Never Too Close

Home > Other > Never Too Close > Page 36
Never Too Close Page 36

by Moncomble, Morgane


  Ich setze mich ihr gegenüber und seufze. Hoffentlich verläuft Violettes Vorstellungsgespräch wie geplant.

  »Ich freue mich, dass du mich angerufen hast«, beginnt sie. »Das heißt wohl, dass du über uns nachgedacht hast.«

  Ich sage nichts, sondern begnüge mich damit, zu nicken. Tatsächlich habe ich in den letzten Wochen viel nachgedacht. Die Entdeckung, dass Violette mich angelogen hatte, traf mich wie ein Schlag. Ich fühlte mich betrogen, aber vor allem verletzt. Weil es nämlich bedeutete, dass meine Geschichte mit Lucie noch nicht wirklich vorbei war. Ein tief in meinem Innern verschütteter Teil von mir hielt den Vorfall für eine Gelegenheit, herauszufinden, ob Lucie und ich noch eine Chance hatten.

  Mein Herz jedoch bestand auf dem Gegenteil. »Welche ist diejenige, ohne die du nicht leben kannst?«, hatte Ethan mich gefragt. Die Antwort war nicht schwer. Ich konnte viele Monate ohne Lucie auskommen. Aber ohne Violette zu leben, und wäre es auch nur eine Woche, würde mir die Luft zum Atmen rauben. Sie gehört dazu wie die Strahlen zur Sonne, die Blütenblätter zur Blume und Nutella zu einer Brioche; sie ist unersetzlich.

  Ja, ich mag Lucie. Ich mag sie wirklich. Sie war wichtig in meinem Leben. Sie gehörte auch einmal dazu … aber nur zu meinem alten Leben. Mein heutiges Leben habe ich mit Violette erschaffen.

  Sie ist es.

  »Hat es seit mir jemanden für dich gegeben?«, frage ich Lucie ohne Umschweife.

  Lucie hebt sofort den Blick zu mir und erstarrt. Ich blicke sie weiter gelassen an. Sie kann mir nichts vormachen, ich bin felsenfest davon überzeugt, dass sie nach mir andere Männer hatte. So ist das Leben nun mal. Und nach so viel Zeit ist es auch durchaus verständlich. Ich will es nur hören, mehr nicht. Vielleicht, um mich weniger schuldig zu fühlen, vielleicht auch, um zu sehen, welche Wirkung ihre Antwort auf mich hat. Ich will ganz sicher sein.

  »Nicht wirklich«, erwidert sie zögernd.

  »Du hast seit unserer Trennung mit niemand anderem geschlafen?«, hake ich nach, ohne auch nur eine Sekunde daran zu glauben.

  Sie seufzt, ihre Wangen werden rosig und sie senkt den Blick. Dachte ich es mir doch.

  »Doch.«

  In diesem Moment kommt ein Kellner, um unsere Bestellungen aufzunehmen, und gewährt ihr so ein paar Sekunden Atempause. Ich will nicht lügen, sie mir mit anderen Männern vorzustellen ist irgendwie komisch. Sie war keine Jungfrau mehr, als wir uns kennenlernten, aber ich war ihre erste große Liebe. Früher konnte ich sie mir nur mit mir vorstellen. Heute … bin ich nicht einmal eifersüchtig.

  »Okay«, sage ich, als der Kellner wieder weg ist. »Danke für deine Ehrlichkeit.«

  Ich lehne mich auf meinem Stuhl zurück, während sie mich mit offenem Mund anschaut. Sie hat offenbar eine andere Reaktion erwartet.

  »Bist du nicht sauer? Oder enttäuscht?«

  Überrascht, dass sie das Thema nicht fallen lässt, zucke ich die Schultern.

  »Wir waren schließlich nicht mehr zusammen.«

  »Aber du hast mit niemandem geschlafen!«, gibt sie zurück. »Du hast auf meine Rückkehr gewartet und uns eine Chance gegeben. Ich leider nicht.«

  Jetzt ist es so weit. Der entscheidende Moment ist da. Ich weiß nicht wirklich, wie ich mich dem Thema annähern soll … Also wähle ich den ehrlichsten Weg.

