Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us

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Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us Page 19

by Iosivoni, Bianca


  Aber egal wie sehr ich mir das selbst weiszumachen versuchte, der Knoten in meiner Brust blieb bestehen. Ein widerlicher Ball aus den schlimmsten Gefühlen: Panik, Furcht, Hass, Reue und Schuld. Ich hätte ihm helfen können. Ich hätte es wenigstens versuchen können, wenn Keith mich nicht festgehalten hätte.

  »Hier, trink das.« Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass Parker aufgestanden war, doch jetzt hielt er mir eine Flasche Wasser hin.

  Mechanisch nahm ich sie und trank sie in großen Schlucken zur Hälfte aus. Meine Kehle brannte, als würde der Rauch noch immer darin festsitzen, und es dauerte einige Sekunden, bis ich sicher war, tatsächlich hier zu sein. Zu Hause. In meinem Zimmer. In Sicherheit.

  »Was war das eben? Ich habe dich noch nie so gesehen.« Parker musterte mich mit gerunzelter Stirn. Er saß in T-Shirt und Shorts auf meinem Bett, während sein Bettzeug neben uns auf dem Holzfußboden lag.

  Nach meiner Geburtstagsfeier im Billy’s hatte Stella ihm das Gästezimmer angeboten, aber wir hatten beide lautstark protestiert. Da wir uns seit Wochen nicht mehr gesehen hatten und er morgen früh schon zurückfahren musste, wollten wir die verbleibenden Stunden ausnutzen. Also hatte er es sich auf einer Matratze auf meinem Boden gemütlich gemacht.

  Und auch wenn ich nicht wollte, dass mich jemand in diesem Zustand sah, war ich dennoch froh, dass Parker hier war.

  »Ich … ich weiß es nicht«, flüsterte ich und umklammerte die Flasche in meiner Hand so fest, dass das Plastik knirschte. Doch kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, wusste ich, dass sie eine Lüge waren. Genau wie meine Hoffnung, dass die Bilder in meinem Kopf nichts zu bedeuten hatten. Aber es war nicht bloß ein Albtraum gewesen. Es war eine Erinnerung.

  »Was ist passiert? Ich habe dich schreien gehört.« Plötzlich stand Keith in der Tür und sah mich aus dunklen Augen an. Sein Atem ging schnell, als wäre er mehr als nur eine Treppe hochgerannt.

  Keith … der mich festgehalten hatte, als ich zu Dad rennen wollte. Als ich ihm helfen wollte.

  Keith, der den Unfall überhaupt erst verursacht hatte.

  Heißer Zorn durchströmte mich und breitete sich wie ein lebendiges, atmendes Wesen in meinem Körper aus, bis ich das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen.

  »Raus.«

  Ein einziges Wort. Ein klarer Befehl. Dennoch zögerte Keith.

  »Raus!« Meine Stimme überschlug sich fast. Ich konnte jetzt nicht mit ihm reden, ich konnte ihm ja noch nicht mal ins Gesicht sehen. Denn jedes Mal, wenn ich das tat, tauchte wieder das Bild des brennenden Wracks vor meinen Augen auf. Und das Gefühl, wie Keith mich gepackt und daran gehindert hatte, Dad zur Hilfe zu kommen.

  »Callie …«, begann er und machte einen Schritt auf mich zu, aber Parker war schneller und stellte sich Keith in den Weg.

  »Du hast sie gehört«, sagte er in einer eisigen Tonlage, die ich nie zuvor bei ihm gehört hatte. »Verschwinde.«

  Ein gefährliches Funkeln trat in Keiths Augen, als er seinen Blick von mir abwandte und auf Parker richtete. Seltsam, dass mir erst jetzt auffiel, dass die beiden fast gleich groß waren. Ich wusste nicht, wer von ihnen gewinnen würde, sollte es tatsächlich zu einem Handgemenge kommen, aber ich wollte es auch nicht herausfinden.

  Ich atmete tief ein und stieß den Atem zittrig wieder aus. Meine Stimme klang erschreckend dünn, als ich Keith ein letztes Mal ansah. »Bitte geh.«

  Diesmal musste ich mich nicht wiederholen, denn nach einem kurzen Zögern drehte er sich um und ging zur Tür, wo er jedoch stehen blieb. Als er sich wieder zu mir umdrehte, wäre ich bei dem gequälten Ausdruck in seinem Gesicht beinahe zusammengezuckt. Gleichzeitig wuchs meine Wut ins Unermessliche. Er hatte kein Recht darauf, so zu empfinden, schließlich war er derjenige, der die Schuld daran trug. An dem Unfall. Daran, dass ich meinem Vater nicht hatte zur Hilfe kommen können.

