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Never Too Close

Page 4

by Moncomble, Morgane


  2

  Heute

  Violette

  Clément: Was machst du gerade?

  Ich: Ich arbeite an meinen Kreationen.

  Clément: Ah cool! Kleider?

  Ich: Diese leicht sexistische Bemerkung ignoriere ich mal, okay?;) Nein, keine Kleider.

  Clément: Autsch! Das war keine Absicht. Hosen?

  Ich: Netter Versuch. Nein. Damenunterwäsche.

  Clément: Afkdjkolkfen? djk! lmedfc!!!!! Das MUSS ich sehen.

  Ich lache laut auf, als ich seine Nachricht lese. Nach fünf Tagen, an denen wir uns fast täglich getroffen haben, schulde ich ihm die Wahrheit. Allerdings glaubt er immer noch, dass ich mit zwei Mädchen zusammenwohne. Das sollte ich besser bald klären. Ich mag ihn nämlich. Sehr sogar. Nach unserem ersten Treffen im Restaurant hat er nicht etwa wegen eines dämlichen Männer-Prinzips drei Tage gewartet, ehe er mich kontaktiert hat, sondern gerade mal eine Stunde. Eine Stunde! Deshalb musste ich Zoé erzählen, was im Restaurant passiert war.

  Natürlich stellte sie mir jede Menge Fragen, die nicht unbedingt alle hilfreich waren, und gab mir am Ende Flirttipps, um die ich sie weiß Gott nicht gebeten hatte. Wie auch immer. Jedenfalls habe ich festgestellt, dass man in fünf Tagen ziemlich viel über jemanden erfahren kann.

  Ich weiß zum Beispiel, dass er einen Bachelor am Institut Supérieur du Commerce in Paris macht, dass er ebenfalls mit zwei Freunden (einem Holländer und einem Deutschen) zusammenwohnt, dass sein Vater ihm viel Druck macht und dass er Sport liebt; Tennis spielt er sogar auf einem Listenplatz. Oh, und dass er wirklich süß ist. Das ist immer noch die Hauptsache.

  Diese Woche verbringe ich den Samstagabend allein in meinem Zimmer. Ich nähe das vor einiger Zeit begonnene rote Seidenunterhemd fertig, während Zoé das Abendessen vorbereitet.

  »Scheiße«, knurre ich, als ich mir mit der Nadel in den Finger steche.

  Ich lecke den Blutstropfen ab, der sich auf meiner Haut gebildet hat und breite meine Abschlussarbeit auf meinem Bett aus. Ich lächle, denn ich bin stolz auf mich. Es ist genau so geworden, wie ich es mir vorgestellt hatte – so gewagt und sexy, dass ich es am liebsten behalten würde.

  Sorgfältig hänge ich es auf einen Bügel in meinen Schrank, neben zwei Bodys, ein Mieder mit Strapsen, ein Negligé und einen Kimono. Ich habe noch viel Arbeit vor mir, um das zu erreichen, was ich will: einen Praktikumsplatz bei der Dessousfirma Millesia. Das ist mein wichtigstes Ziel und dafür lege ich mich ins Zeug.

  Gähnend ziehe ich mich aus und streife mir die Baumwollshorts und das ausgeleierte Tanktop über, in denen ich schlafe. Als ich mein Haar zu einem lockeren Dutt hochbinde, höre ich das Geräusch eines Schlüssels im Schloss. Ich halte in der Bewegung inne und warte, bis ich ganz sicher bin.

  Die Wohnungstür fällt ins Schloss. Loan!

  Ich eile aus dem Zimmer und renne barfuß durch den Flur. Als ich ihn sehe, kann ich mir ein breites Grinsen nicht verkneifen; er ist wieder da, hat eine riesige Tasche über der Schulter, trägt ein T-Shirt und hat klatschnasses Haar. Jason ist auch mitgekommen, steht neben ihm und beschwert sich über das Wetter.

  »Ich hab dir ja gesagt, wir hätten dort bleiben sollen.«

  Als würde er meine Anwesenheit spüren, hebt Loan den Kopf und wendet mir seinen Blick zu. Er hat gerade noch Zeit, seine Tasche abzusetzen und kurz zu lächeln, als ich ihn auch schon anspringe. Er zieht mich an sich. Seine Hände streicheln meinen Rücken und seine Nase steckt in meinem Haar. Erst jetzt wird mir klar, wie sehr ich ihn vermisst habe.

  »Du hast recht, du wärst besser dort geblieben«, sagt Zoé zu Jason.