  »Ich habe lange mit niemandem geschlafen. Bis vor zwei Monaten.«

  Ich beobachte ihre Reaktion sehr genau. Sie verharrt unbewegt in der lastenden Stille, verdaut meine Worte und nickt dann ein wenig mühsam. Ich kenne sie gut genug, um zu sehen, dass es sie stört; ich merke es an der Art, wie sich ihr Kinn strafft. Trotzdem weiß ich, dass sie nicht aus Liebe zu mir eifersüchtig ist … es ist nur ihr Ego. Lucie ist auch nicht mehr in mich verliebt. Es ist klar erkennbar.

  »Okay. Ich kann dir keine Vorwürfe machen«, sagt sie mit gemessener Stimme.

  »Mit Violette.«

  Die nun folgende Stille ist die dumpfste, die ich je erlebt habe. Die Wahrheit ist so eifrig aus mir herausgesprudelt, dass man glauben könnte, ich hätte sie seit ewigen Zeiten dort zurückgehalten.

  Lucie und ich fordern einander mit Blicken heraus, ohne etwas zu sagen. Sie presst die Lippen zusammen und schluckt; ich weiß genau, dass sie gleich explodiert. Noch aber hält sie sich zurück. Seltsamerweise fühle ich mich befreit. Ich habe nichts mehr zu verbergen, zumindest fast nichts.

  »Einmal?«, fragt sie mich mit kühler Stimme.

  Ich schweige. Lucie atmet tief ein. Eine Ader pulsiert an ihrer Schläfe.

  »Zweimal?«

  Ich sage immer noch nichts. Sie schließt die Augen, seufzt und gibt sich geschlagen.

  »Wie oft?«

  »Oft genug.«

  Endlose Sekunden verstreichen. Keiner von uns sagt etwas. In diesem Moment könnte ich mich elend und schuldig fühlen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Ich habe nichts Falsches getan. Sie und ich, wir waren nicht mehr zusammen. Das Einzige, was meinem Herzen zu schaffen macht, ist, dass sie von Anfang an recht hatte, was Violette anging, und dass ich es trotz allem bis zum Schluss abgestritten habe.

  Lucie öffnet die Augen, weicht meinem Blick aus, lacht freudlos und schiebt ihr Weinglas weg. Die Vorboten ihrer Wut.

  »Ich kann es nicht glauben.«

  Obwohl ihre Ungerechtigkeit mich stört, bleibe ich ruhig.

  »Was glauben?«

  »Dass du mit ihr geschlafen hast!«, faucht sie und schaut mich endlich an.

  Ich runzle die Stirn, zucke aber nicht mit der Wimper. Ich beobachte sie, und alles, was ich sehe, ist eine Frau, die mich vor sieben Monaten verlassen hat, weil in unserem Schrank ein paar Mehlpäckchen fehlten.

  »Ich schließe daraus, dass du wütend bist.«

  »Nein, nicht wütend. Enttäuscht. Traurig.«

  Enttäuscht.

  Mit finsterer Miene beuge ich mich über den Tisch. Ich muss zugeben, dass ich Mühe habe, den Schlag mit der Enttäuschung zu verdauen. Was ich jedoch wirklich nicht fassen kann, ist, dass ausgerechnet sie mich kritisiert.

  »Enttäuscht?«, wiederhole ich. »Darf ich dich daran erinnern, dass du ebenfalls mit anderen Männern geschlafen hast? Und zwar deutlich früher als ich. Wieso schiebst du also mir die Schuld in die Schuhe?«

  Ich mache ihr keine Vorwürfe wegen ihrer Bettgeschichten. Wie schon gesagt, wir waren nicht mehr zusammen. Aber die Tatsache, dass sie mir meine zum Vorwurf macht, ist wirklich die Höhe.

  »Das ist nicht dasselbe«, sagt sie und überschlägt die Beine.

  »Stimmt. Ich habe nicht einfach nur so mit einer Frau geschlafen. Violette und ich, wir …«

  Ich halte plötzlich inne und lasse meinen Satz unvollendet. Oh. Wow. Ich hätte es fast gesagt. Ich hätte es tatsächlich fast gesagt.

  Dass Violette und ich uns ineinander verliebt haben.

  Ich seufze und schließe die Augen, was Lucie keineswegs entgeht. Sie starrt mich an und ein säuerliches Lächeln huscht über ihr engelsgleiches Gesicht. Sie sieht nicht überrascht aus, im Gegenteil. Gleich geht sie in die Luft.

