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Never Too Close

Page 31

by Moncomble, Morgane

Meine Gedanken wandern weiter, während Violette durch die Kanäle zappt. Nichts scheint ihr zu gefallen. Ich denke gerade an Lucie, als die beunruhigende Stimme einer Nachrichtensprecherin meine Aufmerksamkeit fesselt.

  »… im Industriegebiet von Paris, in Gennevilliers, der unseren Quellen zufolge bereits vor zehn Minuten ausgebrochen ist.«

  Ich runzle die Stirn. Eine Eilmeldung des Senders BFMTV. Ich will Violette gerade bitten, den Ton lauter zu stellen, als sie es bereits von selbst macht und sich alarmiert aufrichtet. Die Atmosphäre scheint sich plötzlich rapide abzukühlen.

  »Allem Anschein nach handelt es sich um ein zufälliges Übergreifen der Flammen, nachdem eine Gruppe Jugendlicher ein Auto angezündet hatte. Nähere Angaben dazu erhalten wir jedoch erst, wenn das Feuer unter Kontrolle ist.«

  Das Bild der Sprecherin weicht plötzlich einem verheerenden Flammeninferno. Ein Amateurvideo zeigt das brennende Industriegebiet von Paris – ein deprimierendes Schauspiel. Violette neben mir erstarrt und schlägt erschrocken die Hand vor den Mund. Sie weiß ebenso gut wie ich, was das bedeutet. Ein Gebäude ist schon schlimm genug. Aber das Industriegebiet ist wirklich das Letzte, was in dieser Stadt brennen darf.

  »Soeben erfahren wir, dass alle Pariser Feuerwehren ihre Mitglieder vor Ort berufen.«

  Eine schier endlose Sekunde vergeht in fast andächtigem Schweigen. So plötzlich wie das letzte Stündlein schlägt, vibriert mein Handy auf dem Couchtisch.

  32

  Heute

  Violette

  Mir ist, als hätte ich bei den Worten der Reporterin, alle Pariser Feuerwehrleute würden zum Brandort gerufen, aufgehört zu atmen. Als dann Loans Handy auf dem Couchtisch vibriert, bleibt mein Herz fast stehen. Zum ersten Mal in dieser Woche blicken Loan und ich uns an. Und wir verstehen.

  Ich bleibe wie versteinert sitzen und mir wird übel, während er sofort reagiert und aufspringt. Im Handumdrehen hat er sein Handy am Ohr und ist bereits auf dem Weg in sein Zimmer.

  »Ja? Nein, ich habe meinen Pager in meiner Tasche gelassen …«

  Ich lasse die Fernbedienung los und folge Loan mit großen Schritten. Mein Herz ist wieder aufgewacht und pocht mir bis zum Hals. Innerlich bete ich, während ich zusehe, wie er sich in aller Eile anzieht. Bitte, er soll nicht gehen, lass ihn nicht gehen …

  »Was ist?«, frage ich gepresst.

  Plötzlich ist nichts mehr wichtig. Weder unser Streit, noch Lucie, nichts. Es gibt nur noch ihn und mich.

  »Das war mein Chef. Ich muss sofort los.«

  Ich sehe zu, wie er sich beeilt und wie ein Tornado durch sein Zimmer fegt. Erschüttert und reglos stehe ich einfach da. Es ist nicht das erste Mal, dass ich miterlebe, wie er zu einem Einsatz die Wohnung verlässt. Aber dieses Mal habe ich eine böse Vorahnung. Dieser Blick, den er mir zuwarf, ehe er nach dem Handy griff … Ich hasse ihn.

  »Loan, es ist zu gefährlich. Können sie nicht jemand anders schicken?«, flehe ich ihn an, während er in seine Stiefel schlüpft.

  Mit gerunzelter Stirn blickt er zu mir auf.

  »Jemand anders? Das ist mein Job, Violette.«

  »Ich will nicht, dass du gehst«, hauche ich kaum hörbar.

  Plötzlich blickt er mir tief in die Augen. Er versteht, dass ich einen Trost brauche, ein Versprechen. Nämlich dass er zurückkommen wird. Zu wem auch immer – ich will nur, dass er zurückkommt. Danach darf er mir ruhig weiter böse sein – ganz egal.

  Sein Gesicht wird weich. Mit rauer Stimme sagt er:

  »Wird schon gut gehen, Violette-Veilchenduft.«

  Instinktiv schließe ich die Augen und genieße diesen Kosenamen, den ich schon eine Weile nicht mehr gehört habe. Viel zu lang. Ich nicke und öffne die Augen wieder. Er ist bereit.