  Loan und ich bleiben einige Sekunden ineinander verhakt. Meine Arme liegen um seinem Hals und meine Beine umklammern seine Taille, als wäre ich ein Äffchen.

  »Du hast mir gefehlt«, flüstere ich ihm zu.

  »Du mir auch, Violette-Veilchenduft.«

  Ich lächle mit geschlossenen Augen an seinem Hals.

  »Ach ja, Zoé … Ich hatte dich gar nicht gesehen«, spottet Jason und setzt sich auf die Couch. »Immer noch in der Nähe des Kühlschranks, wie ich sehe.«

  Ich verdrehe die Augen. Sie fangen schon wieder an! Dazu muss man eins wissen: Die beiden können sich nicht ausstehen. Aber so was von! Jason ist Loans bester Freund. Sie kennen sich seit der Schulzeit. Aber von dem Augenblick an, als er ihn uns vorstellte, haben er und Zoé sich gehasst, und zwar völlig grundlos.

  »Lässt du mich mal los?«, flüstert Loan mir ins Ohr.

  Ich schüttle den Kopf wie ein Kind und schnüffle an seinem T-Shirt. Es riecht nach Regen. Ich liebe den Duft von Regen.

  »Na gut.«

  Tatsächlich lockere ich meine Umarmung nicht; ich habe ihm so viel zu erzählen! Ohne ihn ist das Leben viel weniger schön. Okay, Zoé hat recht, von außen betrachtet wirkt das alles ziemlich undurchsichtig. Ich bin zum Beispiel überzeugt, dass mein Vater es nicht verstehen würde, wenn er sehen würde, wie wir miteinander umgehen. Aber er gehört einer anderen Generation an! Leute in unserem Alter haben andere und engere Beziehungen zwischen Mann und Frau als es früher der Fall war. Bei Loan und mir ist es so. Uns verbindet eine extrem enge Freundschaft, was aber nichts zu bedeuten hat.

  Loan bückt sich, hebt seine Tasche auf und schleppt uns in sein Zimmer. Im Flur höre ich Jasons Stimme, die jetzt viel weniger aggressiv klingt:

  »Okay, es war nicht nett, das zu sagen … Entschuldige bitte … und jetzt leg das Messer hin … gut so …«

  Mein bester Freund stößt die Tür zu seinem Zimmer mit dem Fuß auf und wirft mich aufs Bett wie einen Kartoffelsack. Ich lasse ihn los und lande auf der weichen grauen Bettdecke.

  »Du bist ein wahrer Gentleman, vielen Dank.«

  Er kreuzt die Knöchel zu einem ironischen Hofknicks, der mich zum Lächeln bringt. Dann geht er in die Hocke und öffnet seine Tasche. Ich mache es mir im Schneidersitz auf dem Bett bequem, als eine kleine weißflauschige Kugel an der Türschwelle auftaucht.

  »Ja, wen haben wir denn da?«, ruft Loan und streckt die Hand aus.

  Mistinguette hoppelt auf ihn zu und wackelt mit der Nase, wie sie es gern tut. Kleine Schleimerin! Ich verdrehe die Augen. Loan nimmt sie in eine Hand, schmiegt sie an seine Brust und streichelt sie. Ich schaue mit viel Zärtlichkeit, aber auch ein wenig gereizt zu.

  »Na toll, jetzt bist du zurück und sie will wieder nichts mehr von mir wissen.«

  So ist es immer. Diese Mistinguette weiß, wie man gut lebt. Wenn Loan zu Hause ist, bin ich Luft für sie. Aber sobald er geht, werde ich wieder zu ihrem lieben Gott.

  Loan zwinkert mir auf seine unnachahmliche Art zu – ohne zu lächeln. Man muss wissen, dass er nur selten lächelt, ebenso wie er immer sehr leise spricht, was es schwierig macht, ihn zu durchschauen. Gerade zu Beginn unserer Freundschaft hat mich diese Tatsache oft verwirrt, weil ich nie wusste, was er dachte und ob er mich mochte oder nicht. Tatsächlich ist es so, dass sein Gesichtsausdruck nur selten seine Gefühle enthüllt. Andererseits muss man ihm nur in die Augen schauen, um zu wissen, was er denkt.

  »Alle weiblichen Wesen stehen auf meine Zärtlichkeiten. Ich kann nichts dafür.«

  Ich muss lächeln und frage ihn endlich, wie sein Urlaub war. Er hebt eine Schulter und schmust weiter mit Mistinguette.

