er sich über mich beugte. Für den Bruchteil einer Sekunde stolperte mein Herz, dann nahmen wir wieder die richtige Tanzhaltung ein. Doch der Sicherheitsabstand zwischen uns hatte sich verflüchtigt.
»Du siehst glücklich aus«, stellte er fest.
»Ich liebe diesen Song.«
»Dabei ist das doch gar nicht Johnny Cash«, neckte er mich.
Ich verzog das Gesicht. »Das ist lange her.«
»Und du stehst immer noch auf ihn, hab ich recht?«
Wie konnte er mich ärgern und dabei gleichzeitig weitertanzen, ohne aus dem Rhythmus zu kommen? Dabei hieß es doch immer, Männer seien nicht multitaskingfähig. Pünktlich zum Refrain führte er mich wieder in eine Drehung und zog mich anschließend an sich. Eine Spur zu fest, denn ich stieß gegen seine Brust und meine Atmung verabschiedete sich gänzlich. Sekundenlang sahen wir uns nur an und etwas veränderte sich in seinem Blick.
»Ich wusste nichts von dieser Spendengala«, sprach ich das Erste aus, was mir in den Sinn kam, um diese plötzliche Intensität zwischen uns irgendwie zu brechen. Stella war diese Veranstaltung so wichtig, und ich hatte nichts davon gewusst, weil ich in den letzten Monaten nicht mal auf die Idee gekommen war, nachzufragen, was bei ihr so los war. »Ganz schön egoistisch, was?«
Keith zögerte. Als er sprach, war seine Stimme warm und leise an meinem Ohr. »Ich habe dich nie für egoistisch gehalten, Callie.«
Ein Schauer kroch über meinen Nacken. »Sondern …?«
»Für sehr entschlossen. Wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt oder dir eine Meinung gebildet hast, gibt es nichts und niemanden auf der Welt, was dich davon abbringen könnte.«
Er lehnte sich etwas zurück, um mich anzusehen. Er musste es nicht aussprechen, damit wir beide wussten, wovon er redete. Oder vielmehr von wem. Seine Hand wanderte etwas höher auf meinem Rücken, weg vom Stoff meines Kleides und wieder auf meine bloße Haut. Diesmal konnte ich meine Reaktion darauf noch weniger kontrollieren als zuvor. Ein heißes Prickeln wanderte meine Wirbelsäule hinab. Gleichzeitig öffnete ich die Lippen, um etwas zu sagen, obwohl ich keine Ahnung hatte, was das sein sollte. Keiths Blick wurde durchdringender. Für den Bruchteil einer Sekunde geriet er aus dem Takt.
»Oder etwa doch?«, fragte er rau.
»Nein.«
Zu schnell. Zu entschlossen. Meine Antwort war alles andere als überzeugend. Ich wollte noch etwas hinzufügen, irgendetwas, um uns beiden zu versichern, dass ich meine Meinung über diesen Kerl nicht ändern würde. Niemals. Völlig egal, wie sehr ich mich körperlich noch immer zu ihm hingezogen fühlen mochte. Was an sich schon lächerlich war. Ich war keine schwärmende Dreizehnjährige mehr, die in ihren Stiefbruder verknallt war, sondern eine fast einundzwanzig Jahre alte Medizinstudentin, die genau wusste, was im menschlichen Körper geschah, wenn die Hormone übersprudelten. Doch das Wissen darum schien nicht zu verhindern, dass sie es taten.
»Bist du sicher?« Provozierend beugte sich Keith näher zu mir hinunter. Mit der einen Hand hielt er meine fest, die andere lag auf meinem nackten Rücken. Es gab keine Möglichkeit, ihm auszuweichen. Keinen Fluchtweg.
Wie von selbst wanderte mein Blick zu seinem Mund, nur kurz, aber er lächelte wissend. Der schnelle Sound von You Don’t Own Me wechselte zu einer langsamen Ballade. Statt sich von mir zu lösen, weil wir unseren Part geleistet und die Gäste zum Tanzen animiert hatten, wechselte Keith problemlos in den trägen Rhythmus. Sein Duft und die Hitze seines Körpers umgaben mich wie ein warmer Sommerabend in Alabama. Ich musste mehr als einmal tief durchatmen, um meine Stimme wiederzufinden. Doch als ich es tat, verschwendete ich keine Zeit, um auf den Punkt zu kommen.
