Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us

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Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us Page 30

by Iosivoni, Bianca


  Natürlich machte Keith es mir nicht so leicht.

  Langsam strich er mit den Händen über meine nackten Oberschenkel, während er mich genau musterte. »Wie viel davon hast du gehört und in den falschen Hals bekommen?«

  »Was?« Ich runzelte die Stirn, teils ertappt, teils vor den Kopf gestoßen. Glaubte dieser arrogante Kerl etwa, ich wäre eifersüchtig? Auf die Frau mit den Modelmaßen und den langen Haaren? Pff. Ganz sicher nicht.

  Fragend zog er eine Braue in die Höhe. Anscheinend würde er mich nicht vom Haken lassen, zumindest nicht so leicht.

  »Gar nichts«, wehrte ich ab.

  Keiths Mundwinkel zuckten. »Lügnerin.« Seine Hände strichen noch immer über meine Beine, fast schon andächtig, während er mich nachdenklich betrachtete. »Ich werde dir nichts vormachen, Callie. Seit ich wieder hier bin, habe ich nicht wie ein Mönch gelebt, aber mit ihr habe ich nichts angefangen.«

  Erleichterung vermischte sich mit einem Stich Eifersucht zu einem Wirbelsturm in meinem Inneren, bis ich selbst nicht mehr wusste, was ich fühlen sollte. Ich war froh über seine Ehrlichkeit und dass er nicht mit diesem Flittchen geschlafen hatte. Gleichzeitig hätte ich jeder Frau, mit der er in den letzten Wochen das Bett geteilt hatte, am liebsten den Hals umgedreht. Nicht, dass ich dazu irgendein Recht gehabt hätte, aber Gefühle waren nun mal selten vernünftig.

  »Ich habe dabei immer an dich gedacht«, flüsterte er und strich mit seinen Lippen über meine Ohrmuschel. »Egal mit wem ich zusammen war und egal wie sehr ich mich dagegen gewehrt habe. Ich musste nur die Augen schließen, um mir vorzustellen, du wärst es. Um mir zu wünschen, dass du es wärst.«

  »Seit wann …?«, fragte ich atemlos.

  »Seit ich dich am Flughafen dem Gepäckband hinterherrennen gesehen habe.«

  Seine Worte ließen die letzten Zweifel schmelzen, die letzten nagenden Gefühle zu Staub zerfallen. Ich schlang die Arme um seinen Hals und zog ihn an mich.

  Diesmal gab es keine Unterbrechungen mehr, niemanden, der uns störte oder davon abhielt, alles um uns herum zu vergessen. Keith zog sich das T-Shirt aus und ließ es zu Boden fallen und während ich noch damit beschäftigt war, seine Rückenmuskeln mit den Fingern nachzufahren, bedeckte er meinen Hals mit festen, fordernden Küssen. Wir hatten nur eine Nacht miteinander verbracht, trotzdem schien er sich all die Stellen gemerkt zu haben, an denen ich besonders empfindlich war. Ich schnappte keuchend nach Luft, als er an einer solchen Stelle knabberte, nur um gleich darauf fest daran zu saugen. Ein Strahl aus Hitze und Lust schoss mir direkt in den Unterleib.

  Ich dachte nicht mehr daran, wo wir waren, oder ihn zu fragen, ob er den Laden diesmal wirklich abgeschlossen hatte. Und wenn ich ehrlich war, interessierte es mich auch nicht mehr. Das Einzige, was noch zählte, waren Keith und ich und die Tatsache, dass es diesmal völlig anders zwischen uns war. Diese eine Nacht war verspielt und leidenschaftlich gewesen. Unvergesslich. Aber hier, mitten in der Werkstatt, die geradezu nach einem verbotenen Quickie schrie, gingen wir langsam vor. Langsam und beinahe … zärtlich. Ich hob die Arme an, als Keith den Saum meines Oberteils ergriff und es nach oben schob. Einen Wimpernschlag später lag es auf dem kahlen Boden neben seinem Shirt.

  Vielleicht sollte ich nervös sein, weil wir hiermit unseren Deal offiziell brachen und mehr daraus wurde als eine einzige Nacht, über die wir nie mehr sprachen, aber ich war es nicht. Stattdessen war es wie eine vertraute Melodie, die ich nach langer Zeit endlich wieder hörte und deren Klang sich anfühlte, als würde ich nach Hause zurückkehren.