  »Genau das habe ich erwartet. Nur zu, rede weiter!«, fordert sie mich auf. »Du und Violette, ihr habt also was? Gefühle füreinander?«

  Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht zu antworten. Das alles habe ich nie gewollt. Die Wahrheit ist, dass es richtig war, dass wir uns vor sieben Monaten getrennt haben. Uns als Paar eine zweite Chance zu geben wäre keine gute Idee gewesen. Manchmal gehen Dinge einfach zu Ende. In solchen Fällen muss man es akzeptieren und weitermachen.

  »Lucie …«

  »Ich weiß«, murmelt sie.

  Natürlich weiß sie es. Ich bemerke eine Träne in ihren Augen, als sie zu mir sagt:

  »Tatsächlich hast du mich schon lange nicht mehr geliebt. Du bist aus reiner Gewohnheit bei mir geblieben. Deshalb hast du mich auch heute angerufen, richtig? Um die Sache ein für allemal zu beenden.«

  Sie tut mir wirklich leid. Beruhigend lege ich meine Hand auf ihre.

  »Entschuldige.
«

  »Entschuldige dich nicht. Ich glaube … Ich glaube, bei mir ist es das Gleiche.«

  Mit zugeschnürter Kehle lächle ich sie an. Ich mag sie wirklich sehr. Sie erwidert mein Lächeln, und während dieses Austauschs gehen uns tausend Erinnerungen durch den Kopf. Umarmungen, Streite, Vertrautheit, Blicke wie dieser …

  Und zum ersten Mal seit langer Zeit ist mir wirklich leicht ums Herz.

  Lucie und ich gehen zu Fuß zu meinem Auto, das ich in der Nähe der Wohnung geparkt habe. Es ist Zeit, zur Arbeit zurückzukehren. Ich stelle fest, dass Violette mich anruft und bin überrascht, dass ihr Termin bereits beendet ist, aber ich lege auf und nehme mir vor, sie anzurufen, sobald ich wieder allein bin.

  Vor dem Haus lächeln Lucie und ich uns traurig an.

  »Nun … tja, ich denke, es ist Zeit, dass wir uns verabschieden«, sagt sie verlegen.

  »Du bist hier jederzeit willkommen. Ich möchte, dass wir Freunde bleiben, okay?«

  »Aber sicher.«

  Ich lächle ihr ein letztes Mal zu. Als ich mich gerade umdrehen will, beugt sie sich zu mir und küsst mich keusch auf die Lippen. Ich erstarre überrascht, lege dann aber eine Hand auf ihre Taille. Ich weiß, es ist kein letzter Rettungsversuch, sondern nur ein Abschiedsgeschenk, und deshalb akzeptiere ich es.

  Es dauert nur drei Sekunden, dann ziehe ich mich zurück.

  »Danke für das Mittagessen, Loan.«

  Ich nicke und schaue ihr nach, wie befreit von einer Last, von der ich nicht einmal wusste, dass ich sie mit mir herumschleppte. Eine Sorge weniger.

  Plötzlich vibriert mein Handy in meiner Tasche. Ich erinnere mich daran, dass Violette versucht hat, mich anzurufen und gehe eilig dran.

  »Hallo?«

  »Hallo.«

  Ich bin etwas enttäuscht, Jason am anderen Ende der Leitung zu hören. Sein Ton ist sehr kühl, was mich überrascht.

  »Wie geht’s?«, frage ich ihn.

  »Könnte besser sein, stell dir vor.«

  Ich weiß nicht, ob ich es mir nur einbilde, aber ich habe das Gefühl, dass er sauer ist. Mit gerunzelter Stirn steuere ich auf mein Auto zu. Ich bin schon spät dran.

  »Okay … Kann ich dir irgendwie helfen?«

  »Violette ist weg.«

  Ein Herzschlag.

  Zwei Schläge.

  Als mein Gehirn die Information endlich verarbeitet hat, beginnt mein Herz wie verrückt zu rasen. Weg.

  »Was soll das heißen: weg?«

  Jason seufzt erneut und ich stelle mir vor, wie er mit den Schultern zuckt und Zoés an mich gerichtete Beleidigungen ignoriert. Ich bekomme ein paar Fetzen mit, einschließlich der Worte »deine Schuld«, »Vollidiot« und »Arschloch«. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.

  »Jason!« Meine Stimme wird panisch.

  Hat sie mich deshalb angerufen? Und ich habe nicht geantwortet, weil ich mit Lucie zusammen war!