  Schließlich verließ Keith jedoch wortlos mein Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Allerdings wagte ich es erst aufzuatmen, als seine Schritte auf der Treppe verklungen waren und Stille uns umgab.

  »Ich hab nur schlecht geträumt«, murmelte ich, da ich Parkers fragenden Blick auf mir spürte. Mit den Fingern rieb ich mir über die Stirn, hinter der es zu pochen begonnen hatte.

  Parker seufzte und setzte sich wieder zu mir. »Lüg meinetwegen dir selbst und deiner Familie etwas vor, aber nicht mir, okay?«

  »Das sagt der Richtige.« Trotz des Chaos, das in mir tobte, betrachtete ich meinen besten Freund aufmerksam. Ich hatte die Prellungen an seinen Rippen gesehen, als er sich vor dem Schlafengehen umgezogen hatte. Sie waren nicht die ersten, die ich im Laufe der Jahre an seinem Körper entdeckt hatte. Ich wusste nicht, was in seiner Familie los war, aber man musste kein Genie sein, um zu bemerken, dass seine Verletzungen immer dann auftraten, wenn er zu Hause war.

  Als wüsste er genau, wohin meine Gedanken gewandert waren, schüttelte Parker entschlossen den Kopf. »Keine Chance, Calls. Hier geht es nicht um mich, sondern um dich. Ich bin nicht schreiend aufgewacht und habe um mich geschlagen.«

  Ich zuckte zusammen und senkte den Blick. So gern ich Parker eine vernünftige Antwort auf meinen Anfall geben wollte – ich konnte es nicht. Denn ich wusste selbst nicht, was mit mir los war. Ich weigerte mich, die Erinnerungen zu akzeptieren, die nach und nach an die Oberfläche drangen, als wollte mein Unterbewusstsein mir etwas Wichtiges mitteilen. Aber ich verstand die Botschaft nicht, wollte sie nicht verstehen, weil ich mit alledem nichts zu tun haben wollte.

  Bis zu meiner Rückkehr hatte ich geglaubt, all das hinter mir gelassen zu haben. Ich hatte mein Leben im Griff, studierte etwas, das meinen Vater stolz gemacht hätte und meine Stiefmutter mit Freude erfüllte. Ich hatte Freunde, die für mich da waren, und verbrachte den Sommer mit meiner kleinen Schwester, der ich damit einen großen Wunsch erfüllte. Mein Leben war in Ordnung. Ich war zufrieden. Wen interessierte es schon, dass ich beim Anblick der Halskette meiner leiblichen Mutter eine halbe Panikattacke bekommen hatte oder dass ich in Biochemie durchgefallen war und sich mir der Magen bei der Vorstellung umdrehte, in ein paar Wochen zurück ans College zu müssen? Wen interessierte es, dass meine letzte Beziehung mehr als ein Jahr zurücklag und der Typ mich mit den Worten verlassen hatte, dass ich mit Kopf und Herz nicht bei der Sache war? Und wen zum Teufel interessierte es, dass ich mit Keith geflirtet und er mich letzte Nacht nicht geküsst hatte, obwohl ich es trotz meiner eigenen Worte gewollt hatte?

  Niemanden. Es interessierte niemanden und nichts davon war von Bedeutung. Ich atmete tief durch, schob alle Zweifel und nagenden Fragen beiseite, und nickte einmal.

  »Ich bin okay«, sagte ich, doch die Worte klangen selbst in meinen Ohren hohl und leer.

  Anscheinend ging es Parker ähnlich, denn er stieß einen leisen Fluch aus und griff dann nach meiner Hand. Erst als ich die Wärme seiner Finger spürte, bemerkte ich, wie eisig meine eigenen geworden waren.

  »Wenn du je darüber reden willst – und das muss nicht mit mir sein –, dann tu es bitte. Okay?« Er drückte meine Hand. »Ich glaube, es würde dir guttun, alles einmal rauszulassen.«

  Ich brachte nicht mehr als ein Nicken zustande, da meine Kehle auf einmal wieder wie zugeschnürt war. Zugeschnürt vor lauter Emotionen, die in mir tobten. Furcht, Wut, Dankbarkeit und das verzweifelte Verlangen, Parkers Rat zu befolgen. Alles rauszulassen und nicht mehr an all den Dingen und Ereignissen festzuhalten, die mich verletzten. Aber noch viel größer war die Angst davor, was passieren würde, wenn ich genau das eines Tages tat. Wenn ich alles, was ich die letzten sieben Jahre lang verdrängt hatte, aussprach und herausließ … was würde dann noch von mir übrig bleiben?