»Glaub nicht, dass ich je vergessen werde, was passiert ist.« Unter meiner Hand an seiner Schulter spürte ich, wie Keith sich versteifte.
»Ich weiß«, erwiderte er nach einem Moment leise. »Und das verlange ich auch nicht von dir.«
»Was dann?« Ich legte den Kopf in den Nacken, um ihn anzusehen. »Warum bist du zurückgekehrt?«
Weshalb war er nach all den Jahren ausgerechnet jetzt wieder hergekommen und stürzte alles um sich herum in ein Chaos? Insbesondere mich.
Keiths Blick war undurchdringlich. Hatte ich schon als Dreizehnjährige nicht in ihm lesen können, so konnte ich es jetzt umso weniger. Nach außen hin wirkte er so lässig und unbekümmert, als wäre er nicht sieben Jahre lang fort gewesen. Als wäre der Unfall nie geschehen. Als würde er nicht die Schuld daran tragen. Doch dann gab es diese seltenen Momente wie in der Bar, als er mir zur Hilfe gekommen war oder jetzt, wenn er die Maske für einen kurzen Moment fallen ließ. Wenn er mir einen Blick hinter die Mauer erlaubte und ich die Zerrissenheit sehen konnte, die sich in seinen Augen widerspiegelte. Aber vielleicht war es auch nur das, was ich sehen wollte. Vielleicht war ich selbst zu gebrochen, um etwas anderes in der Person erkennen zu können, die dafür verantwortlich war.
»Aus verschiedenen Gründen«, antwortete er schließlich und wandte den Blick ab. Er fixierte einen Punkt hinter mir, als könnte er mir nicht länger in die Augen schauen. »Einer davon ist der, dass Mom und Holly mich eingeladen haben.«
Ich stolperte über meine eigenen Füße. Instinktiv packte Keith mich fester und drückte mich an sich, um meinen Sturz zu verhindern. Dabei war meine mögliche Bekanntschaft mit dem Parkettboden das Geringste meiner Probleme.
Holly und Stella hatten ihn eingeladen. Nicht einfach zugestimmt, dass er herkommen und bei uns wohnen durfte. Sie hatten ihn eingeladen. Ihm verziehen und ihn mit offenen Armen in dem Haus empfangen, das mein Vater gekauft hatte. Diesmal blieb ich einfach stehen. Der altbekannte Zorn schlängelte sich wie ein lebendiges Wesen durch meine Adern, fand seinen Weg bis in meine Kehle und schnürte sie mir zu.
»Callie …?« Auch Keith bewegte sich nicht länger zur Musik, sondern betrachtete mich mit besorgt gerunzelter Stirn. »Alles in Ordnung?«
Nichts war in Ordnung. Mein Vater war tot und ich tanzte mit dem Mann, der dafür verantwortlich war. Das Einzige, was schlimmer war als meine Wut auf Keith, war meine Wut auf mich selbst. Wie konnte ich mich ausgerechnet zu dem Mann hingezogen fühlen, der meinen Vater auf dem Gewissen hatte?
Entschieden schob ich Keiths Hände beiseite und trat einen Schritt zurück. Stella und Holly mochten ihn vielleicht hierher eingeladen haben, aber das galt nicht für mich. »Wir sind hier fertig.«
Bevor er etwas darauf erwidern konnte, drehte ich mich um und ließ ihn stehen. Meine Wangen brannten, während ich die musternden Blicke der anderen Gäste auf mir spürte und das leise Tuscheln hörte, doch zum ersten Mal in meinem Leben war es mir egal, was alle anderen dachten. Ich hatte jeden Grund der Welt, Keith zu hassen und nie wieder ein Wort mit ihm zu wechseln. Wenn es nach mir ginge, wäre er nicht einmal hier. Ich wünschte ihm nicht die Pest an den Hals – na gut, ein bisschen schon. Aber vor allem wollte ich nur, dass er weiterhin irgendwo dort draußen war, anstatt ein Teil dieser Familie zu sein. Denn er war derjenige, der diese F
amilie überhaupt erst auseinandergerissen hatte. Warum war ich die Einzige, die sich dessen bewusst war?