  Loan steckt sein Handy in die Tasche und lässt mich hilflos mitten im Wohnzimmer stehen. Doch als er gerade die Wohnungstür hinter sich schließen will, flucht er und dreht sich um. Mit besorgtem Blick kommt er auf mich zu. Als er so nah bei mir ist, dass unser Atem sich vermischt, nimmt er seine Halskette ab und legt sie mir um den Hals. Ich bemühe mich nach Kräften, nicht zu schluchzen, und greife mit beiden Händen nach der Militärmarke. Er lässt sie nicht sofort los, sondern klammert sich daran wie an sein Leben.

  »Pass heute Abend für mich darauf auf, okay?«

  Ich habe keine Ahnung, was da gerade passiert. Ich versenke meinen Blick in das umwerfende Blau seiner Augen und nicke. Er bleibt so kühl wie immer, aber ich spüre, dass seine Maske Risse bekommt. Ich wünschte, sie würde zerbrechen, ich wünschte, ich dürfte sein wahres Gesicht sehen. Nur für alle Fälle. Für den Fall, dass ich ihn nie wieder sehe.

  »Also dann.«

  Plötzlich liegt seine Hand in meinem Nacken und seine Lippen pressen sich hart auf meinen Mund. Sein Kuss ist fest, ganz anders als die Zärtlichkeit, die ich bisher von ihm kannte. Es dauert nur ein paar Sekunden, aber in diesem kurzen Moment kann ich auch jene Gefühle erkennen, die sein Gesicht nicht preisgibt. Dringlichkeit und Angst.

  Ich habe kaum Zeit, den Kontakt seiner vollen Lippen zu genießen, denn er löst sich bereits von mir und eilt davon, ohne mich ein letztes Mal anzusehen. Ich habe weiche Knie und meine Lippen brennen. Ich halte die Finger daran, weil ich hoffe, so ihre Wärme bewahren zu können. Doch die Erinnerung an seinen Mund verschwindet ebenso wie er selbst: schnell und ohne Vorwarnung. Ein bisschen so, wie wenn man sich verliebt. Oder wenn man stirbt.

  Ich zwinge meinen Körper, sich zu bewegen, gehe zurück zur Couch und mache den Fernseher lauter. Alle bisherigen Informationen werden noch einmal wiederholt, dennoch höre ich aufmerksam zu. Warum zum Teufel habe ich mich nicht an ihm festgebunden?!

  Mein Handy vibriert. Ich stürze mich geradezu darauf.

  »Violette!«, schreit Zoé mir ins Ohr. »Schalte auf BFM!«

  »Ich weiß, es läuft schon seit einigen Minuten. Loan ist gerade gerufen worden.«

  »Scheiße«, flucht sie erschrocken. »Das klingt nach einer ziemlichen Katastrophe.«

  Ich will nicht, dass sie mich auf etwas hinweist, was mir ohnehin zu schaffen macht. Mir ist längst klar, was Sache ist. Loan wollte eigentlich nicht sagen: »Pass heute Abend für mich darauf auf«, sondern »Behalte sie, falls ich nicht zurückkomme«. Ich schlucke meine Tränen hinunter und stelle fest, dass ich die Marke nicht losgelassen habe. Meine Hände umklammern sie so fest, dass meine Fingerknochen weiß hervortreten.

  Zoé stellt das Gespräch auf Lautsprecher, damit auch Jason mithören kann.

  »Das wird schon, Vio«, beruhigt er mich. »Er lässt sich nicht unterkriegen.«

  Tief im Inneren weiß ich, dass die beiden recht haben. Loan hat so etwas Dutzende Male gemacht, vermutlich öfter. Er ist mutig, stark und vernünftig. Er macht keine Dummheiten. Er ist ein ausgezeichneter Feuerwehrmann. Ich beruhige das Pochen meines Herzens und atme langsam.

  »Soeben wurden wir informiert, dass sich derzeit mehrere Einsatzteams bemühen, das Feuer unter Kontrolle zu bringen, das sich innerhalb weniger Minuten rasant ausgebreitet hat«, sagt die Reporterin mit dem blonden Bob. »Laut Brandinspektor Martins von der Pariser Feuerwehr erweist sich der Einsatz als besonders heikel, weil in den Lagerhäusern brennbare Flüssigkeiten aufbewahrt werden.«

  Ich höre, wie Jason leise flucht und Zoé ihn anfährt, er solle den Mund halten. Sie will nicht, dass ich in Panik gerate. Nur leider ist es schon zu spät.