  Am nächsten Morgen verabschiedete ich Parker nach einem eher schweigsamen Frühstück. Zwar spürte ich die besorgten Blicke, die er in meine Richtung warf, aber er stellte keine Fragen. Nicht mehr. Und ich war ihm dankbar dafür.

  Den restlichen Tag verbrachte ich größtenteils allein. Es schien beinahe so, als hätten sich alle abgesprochen, mir möglichst aus dem Weg zu gehen, weil ich jeden Moment wie e
ine tickende Zeitbombe hochgehen könnte. Stella machte wieder mal Überstunden im Krankenhaus, während Holly sich mit ihrer besten Freundin Katelyn traf und Keith bei der Arbeit war. Na gut, Letzteres war nur eine Vermutung, aber was auch immer er trieb, er war nicht daheim. Und das war mir nur recht.

  Ich nutzte die Stille im Haus, um meinen iPod an die Anlage im Wohnzimmer anzuschließen und die Musik laut aufzudrehen. Die ersten Töne von You’re The One That I Want erklangen und entlockten mir ein Lächeln. Gerade noch mal gerettet, Parker. Auf dem langen Couchtisch breitete ich meine Bücher und die verhassten Mitschriften aus. Es mochte erst Mitte Juni sein, aber die Nachprüfungen im neuen Semester rückten mit jedem Tag näher und ich hatte nur wenig Lust, noch mal durch die Klausur zu fallen, also hatte ich mich dazu durchgerungen, endlich zu lernen.

  In den ersten zwei Stunden klappte das überraschend gut. Mein Handy und meinen Laptop hatte ich wohlweislich in meinem Zimmer gelassen, um nicht in Versuchung zu geraten, mich im Internet zu verlieren, statt zu pauken.

  Gegen Mittag begann meine Konzentration nachzulassen. Kein Wunder, denn von den Basics zur Energiegewinnung und dem Energieabbau im menschlichen Körper, was noch relativ leicht verständlich war, war ich nun bei den ersten Krankheiten angelangt. Während ich über Aminosäuren und Diabetes las und mir die biochemischen Vorgänge im Organismus einzuprägen versuchte, biss ich von einem weiteren Schokoriegel ab. Doch nicht einmal der Zucker half mir dabei, mich auf den Prüfungsstoff zu fokussieren. Meine Gedanken begannen abzudriften, bis ich nicht mehr die Buchstaben und Zahlen vor meinen Augen sah, sondern ganz woanders war. Nämlich dort, wohin mich dieser verfluchte Albtraum letzte Nacht geführt hatte.

  Ich konnte den Rauch noch immer schmecken und das Kratzen in meinem Hals spüren. Seltsamerweise erinnerte ich mich nicht daran, Schmerzen gehabt zu haben, aber vermutlich lag das am Adrenalin und der nackten Panik, die durch meine Adern gepumpt worden waren. Ich sah das geschrottete Auto, die Flammen, die am Metall leckten, und die beiden Vordersitze, auf denen mein Vater ausgestreckt lag. Keiths Arm, der mich zurückhielt, seine warnende Stimme in meinem Ohr …

  Jemand rief meinen Namen und ich zuckte zusammen. Mit einem Mal war ich wieder hier, sieben Jahre später, doch das Hämmern in meiner Brust begleitete mich genauso wie der Geschmack von Rauch auf meiner Zunge. Ich riss den Kopf hoch und blickte in Keiths Gesicht. Er sagte irgendetwas, das ich über die Musik hinweg kaum verstand, und ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er wollte: Ich sollte die Lautstärke herunterdrehen.

  »Danke«, erwiderte er mit verzerrtem Gesicht, als hätte ihm die Stimme von Bruno Mars Schmerzen zugefügt.

  Genau wie mir, denn ich realisierte erst jetzt, was ich da gerade hörte. Verdammter Parker. Er hatte doch noch irgendwelche Popsongs unter meine geliebten Oldies gemischt. Als ob mir das nicht auffallen würde.