  »Sehr erholsam. Zumindest dann, wenn Jason nicht versucht hat, mich in Stripclubs zu schleppen.«

  »Das konnte dir natürlich nicht erspart bleiben.«

  »Ich habe mich so gut wie möglich gewehrt«, verteidigt er sich.

  »Ja natürlich! Hast du wenigstens darauf geachtet, dass er niemanden schwängert?«

  Er lacht auf, was mich auch nach einem Jahr noch überrascht. Sein Lachen ist irgendwie immer wie ein Wunder. Jedenfalls erwärmt es jedes Mal mein Herz.

  »Ich muss gestehen, dass ich ihn mehrmals allein gelassen habe … Und du? Alles okay, während ich weg war?«

  Ich verdrehe die Augen und wälze mich auf den Bauch.

  »Eigentlich laut
et deine Frage: ›Und du? Hast du nichts abgefackelt, während ich weg war? Fehlt dir auch kein Lungenflügel?‹«

  Seine Wange erbebt und kündigt ein weiteres Lachen innerhalb von weniger als drei Minuten an. Das wäre ein echter Glücksfall! Doch leider hält er sich zurück und begnügt sich mit einem amüsierten Grinsen.

  »Entschuldige, aber ich kenne dich, Violette. Du bist meine persönliche kleine Dyspraxie«, fügt er mit einem Ausdruck hinzu, der mich offenbar beschwichtigen soll.

  Ich werfe ihm einen giftigen Blick zu. Ich hasse es, wenn er mich damit aufzieht. Okay, ich bin ein bisschen ungeschickt, aber es ist nichts Pathologisches. Zumindest hoffe ich das. Vielleicht sollte ich demnächst mal meinen Hausarzt anrufen …

  »Vielleicht bin ich ein bisschen tollpatschig, aber keinesfalls krank!«, rebelliere ich. »Immerhin ziehe ich meine Oberteile richtig herum an, kann mir die Schuhe zubinden und mir was zu trinken einschenken, ohne dass ich es verschütte.«

  »Okay, okay … Aber hast du wirklich noch beide Lungenflügel?«

  »JA!«

  Er lässt Mistinguette los und hebt kapitulierend die Hand.

  »Schon gut. Ich hab nur gefragt.«

  Wir schweigen. Mit seinen schlanken Fingern streichelt er Mistinguette. Die Kleine hat echt Glück. Es tut gut, sich verwöhnen zu lassen.

  »KOMMT ESSEN, EHE ICH HIER EINEN MORD BEGEHE!«, schreit Zoé plötzlich vom anderen Ende der Wohnung. Ups! Mir wird klar, dass wir Jason und Zoé etwas zu lange allein gelassen haben. Das verheißt nichts Gutes …

  Wir flitzen ins Wohnzimmer und fürchten bereits, eine apokalyptische Szenerie vorzufinden. Aber Jason steht wunderbarerweise aufrecht an der Tür, und so wie es aussieht, befindet sich jeder Teil seines Körpers noch dort, wo er hingehört. Zoé ist gerade dabei, den Tisch zu decken. Es riecht köstlich nach Spaghetti Bolognese. Ich habe das Gefühl, dass die gewohnte Routine wieder einsetzt, und ich bin froh darüber.

  Doch dann stelle ich fest, dass Jason uns Zeichen macht. Offensichtlich ist ihm etwas unangenehm.

  »Leute, ich habe noch was anderes vor und kann leider nicht zum Essen bleiben …«

  »Schon gut, Idiot!« Zoé verdreht die Augen. »Du kannst bleiben. Ich muss sowieso weg.«

  Sofort breitet sich ein siegreiches Lächeln auf Jasons Gesicht aus und er setzt sich. Ich runzle die Stirn und wende mich an meine beste Freundin. Dabei spüre ich, dass Loan uns anstarrt.

  »Wo gehst du hin?«

  »Ich treffe mich mit jemandem«, antwortet sie und wirft mir unseren geheimen Blick zu, den nur wir beide verstehen.

  Er bedeutet, dass sie vielleicht nicht allein nach Hause kommt.

  Ich nicke kaum merklich und ignoriere Jason, dessen unanständige Geste ich aus dem Augenwinkel wahrnehme. Loan wirft ihm einen bitterbösen Blick zu. Sofort hört Jason auf.