  Ich lehnte mich auf den Ellbogen zurück und beobachtete Keith dabei, wie er sich langsam an meinem Oberkörper hinabküsste. Jedes Streicheln seiner Lippen, jede Berührung seiner Zunge und jedes freche Knabbern brachten mich dazu, ihm ein kleines bisschen mehr zu verfallen. Aber es waren seine Augen, in denen ich mich endgültig verlor, wann immer er zu mir hochsah. Darin lagen so viele Emotionen, die ich hervorlocken, und so viele Geheimnisse, die ich erkunden wollte. Ich erzitterte unter seinen Liebkosungen und obwohl mein Körper ungeduldig wurde und nach mehr verlangte, hatte ich es nicht eilig. Wenn es nach mir ging, könnte das hier ewig andauern.

  Keith öffnete den Knopf meiner Hotpants und küsste die frei gewordene Haut. Das Gleiche tat er mit dem Reißverschluss, zog ihn Zentimeter für Zentimeter auf und küsste jedes Fleckchen Haut darunter. Bis er mir die Hose über die Hüften streifte und zu Boden warf, war ich bereits geschmolzen.

  Ich setzte mich wieder auf, legte meine Hand in Keiths Nacken und zog ihn wieder zu mir hoch. Diesmal überließ er mir die Führung, ließ zu, dass ich seinen Mund erkundete, mich in seinem Geschmack und seiner Hitze verlor. Kurz bevor ich den Kopf heben und nach Luft schnappen wollte, biss Keith mir frech in die Unterlippe. Ich keuchte auf und starrte ihn an. Wahrscheinlich könnte ich im Moment nicht mal mehr meinen eigenen Namen nennen, hätte mich jemand danach gefragt. Dafür kannte ich seinen Geschmack, seinen Geruch und das Gefühl seiner von der Arbeit rauen Hände auf meiner Haut. Aber es war nicht genug. Ich wollte mehr. Ich brauchte mehr von ihm.

  Als würde er genau das in meinem Gesicht lesen können, hakte Keith seine Finger unter das Seitenbändchen meines Slips und zog daran. Ohne seinen Blick loszulassen, lehnte ich mich auf den Händen zurück und hob das Becken an, damit er mir das Höschen ausziehen konnte. Ich war nicht schüchtern, trotzdem hatte ich mich meinem Exfreund niemals so offen präsentiert wie Keith. Doch bei ihm genoss ich es, wie er mich betrachtete – als wolle er mich verschlingen. Ich genoss es, seinen Blick wie eine Liebkosung auf meiner Haut zu spüren. Dieser Kerl konnte meinen Körper in Brand setzen, ohne mich auch nur anzufassen. Und er hatte das im Laufe dieses Sommers ständig getan.

  »Ich habe es noch nie auf einer Hobelbank getan …«, murmelte er, während er mich von oben bis unten musterte. So intensiv, als würde er mich mit den Augen ausziehen, obwohl ich schon so gut wie nackt war.

  »Trifft sich gut.« Ich streckte die Hand nach ihm aus. »Ich nämlich auch nicht.«

  Wieder traf mich sein Lächeln direkt in die Brust. Genau dort, wo es so heftig pochte.

  Ohne ein weiteres Wort trat er wieder zwischen meine Beine und zog mich bis an den Rand der Holzbank. Seine linke Hand lag auf meinem unteren Rücken, während seine rechte langsam nach oben wanderte, den Verschluss meines Bikini-Oberteils fand und ihn öffnete.

  »Das ist nicht fair …«, stieß ich hervor. Was wie ein Protest klingen sollte, war nicht mehr als ein leises genießendes Seufzen, als er mir den Stoff abstreifte. »Du hast immer noch zu viel an.«

  Seine Mundwinkel zuckten. »Dann ändere was daran.«

  Und das tat ich. Oder zumindest versuchte ich es. Keith machte es mir aber auch verflucht schwer, denn ausgerechnet jetzt widmete er sich mit Mund und Händen meinen Brüsten. Ich stöhnte leise auf und vergaß kurzzeitig, wie man einen Hosenknopf öffnete und einen Reißverschluss aufzog. Irgendwie – mit jeder Menge Herumgefummle, Fluchen und Keiths gedämpftem Lachen an meiner Haut – gelang es mir, ihm die Hose und gleich darauf auch die enge Boxershorts auszuziehen.