Auf dem Weg zurück zu unserem Tisch nahm ich mir ein Glas vom Tablett eines vorbeieilenden Kellners und nippte an der Flüssigkeit, um meine flatternden Nerven zu beruhigen. Als sich der saure Geschmack in meinem Mund ausbreitete, verzog ich das Gesicht. Orangensaft. Natürlich hatte Stella dafür gesorgt, dass alle minderjährigen Gäste nur alkoholfreie Getränke bekamen. Dabei hätte ich gerade jetzt einen Drink vertragen können.
Unser Tisch war leer, als ich dort ankam, aber es dauerte keine fünf Minuten, bis Holly wie aus dem Nichts auftauchte und sich seufzend auf den Stuhl neben mir fallen ließ. »Wow, diesen Tag muss ich mir rot im Kalender anstreichen. Du lebst noch. Und ich meine, Keith irgendwo gesehen zu haben, also lebt er auch noch.« Sie zog einen freien Stuhl heran und legte ihre Beine darauf ab.
»Nicht mehr lange«, murmelte ich und tat es ihr nach. Meine schmerzenden Füße dankten es mir. »Das war eine miese Aktion.« Anklagend deutete ich mit dem Glas auf sie.
Sie zuckte unbekümmert mit den Schultern und klaute sich ein Sektglas vom Tablett eines Kellners, als dieser von einem anderen Gast abgelenkt war. Ich sah mich prüfend um, um sicherzugehen, dass unsere Stiefmutter noch immer anderweitig beschäftigt war, dann nahm ich Holly das Glas aus der Hand und trank selbst einen großen Schluck. Der Sekt prickelte auf meiner Zunge und zog eine heiße Spur meine Kehle hinunter.
»Hey!« Mit einem empörten Aufschrei holte Holly sich ihr Glas zurück. »Kein Alkohol für dich. Du hast Fahrdienst.«
Als ob ich das vergessen hätte. Natürlich hätten auch Stella oder Holly fahren können, aber Stella sollte diesen Abend ungestört genießen können und Hollys Fahrstil traute ich bis heute nicht. Was Keith anging … Eher würde ich mich vor einen Zug werfen, als jemals freiwillig in ein Auto zu steigen, in dem er am Steuer saß. Diesen Fehler hatte ich einmal begangen und würde ihn sicher nicht wiederholen.
Ich nippte an meinem Orangensaft und ließ meinen Blick über die Gäste wandern. Seit Keith und ich die Tanzfläche betreten hatten, war es deutlich voller geworden. Die Leute tanzten, lachten, plauderten und waren noch immer hungrig, wenn man sich die Schlange am Büfett ansah.
Irgendwo zwischen all den Fremden entdeckte ich Stella. Sie stand etwas abseits der Menge, hielt ein Sektglas in der Hand und redete mit einem dunkelhaarigen Mann. Er konnte nicht viel älter als sie sein, höchstens Mitte bis Ende vierzig, und wirkte sehr von ihr angetan. Es verging keine Sekunde, in der er sie nicht anlächelte, während er ihren Erzählungen lauschte. Bei dem Anblick zog sich etwas in meiner Brust zusammen, denn ich erkannte diesen Ausdruck im Gesicht des Mannes. Es war der gleiche Ausdruck mit dem auch Dad sie stets betrachtet hatte. Mit diesem Leuchten in seinen Augen und einer Wärme, die sein ganzes Wesen zum Strahlen brachte.
»Keith hat erzählt, du und Stella hättet ihn hierher eingeladen«, sagte ich, ohne den Blick von meiner Stiefmutter abzuwenden. Meine Stimme war so leise, dass ich nicht einmal sicher war, ob Holly mich gehört hatte. Doch das Räuspern neben mir belehrte mich eines Besseren.