  »Okay, dann bis morgen.«

  Skeptisch sehe ich zu, wie Zoé in ihren Mantel schlüpft. Ich mag es nicht, wenn sie mit Männern ausgeht, ohne mir genau zu sagen, wohin. Es ist albern, aber ehe sie die Wohnung verlässt, merke ich mir genau, was sie anhat. Nur für alle Fälle.

  Ein schwarzes Kleid mit Ausschnitt, gleichfarbige Stiefeletten und einen weißen Schal. Sie sieht toll aus.

  Schwarz und Weiß betonen das Rosa ihres schräg geschnittenen Bobs. Ich stelle fest, dass sie den Ring ihres Nasenpiercings gewechselt hat. Es steht ihr gut.

  »Küsschen«, ruft sie mir zu, ehe die Tür hinter ihr ins Schloss fällt.

  Ich kehre an den Tisch zurück. Die Jungs haben mit dem Essen nicht auf mich gewartet. Ich bediene mich und frage sie, ob sie sich ohne uns überhaupt anständig ernährt haben. Loan hat den Mund voll und lässt seinen Freund antworten:

  »Mein Kumpel und ich hatten andere Dinge zu tun, nicht wahr?«

  »Nein, überhaupt nicht wahr«, antwortet Loan und säbelt sich ein Stück Brot ab.

  Ich lache über Jason, der mir diskret signalisiert, nicht auf Loan zu hören. Auch wenn er versaut, kurz angebunden und ein ziemlicher Macho ist, habe ich Jason richtig gern. Denn trotz alledem ist er lässig, total lustig und dazu auch noch sehr intelligent. Er studiert Politikwissenschaft an der Uni. Verrückt, oder? Wer hätte gedacht, dass dieser Freak einen scharfen Verstand hat?

  Während des Abendessens spielt er den Alleinunterhalter und erzählt mir die seiner Meinung nach lustigsten Anekdoten von ihrem Urlaub auf Bali. Nachdem wir unsere Teller leer gegessen haben, helfe ich meinem besten Freund, alles zur Spüle zu tragen, und überlasse ihm den Abwasch. Er weiß, dass ich nicht gern spüle. Ich kann kochen, Wäsche waschen und putzen, aber ich mag nicht abwaschen.

  Ich setze mich zu Jason auf die Couch und seufze vor Müdigkeit.

  »Ich habe diese Woche viel für die Uni zu tun, aber hättet ihr vielleicht Lust, am Freitag feiern zu gehen? Wir könnten mal wieder in einen Club«, schlägt Jason vor.

  »Was gibt es denn zu feiern?«

  »Jason ist jeder Vorwand recht, um in einen Club zu gehen«, belehrt Loan mich aus der Küche.

  »Ach ja, die Spaßbremse ist wieder da …«

  »Warum nicht?«, gebe ich zurück. »Ich würde gern mal wieder tanzen!«

  Über die Schulter werfe ich Loan einen Blick zu. Er schaut mich ungerührt an. Stumm frage ich ihn, ob er auch Lust dazu hat oder ob er lieber mit mir vor Netflix abhängen mag. Ebenso wortlos gibt er mir zu verstehen, dass er bereit ist, auszugehen. Zumindest solange die Dinge nicht außer Kontrolle geraten. Das ist grundsätzlich Loans einzige Bedingung.

  Dass nichts außer Kontrolle gerät.

  Mit breitem Lächeln wende ich mich wieder an Jason.

  »Sag mal, wie viel bekommt eine Stripperin auf Bali denn so?«

  Jason ging gegen Mitternacht, nachdem er mir jedes Detail der letzten beiden Wochen erzählt hatte. Darunter war einiges, das ich noch immer zu vergessen versuche, und anderes, von dem ich mir sicher bin, dass es mich bis ans Ende meiner Tage verfolgen wird. Genau wie Zoé fehlt ihm jegliches Schamgefühl, was im Alltag manchmal echt problematisch ist.

  Nach dem Abwasch hatte Loan sich zu uns auf die Couch gesetzt, mir den Arm um die Schultern gelegt und meinen Haaransatz im Nacken gestreichelt. Aber er hörte nicht zu, sondern starrte auf den Fernseher. Trotzdem war ich fast sicher, dass er auch nicht fernsah. Nachdem sein Freund gegangen war, verschwand er in seinem Zimmer, vermutlich um seine Sachen auszupacken.

  Ich schalte den Fernseher und das Licht im Wohnzimmer aus, dann gehe ich zu ihm. Wie vermutet, räumt er gerade saubere Wäsche in seinen Schrank ein. Mit verschränkten Armen lehne ich mich an den Türrahmen. Er dreht sich noch nicht um, aber er spürt offenbar meine Anwesenheit und fragt:

  »Wo ist Zoé hin?«

  Ich runzle die Stirn, denn das hatte ich nicht erwartet.