  Keith bückte sich danach und holte ein Kondom aus seiner Brieftasche, das er sich jetzt überstreifte. Ich beobachtete ihn dabei, auf den Unterarmen zurückgelehnt, mit schnell gehendem Atem und hämmerndem Puls. Es am helllichten Tag auf einer Hobelbank in einer Werkstatt zu treiben, war nicht gerade das, was ich mir unter Romantik vorstellte. Aber ich wollte auch keine Romantik. Ich wollte den echten Keith, wollte sehen, was ihm wichtig war, wollte daran teilhaben und ein Teil des Lebens sein, das er sich in dieser Stadt wiederaufbaute – zumindest für die nächsten sechs Wochen. Dass er mir den Ort gezeigt hatte, der so etwas wie ein zweites Zuhause für ihn war, bedeutete mir mehr als jede noch so romantische Geste. Dass ich zusammen mit ihm hier sein durfte und er sich für immer an mich und an das, was wir hier taten, erinnern würde, wenn er hier arbeitete, war mir wichtiger als ein Strauß Rosen oder ein Picknick unterm Sternenhimmel. Ich wollte nicht umworben werden. Ich wollte das hier. Ich wollte Keith.

  Diesmal gab es ke
in Hinauszögern, kein Herausfordern und keine blinde Leidenschaft zwischen uns. Wir sahen uns in die Augen, als Keith wieder zwischen meine Beine trat und in mich eindrang. Er hielt meinen Blick genauso fest wie meine Hüften, als mir ein leises Stöhnen über die Lippen kam und ich mich genauso in ihm zu verlieren drohte, wie er sich in mir. Seine Bewegungen waren langsam, beinahe sanft, dennoch lag etwas Drängendes in der Luft, dem sich keiner von uns entziehen konnte. Wir liebten uns mit einer Innigkeit, als wäre es das erste und das letzte Mal zugleich.

  Ich bohrte meine Fingernägel in seinen Rücken und presste meinen Mund auf seinen, weil ich mehr von ihm spüren musste, weil ich an nichts anderes mehr denken wollte, außer an ihn und was er mit mir machte. Sein tiefes Stöhnen vibrierte an meinen Lippen und ich konnte nicht anders, als zu lächeln.

  Ich klammerte mich an ihn, schloss die Augen und ließ mich völlig gehen. Keith beschleunigte seine Bewegungen, schob seine Hand zwischen unsere verschwitzten Körper und brachte mich mit einem einzigen festen Reiben an den Rand der Erlösung. Ich stöhnte auf, drängte ihn wortlos dazu, schneller zu werden, weil ich so kurz davor war. Er verstand und stieß härter zu, bis ich es nicht mehr aushielt und mit einem erstickten Schrei zum Höhepunkt kam. Erstickt deshalb, weil ich meinen Mund gegen seine Schulter presste. Ich konnte noch keinen klaren Gedanken fassen, als Keiths Muskeln sich unter meinen Händen anspannten und er mit einem erlösten Stöhnen ebenfalls kam.

  Keiner von uns rührte sich. Selbst als seine Bewegungen langsamer wurden und schließlich ganz aufhörten, hielt ich ihn noch immer fest, klammerte mich an ihn, um diesen Moment ja nicht beenden zu müssen. Wie lange wir so blieben, wusste ich nicht. Irgendwann hob Keith den Kopf, und in seinen Augen lag so viel Zärtlichkeit, dass ich für einen Moment glaubte, eine Bewegung in meiner Brust zu spüren. Als würde etwas zurückkehren, dessen Fehlen ich nie bemerkt hatte, und wieder an seinen rechtmäßigen Platz in meinem Herzen rücken.

  Wortlos drückte er seine Lippen auf meine und ich erwiderte den sanften Kuss genauso selbstverständlich, wie ich mit ihm hierhergekommen war. Ich wusste nicht, was genau hier passiert war, aber was es auch war, es hatte etwas zwischen uns verändert. Etwas, das so tief ging, dass ich nicht sicher war, ob ich jemals wieder ganz die Alte sein würde.

  Später, sehr viel später, lagen wir in Keiths Wohnung aneinander geschmiegt in seinem Bett. Keith hatte den Arm um mich geschlungen und strich mit den Fingerspitzen träge über meine Haut, während ich mit dem Kopf an seiner Brust ruhte und wieder zu Atem zu kommen versuchte. Mein Körper kribbelte noch immer von all den Dingen, die dieser Kerl in den letzten Stunden mit mir angestellt hatte, und ich war mir ziemlich sicher, dass ich morgen höllischen Muskelkater haben würde. In diesem Moment war mir das aber vollkommen gleichgültig.