  Das Fernsehen zeigt jetzt Bilder vom Brandort und Feuerwehrleute, die kaltblütig ihrer gefährlichen Arbeit nachgehen. Ich beobachte jedes Detail. Die Flammen, die bereits aus dem Dach lecken, der dichte schwarze Rauch, der sich überall ausbreitet, das knisternde Geräusch des Todes, das bei mir Beklemmung verursacht. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr rote Einsatzfahrzeuge versammeln sich auf dem Gelände.

  Die Journalistin berichtet mit stoischer Ruhe, dass sich niemand auf dem Gelände aufhielt, als das Feuer ausbrach. Das ist immerhin eine gute Nachricht. Andererseits lodern die Flammen mehr als dreißig Meter hoch, was ziemlich heftig ist.
/>   »Das gesamte Gebiet wurde weiträumig gesperrt, um die Löscharbeiten nicht zu beeinträchtigen. Guten Abend, Monsieur, Sie haben den Alarm ausgelöst. Können Sie uns mehr erzählen?«

  Ich höre Zoé nicht mehr zu, sondern lausche dem Augenzeugen. Plötzlich fällt mir ein, dass Loan gegangen ist, ohne dass ich ihm meine Liebe gestehen konnte, und verfalle in Panik. Ich habe noch nie »Ich liebe dich« gesagt. Niemals. Weder zu Émilien noch zu Clément. Ich wollte es erst tun, wenn ich mir ganz sicher wäre, denn es sollte endgültig sein.

  Und ich liebe Loan. Aber ich habe nichts gesagt. Er ging sein Leben riskieren und dachte, ich würde ihn hassen.

  »Zoé … Zoé, er muss zurückkommen«, flüstere ich und verdränge meine Tränen.

  »Ich weiß, Vio. Er kommt zurück, da bin ich mir ganz sicher.«

  »Nein, du verstehst nicht. Er muss zurückkommen. Ich habe ihm nicht gesagt, dass ich ihn liebe!«, gestehe ich in die verdutzte Stille und füge hastig hinzu: »Er muss wissen, dass ich ihn liebe, bevor er stirbt, er kann doch nicht einfach so davonlaufen, um den Helden zu spielen, während er denkt, dass ich ihm böse bin, dass ich ihn hasse, das ist unmöglich, es ist unmöglich, weil ich nämlich in ihn verliebt bin und er es nicht einmal weiß! Was, wenn er stirbt? Mein Gott, wenn er jetzt stirbt! Ich will nicht, dass er stirbt und denkt, ich wäre nur eine egoistische Blondine, oder eben nur das Mädchen, das seine Beziehung zu Lucie versaut hat, verstehst du? Ich will nicht, dass sein letztes Bild von mir das eines dummen Kindes ist, das immer für zwei isst und redet ohne nachzude…«

  »Violette«, unterbricht mich Jason mit ruhiger Stimme, die ich so nicht von ihm kenne.

  Ich umklammere die Kette um meinem Hals noch ein wenig fester und hole Luft. Die Stille am Telefon spricht für sich. Tatsächlich bin ich viel zu verunsichert, um zu begreifen, dass ich mich gerade verraten habe.

  »Er weiß das alles«, beruhigt Jason mich. »Zumindest weiß er, dass du nicht die egoistische Blondine bist, die seine Beziehung zu Lucie versaut hat. Tatsächlich hat es in ihrer Beziehung schon lange vor deinem Auftauchen ziemlich gekriselt, und ich kann dir auch versichern, dass Loan bestimmt zurückkommt. Er kommt immer zurück.«

  Ich antworte nicht und klammere mich an seine beruhigenden Worte. Ich würde mich gern bei ihm bedanken, aber ich fürchte, ich breche in Tränen aus, sobald ich den Mund öffne. Die Journalistin berichtet weiter, während ich nervös mit dem Fuß wippe.

  »… in der Tat Ähnlichkeiten mit dem noch nicht lang zurückliegenden Brand in Cergy, wie …«

  Plötzlich wird die Journalistin von einer heftigen Explosion brutal unterbrochen. Ich fahre zusammen, während sich die Flammen zu einem geradezu perfekten Kreis ausbreiten, viel heller und höher als zuvor. Ich reiße erschrocken die Augen auf. Meine Hand fährt zu meinem Mund.

  »Heilige Scheiße«, keucht Zoé am Telefon.

  Die Journalistin hat sich reflexartig zusammengekauert, richtet sich aber sofort mit der Hand am Kopfhörer wieder auf.