  »Warum bist du schon zurück?« Ohne Absicht hatte meine Stimme einen eisigen Klang angenommen. Ich legte es nicht darauf an, unhöflich zu sein, es schien vielmehr, als gäbe es einen Teil in mir, der gar nicht anders konnte. Nicht nach dem Albtraum. Nicht nach Keiths Berührungen in diesem Hinterzimmer.

  »Mittagspause«, erwiderte er kurz angebunden und marschierte weiter in die Küche.

  Sekundenlang starrte ich ihm nur hinterher, wie vor den Kopf gestoßen. Aber Moment … warum eigentlich? Tat er nicht genau das, was ich letzte Nacht von ihm verlangt hatte? Ich hatte ihn rausgeschmissen, hatte ihn nicht mehr sehen wollen und jetzt ging er mir aus dem Weg. Ich sollte froh darüber sein. War es nicht genau das, was ich die ganze Zeit gewollt hatte? So wenig wie möglich mit ihm zu tun haben?

  Nicht gestern Abend, flüsterte eine verräterische Stimme in meinem Kopf. Als er dich nicht geküsst hat …

  Ich verscheuchte die Stimme wie eine lästige Fliege und sprang auf die Beine. Bevor ich mit dem Lernmarathon begonnen hatte, hatte ich dafür gesorgt, dass es nichts gab, wofür ich noch mal aufstehen müsste. Also befanden sich neben meinen Büchern und Mitschriften auch eine Packung Schokoriegel, ein leerer Teller, auf dem Sandwiches gewesen waren, ein halb volles Glas und zwei Flaschen Wasser und Limonade auf dem Tisch. Ich hatte sogar an Taschentücher und Ersatzstifte gedacht. Folglich gab es absolut keinen Grund für mich, jetzt aufzustehen und Keith in die Küche zu folgen.

  Tat ich es trotzdem? Natürlich.

  Er stand am offenen Kühlschrank und holte irgendwelche Reste heraus. Neben ihm auf der Anrichte standen bereits ein Teller und eine Packung Toast. Gesundes Mittagessen. Es war völlig lächerlich, aber selbst diese Kleinigkeit regte mich auf. Genau genommen gab es nichts an Keith oder dem, was er tat, was mich nicht in irgendeiner Form rasend machte. Ich hasste den Gedanken daran, wie er mich am vergangenen Abend in seinen Armen gehalten hatte, als ich zusammengebrochen war. Ich hasste die Sorge in seinem Blick, aber noch viel mehr hasste ich die Art, wie mein Körper auf seine Berührungen reagiert hatte. Ich wollte mich nicht zu ihm hingezogen fühlen, ich wollte nicht, dass ein einziger Blick von ihm ausreichte, damit sich mein Bauch vor Hitze zusammenzog, und am allerwenigsten wollte ich mich nach dem Gefühl seiner Hände auf meiner Haut sehnen. Alles war so viel einfacher gewesen, als er noch nicht wieder Teil meines Lebens war.

  »Warum hast du mir nie gesagt, dass du mich festgehalten hast, als ich meinen Vater retten wollte?« Von allen Fragen dieser Welt platzte ausgerechnet diese aus mir heraus, bevor ich mich eines Besseren besinnen konnte.

  Die Kühlschranktür fiel mit einem dumpfen Laut zu. Keith sah mich nicht mal an, sondern schien vollauf damit beschäftigt zu sein, sich sein verdammtes Sandwich zuzubereiten. Trotzdem antwortete er – natürlich mit einer Gegenfrage. »Warum hast du nie gefragt?«

  »Wie denn?« Meine Stimme überschlug sich und ich machte einen wütenden Schritt nach vorn. »Wann hätte ich das tun sollen? Du bist wie ein Feigling abgehauen, nachdem man dich aus dem Krankenhaus entlassen hat.«

  Keith bewegte sich so schnell, dass ich nicht mal zusammenzucken konnte. Eben stand er noch am Kühlschrank und jetzt war er so dicht vor mir, dass ich instinktiv zurückwich, bis ich mit der Kehrseite gegen die Kücheninsel stieß. Keith folgte der Bewegung, bis da kein Raum mehr blieb. Keine Luft zum Atmen.

  »Denkst du das wirklich?«, fragte er gefährlich leise. »Glaubst du allen Ernstes, deswegen bin ich damals gegangen?«

  »Warum sonst …?«

  Er schlug seine Hände links und rechts von mir auf die Arbeitsfläche, sagte aber kein Wort. Doch obwohl er schwieg, konnte ich die Zerrissenheit in seinen Augen erkennen. Was verheimlichte er vor mir? Und warum?

