»Ich liebe meinen Job. Ich fühle mich gern nützlich.«
Was soll ich darauf antworten? Ich glaube, ich weiß, was er meint. Aber ich studiere Modedesign, also kann ich es wohl doch nicht wirklich verstehen. Menschen das Leben zu retten und BHs zu nähen ist nicht ganz dasselbe. Mein Vater ist allerdings Polizist. Und ich habe seine Beweggründe immer respektiert. Auch wenn es fürchterlich ist, sich ständig Gedanken machen zu müssen, ob er abends lebend zurückkommt. Ich weiß nicht, ob ich damit umgehen könnte.
»Ich glaube, ich würde doch lieber über was anderes reden. Zum Beispiel über Babypandas oder Lindsay Lohans letzten Entzug …«
Eine lange Stille folgt. Natürlich machen sich sofort meine Stresssymptome wieder bemerkbar. Sobald niemand mehr redet, fällt mir auf, dass die Kabine viel zu klein ist. Kein Fenster, keine Luftzufuhr, ich habe nicht mal Wasser dabei und – oh Gott – was, wenn ich aufs Klo muss? Ich nehme mir vor, in Zukunft immer eine Flasche dabei zu haben.
Völlig überraschend ist er es, der die Stille bricht:
»Wohnst du hier?«
»Ja.«
»Seit wann?«
»Seit drei Monaten. Letztes Jahr war ich im Studentenwohnheim, aber da hat es mir nicht gefallen, deshalb wollte ich für mein zweites Jahr eine eigene Wohnung mieten.«
»Allein?«
»Was soll die Frage? Bist du etwa ein Serienmörder?«
Er dreht sich zu mir um und betrachtet mich mit einem seltsamen Blick, den ich nicht definieren kann. Wenn ich nervös werde, antworte ich oft, ohne nachzudenken, rede zu schnell, sage einfach irgendwas. Das ist meine Art, mit der Situation umzugehen. Um nicht allein dem Stress ausgesetzt zu sein. Vielleicht auch, um unverblümt die Wahrheit sagen zu können. Nach dem langen Schweigen leide ich jedenfalls unter den Folgen.
Mein Nachbar spricht langsam, als ob er Angst hätte, eine negative Reaktion auszulösen:
»Du bist ein echt komisches Mädchen.«
»Oh danke.«
Ich lasse ein paar wertvolle Sekunden verstreichen, ehe ich antworte:
»Ja, ich wohne allein. Genau genommen mit Mistinguette, meinem Kaninchen. Sie ist ganz schön bissig, deshalb würde ich dir nicht unbedingt empfehlen, dich in meine Wohnung zu schleichen.«
»Warum sollte ich das tun?«, fragt er verwirrt.
»Ich weiß nicht genau, was Serienmörder normalerweise so tun; vielleicht um mich zu beobachten, während ich friedlich schlafe oder unter der Dusche stehe?«
Mein Fahrstuhlfreund beobachtet mich, ohne zu wissen, wie er reagieren soll. Offenbar schwankt er zwischen Grusel und Belustigung. Schließlich entdecke ich ein kleines Lächeln in seinem Mundwinkel – das erste! Er hat ein schönes Lächeln. Mit bezaubernden Grübchen, die meine Finger sofort gern verewigen würden.
»Denkst du manchmal nach, bevor du losquatschst?«
Ich werde rot vor Scham. Er ist nicht der Erste, der mich darauf aufmerksam macht. Aber es ist nicht meine Schuld, sondern ein Mechanismus, der automatisch einsetzt, wenn ich in Panik gerate. Reden hält mich davon ab, über die aktuelle Situation nachzudenken.
»Nicht, wenn ich unter Stress stehe. Bei meiner mündlichen Abiprüfung war ich so aufgeregt, dass ich es mitten in meinem Vortrag über Der große Gatsby für sinnvoll hielt, den Prüfern mitzuteilen, dass Charleston-Kleider ›wirklich sexy sind, auch wenn sie nicht gerade die Titten betonen‹. Ich glaube, da ist die zukünftige Designerin in mir zum Vorschein gekommen. Immerhin hab ich fünfzehn Punkte geschafft, auch wenn ich das Wort ›Titten‹ benutzt habe. Ziemlich gut, der Rest meiner Klasse ist unter vierzehn geblieben.«
Ich höre auf zu reden, um Luft zu holen und auch weil ich merke, dass ich wieder einmal meine Lebensgeschichte erzähle. Glücklicherweise sieht er mich nach wie vor mit diesem leichten Lächeln an. Kaum wahrnehmbar, gerade genug, dass man es erkennen kann.
