Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us

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Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us Page 16

by Iosivoni, Bianca


  Keiths Finger schwebten über der Klaviatur. Nicht hektisch, sondern langsam, als würde er nur über die Tasten streicheln, statt darauf herumzuhämmern, wie Holly es immer tat. Ihre Spielweise verursachte mir, und sicherlich auch dem Klavier, körperliche Schmerzen. Im Vergleich dazu war die Art, wie Keith spielte, eine einzige Liebkosung.

  Ausgerechnet jetzt kamen mir Stellas Worte wieder in den Sinn. Denkst du nicht, du hast ihn lange genug bestraft?

  Ich biss mir auf die Unterlippe, denn ich kannte die Antwort auf diese Frage nicht. Vielleicht wollte ich sie auch einfach nicht kennen, denn um ehrlich zu sein, machte sie mir Angst.

  In der Dunkelheit war sein Gesicht kaum auszumachen, aber ich meinte, ein Stirnrunzeln erkennen zu können, als er dieselbe Stelle noch einmal widerholte und auch beim zweiten Mal daran scheiterte. Dabei konnte das wirklich nicht so schwer sein. Mein Gefühl sagte mir, er müsste ein dreigestrichenes H statt einem C spielen. In meinem Kopf ging die Melodie bereits weiter, ungeachtet dessen, ob ich sie schon einmal gehört hatte oder nicht.

  Als hätte Keith meinen stummen Vorschlag gehört, versuchte er es wieder, diesmal allerdings ganz von vorne. Die Klänge erfüllten die Luft wie eine warme Sommerbrise. Am liebsten hätte ich die Augen geschlossen und mich ganz der Melodie hingegeben, mich von ihr forttragen und an einen friedlichen Ort bringen lassen. Doch dann versaute Keith schon wieder diese eine Stelle. Ich unterdrückte ein Knurren. Jeder Gedanke an einen Schluck Wasser war vergessen. Bevor ich mich versah, ging ich die Treppe hinunter und betrat das Wohnzimmer.

  Keith zuckte zusammen, als hätte er mich erst jetzt bemerkt. Ich spürte seinen forschenden Blick auf mir, als ich mich wortlos neben ihn auf die Bank setzte und meine Finger auf die Tasten legte. Ein Kribbeln schoss bei der Berührung meinen Arm hinauf und breitete sich in meinem ganzen Körper aus. Es war Jahre her, seit ich das letzte Mal gespielt hatte. Mom und Dad hatten es immer geliebt, mir dabei zuzuhören. Nach Moms Tod hatte ich mich sogar regelrecht in die Musik geflüchtet. Seit dem Tod von Dad hatte ich jedoch kein Instrument mehr angerührt. Zuerst, weil mein gebrochenes Handgelenk es nach dem Unfall nicht zugelassen hatte. Später, weil nicht einmal die Musik gegen meinen Schmerz ankam.

  In meinen Gedanken erklang die Melodie, die Keith zu spielen begonnen hatte. Wie von selbst reihten sich weitere Noten an das Stück und vervollständigten es. Meine Finger führten nur die Befehle meines Kopfes aus, während ich mich selbst zum ersten Mal seit so langer Zeit in der Musik verlor. Ich hatte ganz vergessen, was für ein berauschendes Gefühl es war, wenn die ganze Welt plötzlich stillstand. Wenn jeder Gedanke verstummte und es nur noch dich und die Musik gab.

  »Woher kennst du die richtigen Noten?« Keiths Stimme klang rau und viel zu nahe.

  Meine Hände erstarrten. Ich riss die Augen auf und wandte ihm das Gesicht zu. Hatte ich vorhin kaum etwas aufgrund der Dunkelheit und Entfernung erkennen können, sah ich jetzt zu viel. Zu viele Details, die fremd und gleichzeitig ebenso vertraut waren wie diese Melodie. Seine Augen waren genauso dunkel wie die Nacht, seine Atmung unregelmäßig und abgehackt. Er trug ein T-Shirt, dessen Farbe ich nicht ausmachen konnte, und eine Jeans. Bedeutete das, dass er gar nicht erst versucht hatte, schlafen zu gehen, obwohl er vorhin so erledigt ausgesehen hatte? Oder war er aufgestanden, weil er es, genau wie ich, nicht länger in seinem Zimmer ausgehalten hatte?

  »Tu ich nicht«, gab ich zurück und wollte meine Hände bereits zurückziehen, doch Keith packte mein Handgelenk und schüttelte unmerklich den Kopf.