  Wieder veränderte sich die Stimmung zwischen uns. Nicht so schnell, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, sondern langsamer, fließender. Als würden Wut und Hass einen Schritt zurücktreten, um Platz für das zu machen, was da noch zwischen uns war. Ein weiteres Gefühl, das ich in den vergangenen Wochen konsequent geleugnet hatte, aber spätestens seit gestern Abend war das unmöglich geworden. Dafür erinnerte ich mich zu gut daran, wie sich seine Lippen auf meiner Haut angefühlt hatten. Mein Herz polterte los, als hätte es kurzzeitig vergessen, weiterzuschlagen, und müsste die verlorene Zeit jetzt wieder aufholen.

  »Was willst du von mir?« Irgendwie brachte ich die Frage hervor, auch wenn ich nicht mal selbst wusste, ob ich die Antwort darauf tatsächlich hören wollte.

  »Ich will, dass du dich entscheidest.« Ein dunkler Unterton lag in Keiths Stimme. »Entscheide dich endlich, Callie. Soll ich mich von dir fernhalten? Dann sprich es aus. Sag es mir ins Gesicht und ich werde es tun.«

  Ich starrte ihn an, unfähig, irgendetwas darauf zu erwidern. Da war sie. Meine Chance, ihn endgültig loszuwerden und nur noch dann sehen zu müssen, wenn es sich aufgrund unserer familiären Situation nicht vermeiden ließ. Keith servierte mir diese Möglichkeit auf einem Silbertablett. Alles, was ich tun musste, war zuzugreifen und ihm hier und jetzt zu sagen, dass er mich in Ruhe lassen sollte. Dass er mich wie eine Stiefschwester behandeln sollte, statt mich mit seinen Blicken Schicht um Schicht bloßzulegen, bis ich das
Gefühl hatte, als würde er alles von mir wissen. Jedes wohlgehütete Geheimnis. Jede Erinnerung, an die zu denken ich mir nicht einmal selbst erlaubte.

  Meine Atmung wurde schneller, während mein Puls zu hämmern begann. Ich musste die Worte nur aussprechen. Zwar gab es dann noch immer keine Garantie dafür, dass Keith sich auch daran halten würde, aber ich konnte ihm ansehen, wie ernst es ihm war. Und ich glaubte ihm. Wenn ich es wollte, würde er sich ab jetzt von mir fernhalten.

  Ich öffnete den Mund … und brachte kein Wort heraus.

  Keiths Blick zuckte zu meinen Lippen, dann sah er mir wieder in die Augen. Fordernd. Abwartend. Als würde er fest damit rechnen, dass ich ihm gleich gründlich die Meinung sagte. Doch da war nichts, keine Worte, nur Stille.

  Sekunden tickten vorbei, in denen sich keiner von uns rührte. Im Wohnzimmer wechselte die Musik von Lesley Gores volltönender Stimme zu der einer jungen Sängerin, deren Name mir entfallen war, doch nicht einmal das riss uns aus unserer Starre. Meine Finger gruben sich in die Kante der Kücheninsel hinter mir, aber ich wusste selbst nicht, ob ich mich daran festhalten oder darauf vorbereiten wollte, mich abzustoßen und dieser Situation zu entfliehen.

  Letztlich war es Keith, der eine Entscheidung traf.

  »Scheiß drauf«, knurrte er. »Du willst mich hassen? Dann gebe ich dir jetzt einen Grund dazu.«

  Er ließ mir keine Zeit zum Denken, sondern legte seine Hand in meinen Nacken und presste seinen Mund auf meinen.

  Im ersten Moment war ich zu überrumpelt, um irgendetwas Sinnvolles zu tun. Ihn wegzustoßen, zum Beispiel. Eine Ohrfeige wäre sicher auch eine angemessene Reaktion auf diesen Überfall. Stattdessen überraschte ich uns beide, indem ich die Augen schloss und den Kuss erwiderte. Nicht langsam und herantastend, wie ein erster Kuss sein sollte, sondern so hart und hungrig, dass ich vor mir selbst erschrak. Instinktiv wollte ich zurückweichen, doch die Kücheninsel hinter mir und Keiths Hände in meinem Nacken und an meiner Taille verhinderten jede Bewegung. Grob biss er in meine Unterlippe und ich gab dem Drängen in mir nach. Sein Geschmack überflutete meine Sinne und machte es mir unmöglich, an etwas anderes zu denken als an ihn. An das, was wir hier taten. Daran, dass es längst nicht genug war.

 

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