»Wow«, murmelt er. »Ich hab zwar schon von Mädchen wie dir gehört, aber immer geglaubt, ihr wärt ein Gerücht.«
Ich verstehe nicht. Was soll dieses »Mädchen wie ich« heißen? Ich frage lieber nicht, was er damit meint, da ich fürchte, mich mal wieder lächerlich zu machen. Stattdessen ziehe ich die Knie bis unters Kinn an und denke an Zoé. Inzwischen hat sie mich angesichts der fortgeschrittenen Stunde sicher längst abgeschrieben. Ich frage mich, ob ich nicht lieber wieder nach Hause gehen sollte – über die Treppe, versteht sich. Schließlich habe ich noch eine Menge auszupacken. Ich hasse Umzugskartons.
»Dann wohnst du also auch hier«, sage ich, um das Thema zu wechseln.
»Ja, richtig. Nummer 122. Aber ich würde dir von dem Versuch abraten, mich nackt unter der Dusche zu beobachten.«
Mit der Wange auf den Knien wende ich ihm das Gesicht zu. Es überrascht mich, ihn Witze machen zu hören.
»Ich hab zwar kein Kaninchen, das auf den hübschen Namen Mistinguette hört, aber bei mir wohnt Lucie. Meine Freundin.«
Autsch. Er hat eine Freundin. Natürlich hat er eine. Was dachte ich denn? Ich spüre, wie ich dümmlich erröte. Ich hoffe, er hat das nicht absichtlich gesagt, um mir zu zeigen, dass er nicht an mir interessiert ist. Wie auch immer, ich finde es schade. Er ist nett und sieht gut aus, ist aber in einer Beziehung. Und Männer in Beziehungen sind für mich tabu. Grundsätzlich.
Peinlich berührt tue ich so, als hätte ich seine letzten beiden Wörter nicht gehört.
»Dann kann ich mir wohl demnächst sonntags Mehl von dir leihen. Freut mich, dich kennenzulernen. Wie heißt du?«
Ich strecke ihm unter meinen Knien hindurch die Hand entgegen und er schüttelt sie. Aber wie erwartet lässt er los, ehe ich den Kontakt genießen kann.
»Loan.«
Sofort habe ich Lust, den Namen laut zu wiederholen, um seinen Klang aus meinem Mund zu hören.
»Komischer Name.«
Loan zuckt die Schultern und ich ahne, dass ich nicht die Erste bin, die ihn darauf anspricht.
»Ich nehme an, meine Eltern wollten was Originelles.«
Ich lächle. Im folgenden stummen Moment frage ich mich, wie viele Loans es wohl auf der Welt gibt.
»Und du?«
Ich dachte schon, er würde mich nie fragen.
»Violette.«
»Warum Violette?«
Ich rümpfe die Nase und verziehe halb amüsiert, halb genervt das Gesicht. Sofort senkt er den Blick und schaut weg. Ich fühle mich wie Medusa.
»Weil ich in einem Veilchengarten gezeugt wurde. No comment«, füge ich hinzu, als er eine Augenbraue hebt. »Ich bemühe mich immer noch, diese Anekdote aus meinem Gedächtnis zu tilgen.«
Sein Lächeln im Mundwinkel taucht wieder auf. Es ist mehr, als mein Herz ertragen kann.
»Witzig«, murmelt er, während sein Grinsen wieder schwindet.
»Sich in einem Veilchengarten zu lieben?«
»Nein. Ich finde es lustig, weil du genau danach riechst.«
Endlich hebt er den Kopf und versenkt seine blauen Augen in meinen.
»Nach Veilchen.«
Wir fordern uns einen Moment lang mit Blicken heraus, gerade lang genug, dass meine Netzhaut zu prickeln beginnt, als die Kabine wieder gefährlich in Bewegung gerät. Ich reiße die Augen auf. Das Licht flackert. Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein …
In meiner Not greife ich nach seiner Hand. Ich hätte gedacht, er würde sie mir entziehen, aber überraschenderweise erwidert er meinen Händedruck. Ich will einen Witz machen, um den Rhythmus meines Herzens zu beruhigen, aber es geht nicht. Ich habe wirklich Angst. Das Licht hört auf zu flackern, der Aufzug beruhigt sich … und nimmt seine Fahrt wieder auf.