  »Spiel weiter.«

  »Ich weiß nicht, wie es weitergeht«, flüsterte ich. Die Doppeldeutigkeit brannte genauso zwischen uns wie seine Finger auf meiner Haut.

  Ohne den Blick von mir abzuwenden, platzierte Keith meine Hand wieder auf dem Klavier. Dann ließ er mich los und stützte sich hinter mir auf der Bank ab, während die Finger seiner anderen Hand über die Tasten glitten. Er spielte einfach weiter, als hätte es die schwierige Stelle nie gegeben, und nach ein paar Sekunden fiel ich ein und übernahm die hohen Noten. Jetzt erkannte ich auch endlich das Lied. Es war ein Stück von Paul Cardall, das ich vor langer Zeit einmal gehört hatte, und das mich heute wie damals verzauberte.

  Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass ich die Augen erneut geschlossen hatte, bis ich sie wieder aufriss und in die Dunkelheit vor mir starrte. Die Melodie war zu Ende, doch das war es nicht, was mir wie ein Stromstoß durch den Körper gefahren war. Meine Hände lagen noch immer auf dem Klavier und zitterten ein bisschen, als würden sie sich daran erinnern, wie lange es her war, seit sie zuletzt die kühlen, glatten Tasten hatten berühren dürfen. Und in meinem Rücken spürte ich Keiths Arm, der sich sanft gegen mich drückte. Die Wärme löste ein Prickeln auf meiner Haut aus, aber sie war nichts gegen das Gefühl, das mich durchfuhr, als er nun den Arm ein wenig hob und mit den Fingerspitzen über einen Streifen nackter Haut auf meinem unteren Rücken strich.

  Ich schnappte unwillkürlich nach Luft. Keith musste es merken. Selbst wenn er keinen Funken Gefühl in seinen rauen Fingerspitzen hatte, müsste er gemerkt haben, wie ich mich neben ihm verspannte … doch er zog seine Hand nicht zurück. Ich starrte noch immer geradeaus, versuchte mich an irgendetwas festzuhalten, während seine Finger über meine Haut strichen. Genau dort, wo sich der Stoff meines Tanktops und meiner Schlafshorts treffen sollten, es aber nicht taten.

  Meine Lider begannen zu flattern, aber ich riss sie mit Gewalt wieder auf. Dummer Körper. Dumme Hormone. Und dummes Herz, das noch genauso schnell schlug wie das der Dreizehnjährigen, die bis über beide Ohren in ihren Stiefbruder verknallt gewesen war.

  »Hör auf …«, wisperte ich.

  Seine Finger verharrten einen Atemzug lang, dann wanderten sie weiter. Weg von meiner bloßen Haut, dafür höher, Zentimeter für Zentimeter meine Wirbelsäule hinauf.

  »Sag das noch mal«, raunte er viel zu dicht an meinem Ohr. »Und diesmal so, dass ich es dir abkaufe.«

  Ein heißer Schauer wanderte durch meinen Körper und die Härchen auf meinen Armen und in meinem Nacken stellten sich auf. Ich sollte aufstehen, seine Hand wegschieben, ihm gehörig die Meinung sagen und von hier verschwinden. Zurück in mein Zimmer gehen und dort die Tür verriegeln, um mich selbst davon abzuhalten, wieder Keiths Nähe zu suchen. Aber ich tat nichts dergleichen. Meine Gliedmaßen ignorierten die gebrüllten Befehle meines Verstands und ich blieb sitzen. Bewegungslos. Weil ein verdammter Teil von mir die Berührung genoss, ganz egal wie winzig sie war. Oder wie verboten.

  Diesmal wehrte ich mich nicht dagegen, als meine Augen langsam zufielen. Ich ließ es zu, gab mich ganz diesen verrückten Empfindungen hin, die ein simples Streicheln in mir auslöste. Warum hatte ich nicht so heftig auf meinen Exfreund reagiert? Oder auf irgendeinen anderen Mann, der mich je auf diese Weise berührt hatte?

  Warmer Atem streifte meinen Hals. Ich zog meine Hände von den Tasten und ballte sie auf meinen Oberschenkeln zu Fäusten. Nicht, weil Keiths Nähe Aggressionen in mir auslöste, wie sie es eigentlich tun sollte, sondern um mich selbst davon abzuhalten, nach ihm zu greifen. Mich zu ihm zu drehen und mehr von dem einzufordern, was auch immer er hier tat. Mittlerweile hatten seine Finger meinen Nacken erreicht und er rieb mit dem Daumen über die Stelle, die ständig angespannt war. Doch unter seiner Berührung lockerten sich meine Muskeln so selbstverständlich, als hätte er ein verdammtes Zertifikat als Physiotherapeut.