  »Sie hat Zoé geschrieben«, antwortet er. »Dass sie im Zug sitzt und nach Hause fährt. Wir haben versucht, mehr herauszubekommen, aber sie hat ihr Telefon ausgemacht.«

  Scheiße. Wenn sie nach Hause gefahren ist, bedeutet das, dass ihr Vorstellungsgespräch sehr, sehr schlecht gelaufen sein muss. Sie wollte mir davon erzählen, aber ich war nicht für sie da, sondern damit beschäftigt, mit Lucie zu essen. Ich schließe die Augen und versuche schnell nachzudenken. Mein erster Einfall ist, den nächsten Zug zu nehmen und sie zurückzuholen. Eine einzige Frage brennt mir noch auf der Zunge.

  »Was genau ist passiert?«

  Tief im Innern kenne ich die Antwort. Und es brodelt, es fließt in mir über. Obwohl ich es erwartet habe, versetze ich der Wand einen heftigen Faustschlag, als ich höre:

  »Äh, ich weiß nicht, wo soll ich anfangen? Bei Clément, der ihr das Vorstellungsgespräch versaut hat, oder bei dir, der seine Ex abknutscht?«

  38

  Heute

  Violette

  Ah, die saubere Luft des Jura!

  Die Sonne, der klare Himmel, die herrliche Ruhe, die endlosen Weideflächen, die Berge und die Spaziergänge auf schmalen Feldwegen … All das hat mir gefehlt.

  In Paris vergesse ich oft, dass ich vom Land komme. Ich liebe die Stadt, aber zu Hause ist nun mal zu Hause. Es gibt nichts Vergleichbares. Seit ich zum Studium nach Paris gegangen bin, habe ich es vermieden, herzukommen. Es ist immer mein Vater, der die Reise macht.

  Seit ich aber wieder zurück bin, frage ich mich, wie ich es fertiggebracht habe, mich dieses Glücks so lange zu berauben. Und unter den jetzigen Umständen brauche ich es mehr denn je. Das wurde mir klar, als ich mich nach mehreren Stunden Zugfahrt meinem Vater in die Arme warf.

  Mit geschlossenen Augen atme ich die Luft tief ein, die durch das geöffnete Fenster in mein Zimmer strömt.

  Ich bin jetzt seit zwei Tagen hier. In diesen zwei Tagen hatte ich für vieles Zeit.

  Erstens: aufhören zu weinen. Gut, ab und zu passiert es mir immer noch. Aber nur ein bisschen. Abends. Wenn niemand guckt.

  Zweitens: nichts tun. Gestern habe ich den ganzen Tag in meinem alten Zimmer geschlafen – ich glaube, ich habe nicht mal geduscht. Ja, ich weiß; ekelhaft.

  Mein Vater hat mein Zimmer genau so gelassen wie es war, bis auf ein paar Möbel weniger. Aber mein Himmelbett ist immer noch da und steht groß und majestätisch mit seinen elfenbeinfarbenen Schleiern mitten im Zimmer, genau wie mein Schreibtisch und meine Schatztruhe, in der ich früher alle möglichen Erinnerungen versteckt habe.

  Ich entferne mich vom Fenster und strecke mich seufzend auf meinem Bett aus. Ich starre die Decke an, breite die Arme aus wie ein Seestern und genieße die Stille.

  Ich fühle mich völlig verloren. Ich weiß nicht, was ich diesen Sommer machen soll, geschweige denn nächstes Jahr. Soll ich nach Paris zurückkehren? Meine beiden Studienjahre sind vorbei. Millesia sollte mein Einstieg in die Arbeitswelt werden. Ich versuche mich jedoch zu überzeugen, dass das nur eine verpasste Gelegenheit unter vielen war und dass es noch genügend andere gibt. Ich liebe einen Mann, der mich nicht will. Okay, na und? Solche Dinge passieren! Ständig und immer wieder.

  Bei Licht betrachtet ist es eigentlich gut, dass er sich nicht für mich entschieden hat, wenn er zwischen Lucie und mir schwankte. Ich möchte keine Möglichkeit unter mehreren sein. Mit etwas Glück werde ich eines Tages für jemanden eine Gewissheit sein. Eine Selbstverständlichkeit, wie Loan es seit unserer ersten gemeinsamen Nacht für mich war.

  Plötzlich werde ich sehr wütend. Ich hätte aus diesem Auto steigen und ihm entgegentreten sollen, anstatt so dämlich zu flüchten.

  »Dumme Nuss!«, schimpfe ich und richte mich auf meinem Bett auf.