Loan und ich rühren uns nicht.
»Fährt er runter?«, flüstere ich ungläubig.
»Scheint so.«
Mein Nachbar richtet sich langsam auf und hilft mir, ebenfalls aufzustehen. Meine Hand hat er losgelassen. Aber dieses Mal hatte ich Zeit, die Wärme seiner Haut zu genießen.
»Erdgeschoss«, verkündet die weibliche Stimme in
der Kabine. Kaum haben sich die Türen geöffnet, stürze ich auch schon nach draußen. Ich mache nicht einmal langsamer, um mich zu verabschieden oder ihn zu fragen, wohin er unterwegs ist – ich strebe mit großen Schritten zum Ausgang. Erst auf dem Bürgersteig fühle ich mich, als könnte ich wieder atmen. Ich kehre ins Leben zurück.
Ich lasse die Schultern sinken, schließe die Augen und lege den Kopf in den Nacken. Die Abendluft ist kalt, frisch und köstlich. Ich lasse zu, dass sie in meine Wangen sticht, während meine Brust sich hebt und senkt, hebt und senkt …
»Geht es dir besser?«
Ich wende mich Loan zu, der den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Hals schließt. Er zieht die Schultern hoch und steckt die Hände in die Taschen. Unter der Jacke trägt er schwarze Jeans und ein weißes Hemd. Ich vermute, dass er ebenfalls zu einer Party unterwegs ist. Statt einer Antwort nicke ich nur.
»Ich fahre nie wieder mit diesem Aufzug.«
»Komisch, dass er sich ganz von allein wieder in Bewegung gesetzt hat. Morgen rufe ich mal die Hausverwaltung an und melde den Vorfall, damit sie sich drum kümmern.«
Ich nicke ein zweites Mal. Ich weiß immer noch nicht, ob ich wieder nach Hause gehen oder versuchen soll, die Mädels zu finden. Ein Blick auf mein Handy verrät mir, dass ich vier verpasste Anrufe habe. Das Schlimmste daran ist, dass ich Zoé erzählen kann, was ich will – sie wird mir niemals glauben, dass ich im Aufzug meines Wohnhauses stecken geblieben bin.
»Gut. Bis irgendwann.«
Ich muss lächeln, weil seine Wangen in der Kälte rosig werden.
»Tschüs.«
Er geht als Erster. Irgendwann wende auch ich mich ab und setze mich in Bewegung, während ich meine Freundin anrufe. Kaum fünf Schritte später höre ich ein »Psst!«. Mit gerunzelter Stirn drehe ich mich um. Loan ist stehen geblieben und blickt mich an.
»Wenn du Möbel zusammenbauen musst oder Hilfe mit den Umzugskartons brauchst – du weißt ja, wo ich wohne. Natürlich auch, wenn dir Mehl fehlt.«
Ich nicke mechanisch.
»Vielen Dank.«
Er schenkt mir ein letztes Lächeln. Ein freundliches Lächeln, das ihm sofort Grübchen in die Wangen zaubert.
»Frohes neues Jahr, Violette-Veilchenduft.«
Er wartet nicht auf meine Reaktion und läuft von mir weg. Die Dunkelheit verschluckt ihn, als gehöre er zu ihr. Ich starre in die Schwärze, ohne mich zu rühren. Ein seltsames Gefühl schnürt mir die Brust zusammen.
Lucie, Lucie, Lucie, Lucie, Lucie, Lucie, Lucie.
Wie eine Symphonie. Ich muss schlucken. Er ist in einer Beziehung, und ich lasse die Finger von Männern, die schon vergeben sind. Es ist meine oberste Regel und ich habe nicht die Absicht, sie zu brechen, auch wenn er wirklich süß ist. Trotzdem … sich mit ihm anzufreunden wäre eigentlich nicht schlecht.
Erster Teil
Operation Spargel
1
Heute
Violette
Es regnet.