  Obwohl ich wusste, dass es ein monumentaler Fehler war, öffnete ich die Augen und drehte mich zu ihm um. Wenn man es genau nahm, war es schon ein Fehler gewesen, herunterzukommen und mich neben ihn ans Klavier zu setzen. Aber ihn jetzt auch noch anzusehen und die Hitze in seinem Blick zu erkennen? Was auch immer ich hatte sagen wollen, geriet in Vergessenheit. Dafür zog sich mein Unterleib zusammen und etwas begann in meiner Brust zu flattern, das ich schon eine Ewigkeit nicht mehr dort gespürt hatte. Sieben Jahre lang, um genau zu sein.

  Ein letztes Mal strich Keith mit dem Daumen über meine Haut, dann legte er seine Hand warm und fest in meinen Nacken. Sein Blick wanderte von me
inen Augen zu meinem Mund und verharrte so lange dort, bis ich mir auf die Unterlippe biss, weil ich nicht wusste, wohin mit all den Empfindungen, die er in mir auslöste. Fast im selben Moment drang ein tiefer Laut aus seiner Kehle, der wie ein Knurren klang, und er sah mir wieder in die Augen.

  »Du hast keine Ahnung, was du mit mir machst …«, murmelte er heiser.

  Was ich mit ihm machte? Es müsste heißen, was er mit mir machte. Denn ich wusste längst nicht mehr, wo mir der Kopf stand.

  »Du machst mich verrückt, Callie. Du bist …«

  Die Worte hingen unausgesprochen zwischen uns in der Luft wie eine tickende Bombe, die jeden Moment hochgehen konnte. Doch auch wenn er sie nicht sagte, wusste ich nur zu genau, was er meinte. In den letzten Wochen hatte ich alles getan, um die Anziehungskraft zu ignorieren, die seit dem ersten Moment am Flughafen zwischen uns herrschte. Doch jetzt konnte ich es nicht länger ignorieren. Nicht wenn allein die Tatsache, dass er hier neben mir saß, mich völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Von seiner sanften Berührung ganz zu schweigen. Er tat nichts weiter, als mir über den Nacken zu streicheln, dennoch zog mir diese simple Geste den Boden unter den Füßen weg.

  »Früher wusste ich nicht genau, was das zwischen uns war, aber jetzt verstehe ich es. Du warst nie nur eine Schwester für mich, Callie.«

  Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, zog Keith seine Hand zurück. Sofort fehlte mir die Wärme auf meiner Haut. Als würden wir uns im tiefsten Winter befinden und dieser Kerl wäre eine verdammte Heizung. Ich öffnete den Mund, um zu antworten, um irgendwie zu reagieren, aber er schüttelte bereits den Kopf.

  »Nicht. Sag nichts.« Ein nachdenklicher, fast schon schmerzlicher Ausdruck legte sich auf seine Miene. »Ich weiß, wie du zu mir stehst. Es ist kein Tag vergangen, an dem du mir das nicht sehr deutlich gemacht hättest. Ich erwarte nicht, dass du diese Gefühle erwiderst – oder überhaupt verstehst. Scheiße, ich verstehe sie ja nicht mal selbst.« Er lachte kurz und trocken auf, aber in der Stille der Nacht klang es irgendwie verzweifelt. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, was nur dafür sorgte, dass es noch wilder in alle Richtungen abstand als ohnehin schon. »Ich sollte ins Bett«, murmelte er plötzlich. »Bevor ich noch etwas tue, das wir beide bereuen werden.«

  »Was zum Beispiel?«

  Gott, ich sollte endlich lernen, meine Klappe zu halten.

  Der Blick, mit dem mich Keith jetzt maß, sagte bereits mehr aus, als ich je hatte wissen wollen. Einen Moment lang sah er mir noch in die Augen, tief und durchdringend, dann wanderte sein Blick weiter, blieb für ein, zwei Sekunden an meinem Mund hängen und glitt langsam abwärts. Obwohl er mich nicht mehr berührte, fühlte es sich so an, als würde er genau das tun. Ich bemerkte nicht einmal, wie ich die Luft anhielt, bis mein Brustkorb mit einem schmerzhaften Pochen gegen den Sauerstoffentzug protestierte und ich den Atem ausstieß.