  »Offenbar ist gerade ein Benzintank explodiert.«

  Schreckensstarr verfolge ich die Szene. Weitere Feuerwehrleute hasten mit Schläuchen zum Explosionsort.

  »Soeben erfahre ich, dass sich Feuerwehrleute im Gebäude aufhielten, als der Tank explodiert ist. Mehr wissen wir im Augenblick nicht.«

  Ich merke nicht sofort, dass ich weine. Erst als die Tränen mir die Sicht nehmen, werde ich mir dessen bewusst. Ich halte Loans Militärmarke so fest, dass es weh tut. Ich würde sie gerne loslassen, doch das würde bedeuten, Loan im Stich zu lassen. Das kann ich nicht tun.

  »Die Einsatzleitung befürchtet, dass es bei der Explosion Opfer gegeben haben könnte«, verkündet die Journalistin mit neutraler Stimme.

  Ich erstarre, meine Atmung setzt aus und mein Herz bleibt fast stehen. Selbst Zoé und Jason wagen nicht, die neuen Ereignisse zu kommentieren. Ich weine noch immer, als ich höre, dass Zoé mit mir zu reden versucht.

  »Vio …?«

  Ich kann ihr nicht antworten.

  »Ich muss jetzt allein sein«, murmle ich elend und beende das Gespräch, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden. Reglos und stumm sitze ich da, Tränen laufen mir über die Kehle. Zum ersten Mal in meinem Leben bete ich. Ich bete darum, dass der Name meines besten Freundes nicht ausgesprochen wird.

  Nach weniger als einer Stunde fällt endlich der erlösende Satz:

  »Nach Angaben von offizieller Seite ist das Feuer jetzt vollständig unter Kontrolle. Die angrenzenden Gebäudekomplexe sind nicht mehr in Gefahr …«

  Tatsächlich zeigen die Bilder das eingedämmte Feuer. Zwar steigen weiterhin schwarze Rauchsäulen in den Himmel, doch die rötlichen Glutherde sind verschwunden.

  »… eine heftige Explosion mit sechs Verletzten, darunter einer schwer, sowie zwei Toten.«

  …

  …

  …

  Und ich

  sterbe

  innerlich.

  Nur Sekundenbruchteile später klingelt mein Telefon. Unwillkürlich berge ich das Gesicht in den Händen, um ein Schluchzen zu ersticken. Ich weiß, dass die Reporterin keine Namen genannt hat – es ist vielleicht nicht Loan, aber ich kann nicht anders, als mit dem Schlimmsten zu rechnen. Ich habe ein mieses Gefühl. Ich spüre, dass er nicht in Sicherheit ist. Ich fühle es in meinem Bauch. Zoé versucht wieder, mich anzurufen, aber ich reagiere nicht, weil ich damit beschäftigt bin, das Schluchzen zu beruhigen, das mich schüttelt.

  Endlich greife ich mit zitternden Händen nach meinem Telefon und schreibe ihr, dass sie sich keine Sorgen machen soll. Gleich darauf rufe ich Loan an. Ich irre durchs Zimmer. Meine Knie drohen nachzugeben. Es klingelt und klingelt. Ich habe Angst, ohnmächtig zu werden.

  »SCHEISSE, JETZT ANTWORTE ENDLICH!!!«, rufe ich laut beim sechsten Versuch.

  Es gibt noch so viel, das ich dir nicht gesagt habe … Zum Beispiel, dass du öfter lächeln solltest, dass ich die Zärtlichkeit deiner Finger in meinen Haaren liebe, dass ich immer mit dem Blick auf die Decke und auf uns einschlafe, dass du mich im Aufzug mit deinem Bericht von deinem schlimmsten Einsatz in dich verliebt gemacht hast.

  Aber ich erreiche immer nur seine Mailbox. Bei jedem Versuch.

  Eine Stunde vergeht. Ich weine, führe Selbstgespräche und rufe Loan an.

  Eine weitere Stunde vergeht. Ich habe Zoé und Jason gebeten, die Feuerwache anzurufen, um mehr zu erfahren. Ich muss es wissen.

  Nach der dritten Stunde bin ich fast so weit, dass ich hoffe, dass er tot ist, damit die Folter endlich vorbei ist.

  »Auf der Wache geht niemand dran, Violette, ich weiß nicht, was ich sonst noch tun soll!«, sagt Zoé verzweifelt.

  Plötzlich, als ich es schon längst nicht mehr erwarte, höre ich einen Schlüssel im Schloss. Hastig wende ich den Kopf und mein Herz setzt einen Schlag aus. Als ich Loan wie eine göttliche Erscheinung eintreten sehe, spüre ich, wie das Leben in mich zurückkehrt.

