by Kiefer, Lena
Ich rief mir alles in Erinnerung, was mir erst vor einer halben Stunde das Herz gebrochen hatte. Alles, woran ich nie wieder hatte denken wollen, brauchte ich jetzt. Die Begegnungen, Worte, Berührungen und Gefühle. Das Castello, den Turm, das Stoffkänguru, Luciens Lächeln, seine Stimme, sein ruhiges Atmen in der Nacht neben mir im Bett. Wie ein Sturm fegten die Erinnerungen über mich hinweg, aber diesmal wurde ich nicht fortgerissen. Ich blieb stehen, mit beiden Beinen fest auf dem Boden.
Dann war ich bereit.
Ich sah Lucien schon von Weitem, er wartete an der üblichen Stelle in Zone B. Meine Beine wollten ihren Dienst verweigern, aber die andere Ophelia zwang sie zum Weitergehen. Ich hatte oft befürchtet, dass der Tag käme, an dem Lucien mich hassen würde. Dass es mal umgekehrt kommen könnte, hatte ich nicht erwartet.
»Da bist du ja.« Er lächelte und küsste mich flüchtig. Ekelhaft, dachte ich. Wundervoll, dachte die andere Ophelia. »Hat der Spaziergang geholfen?« Er hielt mir die Tür auf.
»Ja, ich denke schon.« Ich ging an ihm vorbei und trat in die schmale Kabine. Lucien folgte mir und die Türen glitten zu. Der Aufzug fuhr jedoch keine zwei Meter, dann stoppte er abrupt.
»Weiterfahrt nicht möglich. Waffe entdeckt. Sicherheitsrisiko.«
Ach du Scheiße.
Lucien klopfte sich selbst ab, dann sah er mich an. »Hast du was dabei?«
Dank Kapsel schaltete ich ultraschnell. »Wie dumm von mir«, sagte ich und schlug mir leicht an die Stirn. »Ich habe die Waffe vom Einsatz noch nicht abgegeben.« Eilig zog ich sie aus der Halterung und reichte sie ihm.
Lucien lächelte arglos, wenn das überhaupt möglich war. Sein Gesicht bildete die perfekte Maske, kein Muskel zuckte ohne Aufforderung. Er war wirklich der beste Lügner aller Zeiten, genau wie die OmnI gesagt hatte. Aber heute war ich besser als er.
»Überbrücken«, sagte Lucien und nannte seinen Namen und die Kennung. Dann sah er mich an. »Wir können das Ding schließlich nicht auf die Straße werfen.«
»Nein, wohl nicht.« Die andere Ophelia lächelte sanft.
Das Essen stand schon in seinen Räumen bereit, als wir hereinkamen. Mein Magen knurrte, obwohl ich keinen Hunger hatte. Lucien deutete auf einen Stapel Kleidung, der auf dem Sessel lag. »Ich habe dir ein paar Sachen holen lassen, falls du dich umziehen möchtest. Die EyeLinks solltest du auch rausnehmen. Deine Augen sehen ziemlich gerötet aus.«
Ich sah an mir herunter. Nach wie vor trug ich meine schwarze Einsatzkleidung, die verdreckt und verschwitzt war. Am liebsten hätte ich sie anbehalten, weil sie mir wie ein Panzer vorkam, der mich zusammenhielt. Trotzdem nahm die andere Ophelia ihre frischen Sachen dankbar entgegen.
»Das war lieb von dir, danke. Ich gehe kurz ins Bad.« Schließlich steckte da immer noch eine Pistole in meinem Hosenbund.
»Klar.« Lucien lächelte, dann setzte er sich aufs Sofa. »Aber beeil dich, sonst lasse ich dir nichts übrig.«
»Wehe dir.« Ophelia grinste und ging.
Das Licht im Bad erschien mir grell, und als ich in den Spiegel sah, erschrak ich. Meine Augen lagen tief in den Höhlen, unter der dünnen Haut war bläulich schimmerndes Blut zu sehen. Ich sah furchtbar aus. Wenn ich sie sein wollte, musste ich daran etwas ändern.
Ich wusch mich und löste meinen Zopf, bevor ich mich umzog und etwas zurechtmachte. Das warme Wasser verpasste meinem Gesicht einen gesünderen Anstrich, die frische Kleidung tat ihr Übriges. Die Waffe versteckte ich in dem einzigen Stapel gebügelter Hemden im Ankleidezimmer. Dort würde Lucien sie bestimmt nicht finden.