  Als Keith wieder bei meinen Augen ankam, war er mir sehr viel näher als zuvor. Hatte er sich zu mir gelehnt oder ich mich zu ihm? Der Vorfall auf der Veranda fiel mir wieder ein und mein Puls schoss in die Höhe. Wir konnten das hier nicht tun. Ich konnte es nicht tun. Ich hasste diesen Mann mehr als alles andere auf der Welt und hatte auch jedes Recht dazu. Dennoch fühlte ich mich gleichzeitig so sehr zu ihm hingezogen, dass ich fast körperlich spüren konnte, wie es mich zerriss.

  Entgegen jeder Erwartung küsste Keith mich jedoch nicht. Das hieß, zumindest nicht auf den Mund. Bevor ich ihn wegstoßen oder – schlimmer noch – an mich ziehen konnte, drückte er seine Lippen auf meine Stirn.

  »Gute Nacht, Callie«, flüsterte er an meiner Haut.

  Er stand auf und verließ das Wohnzimmer, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen. Ich konnte ihm nur mit hämmerndem Herzen nachstarren, während ich noch immer zu begreifen versuchte, was hier gerade passiert war. Und warum ich es zugelassen hatte.

  10

  »Alles Gute zum Einundzwanzigsten, Liebes!« Stella zog mich in eine so feste Umarmung, dass ich kaum noch Luft bekam. Um uns herum ertönten beifällige Rufe, manche Leute klatschten sogar und Billy winkte mir von seinem Platz hinter der Bar aus zu.

  Der vierzehnte Juni gehörte zu meinen Lieblingstagen im ganzen Jahr. Nicht, weil er meistens besonders warm und sonnig war, obwohl das sicherlich zu meiner Hochstimmung beitrug, sondern weil er mein Geburtstag war. Der Tag hatte mit einem ausgedehnten Frühstück begonnen, das Holly und Stella für mich zusammengestellt hatten. Inklusive Pancakes und selbst gemachten Brownies. Anschließend war ich Joggen gegangen, diesmal aber absichtlich in die entgegengesetzte Richtung, und hatte den Nachmittag zusammen mit meiner Schwester, weiteren Folgen Gilmore Girls und Pizza auf dem Sofa verbracht. Alle paar Minuten hatte sich mein Handy mit einer neuen Nachricht oder einem Anruf gemeldet. Meine Mitbewohnerin Amber hatte mir per SMS, über WhatsApp, auf Facebook und Twitter gratuliert und mir auch noch einen virtuellen Videogruß über Snapchat geschickt, nur um ganz sicherzugehen, dass ich ihre Glückwünsche auch erhielt. Ab dem späten Nachmittag hielt mich Parker halbstündlich auf dem Laufenden darüber, wo er gerade steckte und wann er hier ankommen würde. Auch meine anderen Freunde und Kommilitonen hatten sich bei mir gemeldet. Meine ansonsten eher eingeschlafenen Social-Media-Accounts explodierten an diesem Tag geradezu, und ich genoss jede Minute davon.

  Außer, wenn ich gerade dabei war, zu ersticken, weil mich meine Stiefmutter mit aller Macht umarmte.

  Etwas hilflos tätschelte ich Stella den Rücken, während Holly nur schadenfroh zusah, ohne einzugreifen.

  »Wenn du willst, dass ich den Zweiundzwanzigsten noch erlebe, musst du mich jetzt loslassen«, brachte ich hervor.

  Sie erstarrte in meinen Armen, dann löste sie sich von mir und ihre Überraschung wich einem peinlich berührten Ausdruck. »Entschuldige.« Mütterlich tätschelte sie mir die Wange. »Ich freue mich nur so.«

  »Das merke ich.«

  Sie schien noch etwas sagen zu wollen, doch in diesem Moment tauchte Faye auf und riss mich an sich. Mein Geburtstag in allen Ehren, aber ich war grundsätzlich kein großer Fan von Kuschelstunden. Natürlich wusste meine beste Freundin das und nutzte diesen Anlass schamlos aus, um mich ebenfalls zu zerquetschen.

  »Luft …«, krächzte ich, aber sie lachte nur.

  »Tu doch nicht so.« Faye entließ mich aus ihrer tödlichen Umarmung und strahlte mich an. »Insgeheim genießt du jede Sekunde davon.«

  »Stimmt. Ich stehe auf Nahtoderfahrungen.« Erst als ich es ausgesprochen hatte, wurde mir bewusst, was ich da gerade gesagt hatte. Nahtoderfahrungen. Als würde eine davon in meinem Leben nicht genügen.