»Das stimmt.« Holly zögerte. Aus dem Augenwinkel registrierte ich, wie sie am Stoff ihres Kleides herumzupfte. »Es ist so lange her, und das ist mein letzter Sommer zu Hause. Ich wollte meine Familie an einem Ort versammelt haben. Meine ganze Familie. Ist das wirklich so verwerflich?«
Ich sah sie an. Ihre Miene war völlig ernst, die Stirn gerunzelt, aber es waren ihre Augen, die mich in diesem Moment jede noch so große Wut in meinem Inneren vergessen ließen, denn sie schimmerten feucht. Keine Krokodilstränen, um irgendetwas zu bekommen, denn die kannte ich zur Genüge von ihr. Diesmal meinte Holly es ernst. Trotz allem, was geschehen war, wollte sie Keith hier haben, bevor sich ihr Leben ein weiteres Mal völlig verändern würde.
Ich schluckte die Bitterkeit in meiner Kehle hinunter. Ich musste ihn nicht willkommen heißen, geschweige denn ihn mögen. Das Einzige, was ich tun musste, war Hollys Wunsch zu respektieren. Und genau das würde ich auch tun – völlig egal, wie sehr Keiths Rückkehr mich aus der Bahn warf.
5
Es war drei Uhr morgens, als wir nach Hause zurückkehrten, und ich entledigte mich als Erstes der teuflischen Schuhe. »Autsch«, murmelte ich, als meine bloßen Füße den Holzboden berührten und die Muskeln in meinen Waden sich wieder dehnen konnten. Nach Stunden in diesen High Heels aus der Hölle fühlte es sich wie der Himmel auf Erden an, sie endlich los zu sein. Ein schmerzender Himmel, aber immerhin ein Himmel. Erst danach folgte meine Jacke, die ich im Flur an die Garderobe hängte.
Es hatte fast eine Stunde gedauert, um Stella davon zu überzeugen, dass wir gehen konnten, obwohl noch vereinzelte Pärchen auf der Tanzfläche hin und her schunkelten. Letzten Endes war es Keith gewesen, der seine Mutter dazu hatte überreden können, nachdem Holly und ich bereits händeringend aufgegeben hatten.
»Ich bin ja so erleichtert!«, rief Stella aufgekratzt, während sie sich aus ihrem Mantel schälte. Er landete lautlos hinter ihr auf dem Boden. »Der Abend war ein voller Erfolg. Ich kann es kaum erwarten, die Spenden zu zählen, die wir gesammelt haben.«
»Geh bitte vorher schlafen, Mom«, kommentierte Holly trocken. Wie ich war sie aus ihren hohen Schuhen geschlüpft und hatte ihre Jacke auf die Garderobe geworfen. »Was ich jetzt auch tun werde. Danke fürs Heimfahren, Callie, und gute Nacht.«
Einen Moment lang sah ich ihr nach, während sich jede Faser meines Körpers danach sehnte, das Gleiche zu tun. Schlafen. Aber zuvor mussten wir Stella ins Bett schaffen. Anscheinend hatte sie aufgrund ihrer Nervosität ein paar Drinks zu viel getrunken. Oder sich ein bisschen zu sehr über den Erfolg des Abends gefreut.
Während ich ihren Mantel vom Boden aufhob und aufhängte, schlang meine Stiefmutter die Arme um Keiths Hals. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, fiel ihre Umarmung fester aus, als ihm angenehm war. »Ich bin so froh, dass du zurück bist. Wir haben dich vermisst«, wisperte sie.
Ich erstarrte in meiner Bewegung. Ich wusste, dass ich nicht zu ihm sehen sollte, aber ich konnte nicht anders. Als ich den Kopf hob, trafen sich unsere Blicke. Uns war beiden bewusst, dass Stella die Wahrheit sagte. Ich mochte Keith nicht vermisst, sondern ihn in die Hölle gewünscht haben, aber seiner Mutter hatte er gefehlt. Stella hätte zusammen mit ihm wegziehen können, irgendwohin, wo sie beide ein neues Leben beginnen konnten. Stattdessen war sie hiergeblieben. Bei Holly und mir. Das war etwas, das ich nie vergessen würde.