Während ich das kühle Metall unter den teuren Stoff schob, rechnete ich mir aus, wie lange es dauern würde, das Ganze zu erledigen. Und dann, als ich Sekunden hin- und herschob und detailliert Wege und Strecken ausrechnete, wurde mir etwas klar: Ich hatte einen schlimmen Fehler gemacht, aber heute Abend konnte ich das in Ordnung bringen. Heute konnte ich alles in Ordnung bringen. Ich musste nur durchhalten.
Die Burger rochen fantastisch, aber sie verwandelten sich in meinem Mund in Pappe. Die andere Ophelia und ich teilten uns zwar einen Körper, aber der Magen war fest in meiner Hand. Ich bemühte mich, ein paar Bissen bei mir zu behalten, dann schob ich den Teller weg. Bevor ich mich auf den Teppich übergab, blieb ich lieber nüchtern.
»Alles okay? Du siehst wirklich nicht gut aus.« Lucien sah mich besorgt an. Er spielte das unglaublich gut, nicht einmal mein entfesseltes Gehirn konnte ihm etwas anmerken. Wieder wünschte ich mir für einen kurzen Moment, ich hätte nie davon erfahren, dass ich nur ein Job war. Aber sofort schämte ich mich dafür.
»Ich habe keinen großen Hunger, tut mir leid.« Ophelia lächelte entschuldigend.
»Das mit Emile geht dir an die Nieren«, stellte Lucien fest.
»Ja, es ist hart. Wir waren schließlich Freunde.« Ich nickte. »Wie ist denn das Verhör gelaufen?«
»Er behauptet, er hätte mit alldem nichts zu tun. Wir wollen die OmnI nutzen, um ihn zu befragen, aber Leopold ist dagegen.« Lucien hob die Schultern. »Man hat ein paar Unregelmäßigkeiten bei ihr festgestellt. Er traut ihr nicht.«
»Aber wie wollt ihr sonst herausfinden, was Emile weiß?« Ich sah ihn fragend an.
»Wir haben ihn in das Gefängnis im Militärbereich verlegt, außerhalb der Stadt. Dort werden sie ihn weiter verhören, die meisten reden irgendwann. Aber wenn nichts dabei rauskommt, müssen wir ihn trotzdem clearen. Unter fünf Jahren wird er nicht rauskommen – selbst wenn er nicht genau wusste, was er da anrichtet.«
»Verhören« bedeutete wahrscheinlich kein nettes Gespräch, sondern Folter oder Schlimmeres. Meine Schuldgefühle meldeten sich, aber ich schob sie weg. Wenn alles vorbei war, konnten wir Emile vielleicht befreien. Möglicherweise würde er sich uns sogar anschließen.
»Was bedeutet sein Verrat für das Anwärter-Programm?«, fragte die andere Ophelia. »Werden wir jetzt alle rausgeworfen?« Sie machte große, ängstliche Augen. Es passierte wie von allein.
»Um Himmels willen, nein.« Lucien strich beruhigend über meinen Arm. Ich zuckte nicht einmal. »Mach dir keine Sorgen. Das mit Emile ist unschön, aber so was kann passieren. Wir gucken uns die Aufzeichnungen von seiner Prüfung in Paris noch mal an. Dann wissen wir vielleicht, was schiefgelaufen ist.«
Nichts ist bei ihm schiefgelaufen, und das wisst ihr auch. Ihr wisst genau, wer es war.
»Vor allem du solltest dir keine Gedanken machen.« Lucien zog mich an sich und küsste mich zärtlich. »Nach deinem Einsatz in der Villa Mare und dem heutigen Tag ist dir ein Platz bei den Schakalen sicher. Außerd–«
Es klopfte. Sofort sprang ich auf, aber Lucien winkte ab.
»Lass. Sie wissen es.«
»Wer weiß es?«
»Die meisten, glaube ich. Auf jeden Fall Dufort und Fiore. Ich hatte keine Lust mehr auf dieses Versteckspiel.«
»Aber das bedeutet –«
»Es bedeutet gar nichts. Beziehungen zwischen Schakalen sind nicht verboten. Und da ich es nie auf den Thron schaffen werde, interessiert sich auch sonst niemand dafür.« Er lachte. »Entspann dich, Stunt-Girl. Alles ist gut.« Dann ging er zur Tür.