  Draußen war es bereits dunkel geworden, doch wir hatten irgendwann die Nachttischlampe eingeschaltet, sodass das Schlafzimmer nun von einem warmen Schimmer erleuchtet wurde. Langsam zeichnete ich mit den Fingern kleine Kreise auf Keiths Oberkörper und beobachtete fasziniert, wie er auf diese winzigen Berührungen reagierte. Manchmal spannten sich seine Muskeln an, manchmal ging ein Zittern durch seinen Körper. Nachdenklich strich ich über die lange Narbe, die sich von seiner linken Schulter bis unters Schlüsselbein zog. Die Haut an dieser Stelle war uneben und heller, als wäre die Wunde nicht richtig zusammengenäht worden oder hätte keine Zeit gehabt, richtig auszuheilen.

  Ich legte den Kopf in den Nacken und sah zu ihm hoch. »Woher ist das? Von damals …?« Ich wollte es nicht aussprechen und ein Teil von mir fürchtete sich vor der Antwort. Der Unfall war das Letzte, über das ich reden wollte, und Keith der letzte Mensch, mit dem ich dieses Gespräch führen wollte.

  Zu meiner Erleichterung schüttelte er den Kopf. »Vor zwei Jahren, als ich noch bei der Army war.« Statt mir davon zu erzählen, griff er nach meiner Hand und hauchte einen Kuss auf meine Fingerknöchel.

  Die Geste war süß und brachte eindeutig ein paar dieser lästigen Schmetterlinge in meinem Bauch zum Flattern, aber sie lenkte mich nicht vom Thema ab.

  »Warum sprichst du nie darüber?«, fragte ich nach einer Weile leise, als Keith noch immer schwieg. »Über deine Zeit bei der Army?«

  Er blinzelte überrascht. »Gerade du müsstest es doch verstehen, dass man über manche Dinge nicht gern redet.«

  Touché. Ich presste die Lippen aufeinander und senkte den Blick. So schmeckte es also, wenn man seine eigene Medizin zu schlucken bekam. Nicht, dass ich das nicht schon mit Parker erlebt hätte, der seine Kämpfe lieber allein ausfocht, als mir von seinen Problemen zu erzählen. Aber bei Keith war es etwas anderes.

  Er seufzte leise, legte seine Finger an mein Kinn und hob es an, damit ich ihn wieder ansah. Bei dem plötzlichen Schmerz, der sich in seinen Augen widerspiegelte, wäre ich fast zusammengezuckt. Was war damals geschehen?

  »Wir waren in einer kleinen Stadt in Afghanistan stationiert, in der es friedlich zuging. Meine Truppe und ich waren fast alle noch blutige Anfänger und sollten nur die Stellung halten, Munition zählen und für Recht und Ordnung sorgen«, begann er leise zu erzählen. Sein Blick wanderte nach oben, aber ich wusste, dass er die Zimmerdecke nicht einmal mehr wahrnahm. Keith war nicht mehr hier mit mir, sondern wieder an diesem Ort, an dem etwas Schreckliches passiert sein musste. »Nach über drei Wochen purer Langeweile tauchte eine Spezialeinheit auf. Anscheinend hatten sie einen Tipp bekommen, dass sich zwei gesuchte Terroristen in der Stadt versteckten. Ihre Aufgabe war es, die Kerle aufzuspüren und zu schnappen – tot oder lebendig. Meine Jungs und ich sollten ihnen einfach nicht im Weg rumstehen.« Er lachte leise, aber es klang rau und so hart, dass sich eine Gänsehaut auf meinen Armen ausbreitete.

  Als er nicht weitersprach, begann ich wieder über seine Brust zu streicheln, in der Hoffnung, dass ihn das daran erinnern würde, dass er nicht mehr an diesem Ort war, sondern zu Hause. Bei mir.

  »Was ist passiert?«, fragte ich leise.

  »Der Tipp hat sich als richtig erwiesen. In der Stadt hatten sich tatsächlich zwei Terroristen versteckt, aber als sie gefunden wurden, war es zu spät. Sie haben sich selbst in die Luft gesprengt.«

  Ich hatte genug Nachrichten gesehen, um zu wissen, dass diese Attentäter sich nicht nur selbst in die Luft jagten, sondern unzählige andere Leute mit sich in den Tod rissen. Bei der Vorstellung drehte sich mir der Magen um und meine Augen begannen sich mit Tränen zu füllen. Ungeweinte Tränen für Menschen, die ich nicht einmal gekannt hatte. Aber es waren unschuldige Menschen gewesen.