Klar, ich hätte es wissen müssen. Ich mag Regen, das ist nicht das Problem. Aber wenn ich mit dem Skizzenbuch unter dem Arm aus dem Kurs komme, nein, dann mag ich keinen Regen. Absolut nicht.
Ich renne nach Hause. Ich kann das Haus schon sehen und versuche immer noch, mich mit den Händen zu schützen – was natürlich nicht das Geringste nützt. Ich achte darauf, nicht auf der nassen Straße auszurutschen (das sähe mir ähnlich), und tippe hastig den Code ein. Die ganze Woche stand im Internet, dass es regnen würde, und die ganze Woche habe ich meinen Regenschirm mitgeschleppt. Aber an dem Tag, an dem es gutes Wetter geben sollte – ja, ratet mal!
Genau.
Endlich im Trockenen, wringe ich meine wirren blonden Haare aus, werfe dem Aufzug einen bösen Blick zu – reine Gewohnheit – und steige immer zwei Stufen gleichzeitig nehmend die Treppe hinauf. Seit dem Abend, an dem ich Loan kennengelernt habe, habe ich nicht mehr den Aufzug genommen. Jedenfalls nicht allein. Zusammen mit ihm schon. Auch mit Zoé, selbst wenn ich dabei Todesängste ausstehe, was sie immer wieder auf die Palme bringt. Allerdings braucht es nicht viel, um sie auf die Palme zu bringen.
Wenn man vom Teufel spricht … als ich die Wohnung betrete, sitzt sie im T-Shirt und dicken Wollsocken da. Ihr Outfit für schlechte Tage. Wenigstens bin ich vorgewarnt. Mit leerem Blick sieht sie fern, zumindest nehme ich das an, denn sie zuckt nicht mal, als ich mit der Hand vor ihren Augen herumfuchtle.
»Zoé.«
»Lass mich«, knurrt sie. »Ich mag nicht.«
Ich ziehe die Schuhe aus und stelle sie neben die Wohnungstür, wobei ich einen – wie ich glaube – diskreten Blick auf die Snickers-Verpackungen werfe, die als deutliches Indiz auf dem Tisch liegen. Endlich reißt Zoé sich vom Fernseher los und bedenkt mich mit einem düsteren Blick, der nicht einmal Mistinguette Angst einjagen würde.
»Glaubst du, ich merke nicht, dass du mich verurteilst?«
»Kein Mensch verurteilt dich, Zoé. Höchstens demnächst dein Hintern. Schau nur, was du ihm zumutest, dem armen Kerl.«
»Du kannst mich mal.«
Sie greift nach der rosa Decke – die eigentlich mir gehört –, wickelt sich hinein und widmet ihre Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher. Ich gebe mich für diese Runde geschlagen und hole meine Stoffmuster unter meinem Bett hervor. So läuft es nun schon seit einigen Wochen: Kaum daheim, schon bei der Arbeit. Ich habe nicht nur eine letzte Hausaufgabe für mein Studium abzuliefern, sondern widme mich auch persönlichen Kreationen, die viel Zeit in Anspruch nehmen. Aber ich will mich bestimmt nicht beklagen, denn dieser Arbeit gilt meine ganze Leidenschaft. Etwas aus dem Nichts zu erschaffen ist das schönste Gefühl der Welt.
Außer vielleicht aufgeregtes Herzklopfen, der sanfte Kontakt mit fremder Haut oder die Lust, wenn ein Mann und eine Frau sich lieben. Allerdings habe ich damit noch keine Erfahrung, also lasse ich das erst mal außen vor.
»Zoé«, rufe ich, als ich die leere Kekspackung auf dem Tisch entdecke. »Sag mir, dass du heute nicht nur Süßkram mit Schokoglasur in dich hineingestopft hast. Oder bist du auch auf Gemüse wütend?«
Als Antwort bekomme ich lediglich einen stolz über die Schulter gehaltenen Stinkefinger. Ich werfe die Packung in den Müll und setze mich an den großen Tisch hinter dem Sofa. Okay, es geht ihr heute nicht gut. Aber ist das ein Grund, meine Kekse zu essen?