Als ich seinen Spitznamen für mich hörte, meldete sich mein Zorn. Aber bevor es jemand bemerken konnte, hatte ich ihn wieder sicher hinter Ophelias Fassade verstaut.
Bis wir beide Panik bekamen.
Denn es war niemand Geringeres als Cohen Phoenix, der in Luciens Räume spazierte, als wäre er hier zu Hause. Ich hatte ihn nie aus der Nähe gesehen – die stechend hellblauen Augen, das wie aus Stein gemeißelte Gesicht. Alles an ihm, vom akkuraten Kurzhaarschnitt bis zu seiner Kleidung, sprach von Härte und Kälte. An einem anderen Tag hätte mir Lucien sicher leidgetan, weil er so viel Zeit mit diesem Mann verbringen musste.
»Ophelia Maxine Scale?«, fragte Phoenix, als wäre er eine menschliche Datenbank.
»Ja?« Ich wusste, wie ernst die Lage war. Lucien mochte gut sein, aber er hielt mich momentan nicht für eine Bedrohung. Phoenix hingegen war besser und hielt alles für eine Bedrohung. Wenn ich jetzt einen Fehler machte, war es keine Mission mehr. Dann war es Selbstmord. »Freut mich, Sir«, l
ieß ich Ophelia nachschieben. Sie streckte die Hand aus. Er ignorierte es.
»Du bist also dieses Mädchen, das nicht nur den König gerettet, sondern auch den Verräter Bayarri entlarvt hat?« Sein Blick fixierte mich. Die Augen waren so hell, dass sie wie Polareis wirkten.
»Nun, das war nicht allein me–«, begann Ophelia.
»Bescheidenheit ist eine Tugend«, unterbrach er mich schroff. »Für heiratswillige Mädchen und Hauspersonal. Nicht für einen Schakal. Schakale sollten immer wissen, was sie geleistet haben.«
Lucien trat neben mich.
»Hör auf damit, Cohen. Sie hat einen guten Job gemacht. Das könntest du ruhig anerkennen.«
Phoenix’ kalter Blick wanderte von mir zu ihm.
»Ich wusste gar nicht, dass ich von dir Befehle empfange, Lucien.« Er sah mich wieder an. »Nun, Ophelia?«
»Es stimmt, Sir«, sagte sie artig. »Das war ich.«
»Trotz dieser Kontakte in deiner Vergangenheit? Diesem hinterwäldlerischen Aufrührer Odell und all seinen Freunden?«
Am liebsten hätte ich ihm eine reingehauen. Die andere Ophelia hielt mich davon ab.
»Deren Ideale sind nie meine gewesen«, erwiderte sie brav. Aus dem Augenwinkel sah ich zu Lucien, aber er verzog keine Miene.
»Nun, wir werden sehen«, sagte Phoenix. »Ich gehe jetzt, ich habe noch Termine außerhalb. Aber ich will dich morgen um Punkt acht in meinem Büro sehen. Dann sprechen wir über deine Zukunft.«
Morgen um acht habe ich hier keine Zukunft mehr. Und du auch nicht, du Arsch. Vielleicht kannst du dann in irgendeinem Exil ein paar Kühe zu Geheimagenten ausbilden. Oder im Jenseits.
»Sehr gern, Sir«, erwiderte Ophelia freundlich lächelnd. »Es ist mir eine Ehre.«
Phoenix nickte knapp, dann ging er ohne Verabschiedung zur Tür. Ich atmete auf, als sie ins Schloss fiel.
»Was für ein Kotzbrocken«, stieß ich aus und sprach für beide Versionen von mir.
»Ja, so ist er. Wenn er eine weiche Seite hat, dann ist sie schon eine Weile als vermisst gemeldet.« Lucien sah in Richtung Tür, durch die Phoenix verschwunden war. »Aber dass er dich treffen will, bedeutet eine Menge. Ich denke, morgen wirst du keine Anwärterin mehr sein.«
Wenn du wüsstest, wie recht du damit hast.
»Du meinst, er wirft mich raus, weil er das von uns weiß?«, sagte ich etwas lahm. Mir war völlig klar, wieso Phoenix aufgetaucht war. Er war neugierig auf das Mädchen gewesen, das einen Kollegen ans Messer lieferte, nur um selbst davonzukommen. In seiner Welt galt das vermutlich als Meisterleistung.