  Auch Faye schien es zu bemerken, denn für ein, zwei Sekunden wurde ihre Miene schlagartig ernst, beinahe schuldbewusst, weil sie mich daran erinnert hatte. Doch dann bewies sie wieder mal, wie gut sie mich kannte. Denn statt auf das Thema einzugehen und nachzuhaken, wischte sie den Ausdruck von ihrem Gesicht und lächelte mich warm an.

  »In dem Fall kannst du dich auf noch mehr davon freuen. Thomas möchte dir auch noch gratulieren.«

  Juhu. Es gab wesentlich Schlimmeres, aber auch sehr viel Angenehmeres, als Fayes Verlobten wiederzusehen.

  Ich hatte den Gedanken kaum zu Ende gebracht, als sich die Menge in Billys Kneipe teilte und ein breitschultriger Mann auf mich zukam. Thomas lächelte und zog mich in eine überraschend kurze Umarmung. Doch noch bevor er mich mit neuen Fragen löchern oder mir überhaupt gratulieren konnte, packte mich jemand von hinten und wirbelte mich herum.

  Ich wollte schon lautstark protestieren, als ich den Schuldigen erkannte und den Mund wieder zuklappte. Denn vor mir stand Parker, mein bester Freund – oder auch der Kerl, der mir schlechte Musik auf meinen iPod packte.

  Diesmal war ich diejenige, die jemandem um den Hals fiel. Sofort schlossen sich seine starken Arme um mich und drückten mich an sich.

  »Das wurde aber auch Zeit!«, rief ich, wobei meine Stimme von seiner Schulter gedämpft wurde.

  Seine Brust vibrierte in einem lautlosen Lachen. »Wenn man mich schon so charmant einlädt … Außerdem würde i
ch mir nie deinen Geburtstag entgehen lassen.«

  »Letztes Jahr hast du ihn vergessen«, erinnerte ich ihn und löste mich von ihm, um ihm einen Klapps auf den Arm zu geben.

  Er verzog das Gesicht. »Das zählt nicht. Das war letztes Jahr.«

  »Ja, ja. Von wegen.« Ich sank auf meine Fersen zurück, da ich mich für die Umarmung auf die Zehenspitzen hatte stellen müssen, weil dieser Kerl mich um einen Kopf überragte. Sein dunkles Haar war an den Seiten kürzer als oben – eine kleine Veränderung im Vergleich zum Beginn der Ferien, als wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Seine blauen Augen strahlten gut gelaunt, aber die Müdigkeit in seinem Gesicht war nicht zu übersehen. Die dunklen Ringe zeugten von zu wenig Schlaf und auch sonst wirkte er trotz seiner gebräunten Haut erstaunlich blass. Ganz offenbar lief es in seinem Elternhaus doch nicht so gut, wie er aller Welt weismachen wollte. Die Fragen brannten mir auf der Zunge, aber ich hielt sie zurück. Auch wenn wir es nie direkt ausgesprochen hatten, gab es ein stilles Abkommen zwischen uns. Das Thema Familie war tabu. Seine und auch meine – abgesehen von Holly und Stella, die mich beide schon auf dem Campus besucht und ihn bei der Gelegenheit natürlich auch kennengelernt hatten.

  »Sind das etwa Blumen?«, rief ich über das Stimmengewirr und die Musik hinweg, als mein Blick auf einen noch halb in Papier eingewickelten Strauß mit bunten Blüten fiel, den er in der Hand hielt.

  »Das?« Er hielt die Blumen in die Höhe, als hätte er sie völlig vergessen. »Ja. Aber sie sind nicht für dich.« Ich starrte ihn mit offenem Mund an, als Parker den Arm ausstreckte und Stella die Blumen überreichte. »Als Dankeschön für die Übernachtungsmöglichkeit.«

  Stella wirkte mindestens so überrascht wie ich. Auch Holly, die noch immer neben ihr stand, wirkte verblüfft, dann lachte sie laut auf.

  »Wie aufmerksam«, murmelte Stella. »Vielen Dank.«

  Oh mein Gott, errötete sie etwa? Wenn Parker meine Stiefmutter angrub, würde ich ihn das für den Rest seines Lebens nicht mehr vergessen lassen. Aber er grinste nur gut gelaunt und drückte mir meinen eigenen iPod in die Hand.

 

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