  »Verfluchte Scheiße«, keuche ich.

  Ich weiß nicht, ob es der Stress ist, der langsam nachlässt, oder das Blut, das aus seiner Augenbraue sickert, aber ich heule wieder los.

  »Er ist da, er ist wieder zu Hause!«, verkünde ich Zoé.

  Ich lege sofort auf, eile auf Loan zu und falle ihm um den Hals. Ich lande an seiner harten Brust und vergrabe das Gesicht an seiner Schulter. Meine Tränen durchnässen sein T-Shirt, aber das ist mir egal. Er ist da. Er ist zu Hause. Er ist nicht tot. Er hat sein Versprechen gehalten.

  Aber mein bester Freund reagiert nicht. Er fängt mich nicht auf, er umarmt mich nicht. Er steht da wie versteinert. Und plötzlich taucht mein alter Groll wieder auf. Ich trete einen Schritt zurück, schaue ihn an und versetze ihm einen Schlag auf die Brust.

  »Du Arsch! Seit drei Stunden versuche ich, dich anzurufen, verdammt! Weißt du, was ich durchgemacht habe, während du dir Zeit gelassen hast? ICH DACHTE, DU WÄRST TOT!«

  Ich schreie ihn an, aber er sieht mir einfach nur in die Augen.

  »Tut mir
leid«, entschuldigt er sich dumpf und fast unhörbar.

  Ich betrachte ihn genauer. Er hat eine Verletzung an der Augenbraue und sein Gesicht ist mit einer Mischung aus Ruß und Schweiß bedeckt. Viel schlimmer ist jedoch, dass in seinen Augen ein ungeheurer Schmerz liegt. Sofort fällt meine Wut in sich zusammen.

  »Loan …?«, flüstere ich bestürzt.

  Seine Augen füllen sich mit Tränen, die ihm stumm über die Wangen laufen. Geradezu fasziniert beobachte ich, wie sich helle Spuren in dem Ruß bilden, der sein Gesicht bedeckt. Er weint. Loan weint.

  Immer noch blickt er mir direkt in die Augen und versucht mit keiner Bewegung, den Beweis seiner Trauer fortzuwischen. Und endlich sagt er mit einer Stimme, die wie von tausend Dolchen durchbohrt klingt:

  »Ethan ist tot.«

  Er lässt mir keine Zeit zu reagieren. Er schließt die Augen, als hätte allein die Tatsache, dass er es ausgesprochen hat, ihn vernichtet. Er legt den Kopf an meinen Hals, als wolle er sich verstecken. Ich fühle mich wie gelähmt.

  Ich war so auf Loan konzentriert, dass ich keine Sekunde an Ethan gedacht habe.

  »Nein …«

  »Er ist tot«, wiederholt Loan und seine Tränen laufen in mein Dekolleté. »Ethan ist tot, ich nicht …«

  Nun kommen auch mir die Tränen. Ich kann sie nicht zurückhalten. Heute Abend ist mein Freund gestorben. Ethan. Ethan, der nächste Woche seine Eltern besuchen wollte. Ethan, der mit Ophélie zusammenziehen wollte, in die er sich erst vor Kurzem verliebt hatte. Ethan, der Klügste und Gelassenste von unseren Freunden.

  Ich nehme Loan in die Arme und fahre ihm mit den Händen durchs Haar. Er zittert am ganzen Leib. Ich stelle fest, dass auch ich zittere. Ich stehe unter Schock. Ich empfinde gar nichts. Nichts außer einer unendlichen Trauer, die mir den Atem raubt. Mein Bauch schmerzt, mein Herz ist leer und meine Kehle fühlt sich an wie von einem gewaltigen Schraubstock zusammengeschnürt.

  Es ist das erste Mal, dass ich jemanden verliere. Mein Gott.

  »Es tut mir leid … Es tut mir so unendlich leid …«

  Ich weiß nicht, mit wem ich spreche. Vielleicht mit Loan, weil er einen seiner besten Freunde verloren hat. Vielleicht auch mit Ethan, weil ich gar nicht erst auf die Idee gekommen bin, dass er unter den Opfern sein könnte. Alles tut mir einfach nur unendlich leid. Loan hebt den Kopf, seine Nase streift meine Wange, und er drückt mir einen federleichten Kuss auf den Mund. Dann küsst er mir eine neue Träne von den Lippen und verweilt dieses Mal länger. Erschüttert hebe ich das Gesicht.

 

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