  »Keine Ahnung.«

  »Eigentlich müsstest du inzwischen begriffen haben, dass du nicht lügen kannst. Ernsthaft, Violette, dein Gesicht verrät alles, was du denkst.«

  Was? Überrascht und verwirrt schaue ich ihn an. Aber sein Ton klingt keineswegs anklagend, und ich weiß, dass er mir nichts übel nimmt. Er ist lediglich neugierig. Nur habe ich tatsächlich keine Ahnung, wo sie steckt. Außerdem ist sie inzwischen vier Stunden unterwegs und ich habe immer noch nichts von ihr gehört. Das gefällt mir gar nicht.

  »Ich schwöre es dir! Wie kommst du darauf?«

  Endlich dreht er sich zu mir um. Der Ansatz eines kleinen Lächelns liegt auf seinen Lippen.

  »Ich habe euch gesehen. Es ist wie bei dir und mir, ihr könnt euch verständigen, ohne den Mund zu öffnen.«

  Erleichtert lache ich auf. Jetzt weiß ich, worum es geht, und lasse mich mitten aufs Bett plumpsen.

  »Okay, kalt erwischt. Aber ich weiß wirklich nicht, wo sie ist … Sie hat mir nur zu verstehen geben, dass sie vielleicht nicht allein nach Hause kommt.«

  Er nickt und packt die jetzt leere Tasche in die unterste Schublade seiner Kommode.

  »Hm. Dann schläfst du also heut
e Nacht hier.«

  Ich nicke und grinse ihn frech an.

  »Auf der rechten Seite.«

  »Du nervst, Violette.«

  Ich setze mein Engelslächeln auf. Er schnappt sich ein Kissen und wirft es nach mir. Ich weiß, dass er nur auf der rechten Bettseite am Fenster schlafen kann. Als ich ihn irgendwann mal nach dem Grund gefragt habe, hat er gesagt: »Ich weiß nicht … Wenn mal was passiert, ist das Fenster der einzige Fluchtweg. Ich finde es beruhigend.« Ich wollte ihn dann aber lieber nicht fragen, was passieren könnte, damit man durchs Fenster flüchten müsste.

  »Na gut, ich überlasse sie dir.«

  Er reibt sich das Gesicht und gähnt.

  »Entschuldige, aber ich bin hundemüde …«

  »Ist wirklich alles in Ordnung? Du hast heute Abend abwesend gewirkt.«

  Er schaut mir tief in die Augen und erkennt darin all die Sorgen, die ich mir um ihn mache. Mit einem beruhigenden Grinsen umrundet er das Bett und nimmt mich in seine kräftigen Arme. Ich lasse mich an seine Brust sinken und lege die Wange auf den festen Muskel.

  »Keine Sorge. Ich bin nur erschöpft. Und morgen Abend muss ich wieder arbeiten.«

  »Superman ist wieder im Einsatz«, murmle ich.

  Mein Blick fällt auf die Militärmarke um seinen Hals. Ich schmiege mich an sein T-Shirt, greife nach dem Anhänger und betrachte ihn, als wäre es das erste Mal. Loan nimmt ihn niemals ab. Ich bin sicher, er behält ihn sogar unter der Dusche an. Es ist die Soldatenmarke seines Großvaters, der im Algerienkrieg gefallen ist. Loan hat ihn nicht gekannt, aber ich weiß, dass ihm an dieser Marke viel liegt.

  Plötzlich schreckt uns ein Geräusch auf. Wir wissen sofort, was es ist. Hastig wenden wir uns zur Schlafzimmertür und öffnen sie vorsichtig. Ich gehe in die Hocke, um hinauszulinsen, Loan tut dasselbe über mir.

  Zoé ist heimgekommen. Wie erwartet ist sie nicht allein. Jemand presst sie gegen die Wand des Korridors und ihre Hände zerwühlen die Haare eines unbekannten Mannes, der sie so geräuschvoll küsst, dass Zoé ihn bittet, leiser zu sein, weil »ihre Mitbewohner schlafen«. Ja klar, wir schlafen.

  Er nickt hastig, ehe er ihr das Kleid über die Hüften nach oben schiebt und seine Hand in ihr Höschen gleitet. Mit der anderen knetet er grob ihre Brust. Ich verziehe das Gesicht und flüstere Loan zu:

 

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