Am Anfang habe ich allein in dieser Wohnung gewohnt (Mistinguette nicht mit eingerechnet). Dann zog Loan ein, nachdem Lucie ihn verlassen hatte – es lohnte sich nicht, zwei getrennte Wohnungen zu bezahlen, zwischen denen wir jeden Tag ständig hin und her liefen. Kurz darauf behauptete Zoé, ihre Mutter zu hassen, und kam dazu, obwohl die Wohnung nur zwei Schlafzimmer hat.
Nun teilen Zoé und ich uns eines der Schlafzimmer – allerdings ist sie nicht oft zu Hause –, und Loan belegt das zweite. Wenn Zoé Besuch mitbringt, flüchte ich in das Bett meines besten Freundes.
Es ist toll, wenn Zoé Übernachtungsbesuch hat.
Ich will von ihr wissen, ob sie bei ihrer letzten Hausaufgabe Fortschritte gemacht hat, aber wie erwartet ignoriert sie mich. Ich hake nach:
»Zoé, es ist nur zu deinem Besten. Selbst ich quäle mich damit herum, obwohl ich längst angefangen habe.«
»Weil du ungeübt bist, Süße«, antwortet sie, ohne sich zu rühren.
Ich verdrehe die Augen. Seit ich Zoé so gut wie täglich behaupten höre, sie repräsentiere die Zukunft der Mode, hatte ich ausreichend Zeit, mich richtig zu informieren. Aber ich mache mir keine Sorgen, denn Zoé konzentriert sich auf Kaschmirmäntel und Satinkleider für die Catwalks, während ich von Retro-Negligés aus Seide und Bodys aus französischer Spitze träume.
»Ich hab dich gewarnt«, sage ich. Sie kann mir nicht die Laune verderben.
»Ja, ja. Danke Mami.«
Eines muss man über Zoé wissen: Sie ist ein ganz wunderbarer Mensch.
Außer es geht ihr nicht gut.
Dann ist es mit ihr die Hölle. Aber so ist sie nun mal, und ich glaube nicht, dass ich
sie ändern würde, selbst wenn ich könnte. In anderen Situationen ist sie nämlich absolut großartig. Loan begreift übrigens nicht, wie zwei derart unterschiedliche Mädchen beste Freundinnen sein können, aber ich weiß auch nicht, wie ich es ihm erklären soll.
Ich schalte meine Nähmaschine ein und mache mit dem Projekt weiter, das ich vor einer Woche angefangen habe: ein Unterhemd aus leuchtend roter, bestickter Seide.
»Hast du was von Loan gehört?«
Zoé stellt die Frage, ohne mich anzusehen. Ich nutze die Gelegenheit, um klammheimlich nach einem Snickers zu greifen, das das Gemetzel überlebt hat. Indem ich etwas lauter spreche, übertöne ich das Rascheln der Verpackung. In medizinischen Krisensituationen – besser ausgedrückt: bei Menstruationsproblemen – hasst Zoé es, wenn man sich an ihren Süßigkeiten vergreift, die in Wirklichkeit mir gehören. Aber egal.
»Nein, seit seiner Abreise hatten wir keinen Kontakt. Aber ich weiß, dass sie am Samstag zurückkommen.«
Jason und Loan sind im Urlaub. Jawohl, es gibt Menschen, die haben mehr Glück als Verstand.
Endlich wendet Zoé mir das Gesicht zu und schaut mich überrascht an. Ich halte abrupt inne, weil ich gerade im Begriff war, mir das Corpus Delicti in den Mund zu stecken, aber sie scheint es nicht einmal zu merken. Vorsichtshalber bewege ich mich immer noch nicht, weil ich nicht recht weiß, ob ich die Bewegung zu Ende bringen oder das Snickers ganz langsam wieder auf den Tisch legen soll.
»Wie kann das sein?«
»Wie meinst du das?«
»Du hast tatsächlich seit anderthalb Wochen nicht mit Loan gesprochen?« Ihr Ton verrät Misstrauen.
Ich ärgere mich, weil sie offenbar glaubt, dass ich ohne ihn nicht leben kann, kneife die Augen zusammen und vertilge den Schokoriegel ohne weitere Skrupel. Aber meine kindische Rache verpufft, weil ich feststelle, dass sie gar nicht hinschaut.
»Richtig.«
»Und du lebst noch?«
»Warte kurz«, murmle ich, reiße die Augen auf und taste jeden Teil meines Körpers ab. »Ja! Ja, ich lebe!«
Never Too Close Page 2