  »Mein bester Freund und ich standen zu nahe dran. Die Druckwelle hat uns erwischt und in ein Haus geschleudert, das über uns zusammengebrochen ist. Als ich wieder aufgewacht bin, hatte ich einen Metallsplitter in der Brust.«

  Ich atmete scharf ein und richtete mich auf dem Ellbogen auf. Zwar war ich mir darüber bewusst, dass Keith gesund und munter neben mir lag, trotzdem nahm mich seine Geschichte mit und ich machte mir Sorgen um ihn und seinen Freund.

  »Wann seid ihr wieder rausgekommen?«

  »Nach zwei Tagen.« Keith zog eine Grimasse. »Nicht, dass wir es mitgekriegt hätten, da wir völlig im Dunkeln zwischen den Trümmern saßen. Die Wunde hat sich entzündet, weil ich den Metallsplitter nicht rausziehen konnte, ohne dass ich geblutet hätte wie ein Schwein. Aber meinen Kumpel hatte es deutlich schlimmer erwischt. Er war …« Keith rieb sich mit Daumen und Mittelfinger über die Augen, als versuchte er die Schreckensbilder aus seinem Gedächtnis zu verbannen. »Ich habe erst später gesehen, wie schlimm es wirklich um ihn stand. Mehrere Fleischwunden und zwei gebrochene Knochen, die aus ihm herausragten. Keine Ahnung, wie er das überstanden hat. Ich habe die ganze Zeit auf ihn eingeredet, habe versucht ihn wach zu halten und die schlimmsten Verletzungen verbunden. Aber ich glaube, die Angst hat uns beide wach gehalten. Vielleicht habe ich halluziniert, vielleicht waren da aber auch wirklich Ratten, die aus ihren Löchern gekrochen sind. Sie waren genauso ausgehungert wie die Bevölkerung in dieser Stadt.«

  »Großer Gott …«, wisperte ich.

 
Jetzt wurde mir einiges klar. Warum Keith nicht gern über diese Zeit sprach und sie lieber totschwieg. Woher seine Furcht vor Hollys Hamster herrührte. Es hatte nichts damit zu tun, dass ihr erster Hamster ihn einmal gebissen hatte. Dieser Moment war der Grund dafür. Diese zwei Tage in der Hölle, die er zusammen mit seinem Kameraden und den Ratten ausgeharrt hatte. Kein Wunder, dass er alle Nagetiere hasste.

  Ich hob die Hand und strich über seine Wange, bis er mich wieder ansah. Bis Keith wieder hier bei mir war und nicht mehr in der Vergangenheit festsaß.

  »Es tut mir so leid«, flüsterte ich heiser. Zwar hatte ich ihm jahrelang das Schlimmste an den Hals gewünscht, aber das? Nicht mal an meinen tiefsten Tiefpunkten hätte ich ihm so etwas gewünscht. Niemand verdiente es, eine solche Angst durchstehen zu müssen. Eine Angst, die ihn bis heute nicht losgelassen hatte und es vielleicht nie ganz tun würde. »Was ist mit deinem Kameraden passiert?«

  Keith seufzte tief. »Er hat durchgehalten, bis die Rettungskräfte sich zu uns durchgraben konnten und uns rausgeholt haben. Einen Tag später ist er im Lazarett gestorben. Manchmal glaube ich, er wusste, dass er keine Chance hatte und hat nur meinetwegen durchgehalten. Damit ich nicht aufgebe.« Er schüttelte den Kopf und begann wieder, über meinen Arm zu streicheln. Vielleicht brauchte er diese Berührung im Moment sogar mehr als ich. »Danach bin ich gegangen. Sobald wir wieder nach Hause durften, weil eine andere arme Truppe unseren Posten übernommen hat, bin ich ausgetreten und habe nie mehr zurückgesehen.«

  Bis heute. Bis ich ihn danach gefragt hatte. Schuldgefühle regten sich in mir, aber ich drängte sie gnadenlos zurück. Selbstmitleid hatte hier nichts zu suchen und das würde keinem von uns weiterhelfen. Erst recht nicht Keith.

 

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