  Mit einem erschrockenen Ausruf zucke ich zusammen. Loan steht an der Tür, eine Hand auf der Klinke und sichtlich zögernd. Was zum Teufel …

  »Hallo.«

  … soll das! Ich bin sprachlos und traue meinen Augen nicht. Spielt mein Unterbewusstsein mir etwa einen Streich? Ich sitze auf der Bettkante, Loan steht ein paar Meter von mir entfernt und sieht besser aus als je zuvor. Er trägt Jeans, die sich attraktiv an seine Hüften schmiegen, und ein nachtblaues T-Shirt, das eng genug sitzt, um seine kraftvolle Brust zu betonen.

  »Dein Vater hat mir erlaubt raufzugehen«, bricht er immer noch etwas misstrauisch das Schweigen. »Die Tür muss natürlich offen bleiben.«

  Heilige Scheiße! LOAN IST HIER!

  »Was hast du hier zu suchen?«, schreie ich ihn an, ohne nachzudenken.

  Er sollte in Paris sein. In Paris mit Lucie.

  Loan, der erraten hat, wie mir zumute ist, seufzt beschämt, ehe er einen Schritt vortritt und leise die Tür hinter sich schließt. Entgegen den Anweisungen meines Vaters.

  »Du gehst nicht an dein Handy …«

  »Kannst du dir nicht vorstellen, dass es einen Grund dafür gibt?«

  »Du musst mir zuhören«, sagt er ernst und blickt mir direkt in die Augen.

  »Ich habe keine Lust dazu. Du hättest nicht kommen
sollen, Loan.«

  Wir fordern uns noch einige Sekunden mit Blicken heraus. Dabei stelle ich fest, dass er keine Tasche bei sich hat. Was wohl bedeutet, dass er in den erstbesten Zug gestiegen ist. Himmel, mein Herz pocht wie wild.

  »Gib mir drei Minuten, dann erkläre ich dir alles«, bittet er und tritt einen weiteren Schritt näher.

  Ich stehe auf und presse defensiv die Lippen zusammen. Selbstverständlich schuldet er mir eine Erklärung.

  »Eine Minute.«

  In seinem Mundwinkel zeigt sich ein Lächeln. Ich hasse ihn wegen der Wirkung, die das auf mich hat.

  »Herausforderung angenommen.«

  »Noch vierundfünfzig Sekunden.«

  Er verschwendet keine zusätzliche Zeit und kommt nahe genug heran, um mich zu berühren, falls ihm danach wäre.

  »Ich bin nicht mit Lucie zusammen«, beginnt er ohne weiteres Vorgeplänkel. »Seit sieben Monaten nicht mehr. Was du vor der Wohnung gesehen hast, war ein Abschiedskuss. An diesem Tag habe ich sie zum Essen eingeladen, um ihr zu sagen, dass es zwischen uns aus ist. Endgültig.«

  Ich starre ihn an. Mein Herz schlägt so heftig, dass es mir aus der Brust zu springen droht. Er ist nicht mit Lucie zusammen. Er liebt Lucie nicht mehr. Es war nur ein Abschiedskuss. Und obwohl es eine Lüge sein könnte, glaube ich ihm. Ich spüre es tief in mir. Habe ich mich ganz umsonst aufgeregt?

  Er kommt noch einen Schritt näher und seine vertrauten Finger streicheln meine. Mein ganzer Körper bebt. Ich nehme mich zusammen und sage mit heiserer Stimme:

  »Noch dreißig Sekunden.«

  »Vor drei Tagen hast du mir gesagt, dass ich dir nicht gleich antworten müsste. Und obwohl ich es auch da schon gewusst haben, sage ich es dir jetzt: Ich liebe dich, Violette.«

  Meine Finger umschlingen seine. Tränen stehen in meinen Augen. Loan lächelt leicht, ehe er fortfährt:

  »Du hattest neulich wirklich recht. Du und ich, das war nie platonisch. Und die letzten Monate an deiner Seite … sie haben mir die Augen geöffnet. Die Wahrheit ist, ich kann nicht mehr ohne dich leben. Lucie war meine erste Liebe und sie wird immer einen Platz in meinem Herzen haben, aber deines ist das erste Gesicht, an das ich morgens beim Aufwachen denke. Abends nach der Arbeit bist du diejenige, die ich fragen möchte, wie ihr Tag war. Du bist die einzige Frau, die ich zum Lachen bringen möchte, die einzige, der ich sagen will: ›Ich liebe dich‹. Denn nur das ist aufrichtig.«

 

‹ Prev