»Schon gut, Mom.« Beruhigend strich Keith ihr über den Rücken. »Ich bin ja jetzt da.«
Schuldgefühle begannen sich in mir auszubreiten, obwohl sie dort überhaupt nichts zu suchen hatten. Ich war schließlich nicht der Grund, aus dem Keith damals gegangen war. Ich hatte ihn nicht dazu gezwungen, zu seinem Vater zu ziehen und nie wieder einen Fuß in diese Stadt zu setzen. Das war ganz allein seine Entscheidung gewesen.
Seufzend löste Stella sich von ihm, jedoch nicht, ohne ihm mütterlich die Wange zu tätscheln. »Ich hoffe, du bleibst mir diesmal länger erhalten.«
Ich räusperte mich und trat einen Schritt auf sie zu. »Na komm. Ich bringe dich ins Bett.«
»Oh, Callie!« Sie schlang einen Arm um mich und riss mich beinahe zu Boden. »Vielen Dank, dass du mitgekommen bist. Es war so ein schöner Abend!«
Ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht zu grinsen. Morgen würde ihr dieser kleine Anfall von Trunkenheit peinlich sein, aber ich fand sie irgendwie niedlich. So glücklich, gelöst und sentimental hatte ich sie schon ewig nicht mehr erlebt. Genau genommen nicht mehr seit … Dad. Der Gedanke an ihn versetzte mir einen Stich in die Brust.
Ich biss die Zähne zusammen und führte Stella an Keith vorbei in Richtung des großen Elternschlafzimmers. Dieser Raum war der einzige, den sie nach Dads Tod umdekoriert hatte. Als ich damals aus dem Krankenhaus gekommen war, hatte sie bereits alles umgestellt. Das Bett ans Fenster gerückt, eine Wand in einem warmen Braunton gestrichen, die Kommode verrückt und einen Lesesessel hineingestellt. Damals hatte ich nicht begreif
en können, wie sie meinen Vater so schnell aus ihrem Leben hatte streichen können. Doch heute glaubte ich sie zu verstehen. Sie hatte die Erinnerungen an ihn nicht ertragen können. Nicht hier. Nicht in diesem Raum, der ihnen ganz allein gehört hatte. Denn mit jeder schönen Erinnerung wurde ihr nur umso deutlicher bewusst, was sie verloren hatte.
Wir gingen alle unterschiedlich mit dem gleichen Schmerz um und waren uns dabei doch gar nicht mal so unähnlich. Ich war nach der Highschool nur noch selten nach Hause zurückgekehrt. Sie hatte ihr Schlafzimmer auf den Kopf gestellt. Erinnerungen, die einem nicht mehr täglich vor Augen standen, wurden erträglicher – oder ließen sich ganz ausblenden. Keine Erinnerung, kein Schmerz.
»Soll ich dir mit dem Kleid helfen?«, fragte ich leise, sobald wir neben ihrem Bett standen. Ganz automatisch hatte ich die Stimme gesenkt, obwohl es dafür keinen Grund gab. Doch auch wenn das Schlafzimmer völlig anders aussah als früher, spürte ich die Präsenz meines Vaters noch immer. Wie Stella all die Jahre weiterhin hier hatte leben können, in diesem Haus und in dieser Stadt, ohne vor Trauer verrückt zu werden, war mir ein Rätsel. Ich verstand ja nicht einmal, wie ich es geschafft hatte, bevor ich aufs College geflohen war.
»Ja, bitte.« Etwas schwankend setzte sie sich aufs Bett und drehte mir den Rücken zu, damit ich den Reißverschluss für sie öffnen konnte. »Danke, Liebes.« Statt aus ihrem Kleid zu schlüpfen, drehte sie sich wieder zu mir um. Dabei lag ein so liebevoller Ausdruck auf ihrem Gesicht, dass etwas in mir umgehend Alarm schlug. »Ihr seid alle so erwachsen geworden. Es fühlt sich an, als hätte ich nur einmal geblinzelt, und aus dem Mädchen mit den Zöpfen, das kreischend durch den Garten rannte, ist eine wunderschöne junge Frau geworden. Klug und stark und unabhängig.« Sie strich mir in einer so mütterlichen Geste über das Haar, dass es mir die Kehle zuschnürte. »Dein Vater wäre so stolz auf dich.«
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