»In solchen Kategorien denkt Phoenix nicht. Wahrscheinlich findet er es sogar gut – dann hat er im Zweifel ein Druckmittel gegen uns beide. Anreize nennt er das.« Lucien ging zurück zur Couch. »Glaub mir, er wird dich morgen in den aktiven Dienst berufen. Wenn du das nicht willst, musst du heute Nacht abhauen.«
Weder ich noch Ophelia wussten, was wir darauf sagen sollten. Also gähnte ich.
»Hey, wenn du lieber in deine Wohneinheit möchtest, verstehe ich das«, sagte Lucien.
»Nein«, sagte Ophelia schnell und lächelte. »Ich bin gerne bei dir. Ich bin nur einfach wahnsinnig müde. Es war ein langer Tag.«
Er nickte und schlang seine Arme um sie. »Dann lass uns bald ins Bett gehen. Du hast morgen schließlich einen wichtigen Termin.«
Die verliebte Ophelia verschränkte ihre Hände in seinem Nacken. »Allerdings.«
Aber nicht so wichtig wie der heute Nacht.
Je länger der Abend dauerte, desto schwerer fiel es mir, konzentriert zu bleiben. Die Kapsel schärfte zwar meine Sinne, aber sie bescherte mir bald Kopfschmerzen. Bei der OmnI hatte das Ganze nur eine Stunde gedauert, jetzt waren es schon fast zwei. Ich war froh, als wir endlich im Bett lagen und das Licht auf ein Minimum gedimmt wurde.
Solange ich mich auf die andere Ophelia konzentrierte, fand ich es gar nicht so schlimm, in Luciens Arm zu liegen. Zum Glück hatte Troy meine Kapseln geholt. Ohne sie hätte ich es nie geschafft.
»Wusstest du, dass es einen größeren Auftrag in Südamerika gibt?«, fragte Lucien leise. Seine Locken streiften meine Schulter. »Da der Sohn des Präsidenten an dem Attentat beteiligt war, muss dort einiges aufgerollt werden.«
»Okay, und?«, murmelte Ophelia schläfrig. Eigentlich war ich nicht müde, sondern hellwach. Mein Hirn pulsierte gegen meine Schädeldecke wie eine Uhr. Tok. Tok. Tok.
»Phoenix hat gesagt, sie bräuchten mehrere Schakale dafür. Vielleicht können wir zusammen dorthin.«
Ich sah hoch und er lächelte mich liebevoll an. Selbst jetzt wollte ich ihm noch glauben. Wie machte er das?
»Ja, das wäre schön«, antwortete Ophelia für mich. »Aber noch bin ich kein Schakal. Du weißt nicht, was Phoenix morgen mit mir besprechen will. Vielleicht passt ihm ja meine Nase nicht – oder meine hinterwäldlerischen Kontakte.«
»Er hätte das nicht sagen dürfen.« Lucien streichelte meinen Arm. »Auch wenn ich froh bin, dass alles so gekommen ist. Sonst wärst du nie ein Schakal geworden.«
»Das freut dich? Du hasst diesen Job.«
»Ja, das stimmt. Aber zum ersten Mal kommt er mir nicht mehr unerträglich vor.« Er sah mich an, den Blick voll täuschend echter Zuneigung. »Stell dir vor, ein kleines Hotel an der Küste von Südamerika, ein riesiges Bett, der Wind weht durch die Vorhänge, nur du und ich …«
»… und die Mission und all die Feinde um uns herum …«
Er lachte. »Du bist wirklich keine Romantikerin, Ophelia Scale.«
»Nein, wohl nicht.« Sie lächelte. »Aber du und ich zusammen auf Missionen, das könnte ich mir gefallen lassen.«
»Das ist gut. Das ist sehr gut.« Er lehnte sich zurück in die Kissen und strich mir zärtlich über die Wange. »Die Zukunft planen ist ziemlich spießig, ich weiß.«
»Du glaubst, dass wir eine Zukunft haben?«, hörte ich jemanden fragen. Ich wusste gerade nicht mehr, welche der Ophelias es war.
»Ich hoffe es«, sagte er. »Es ist bestimmt keine normale Zukunft, schon allein wegen der Feinde und der Missionen. Aber immerhin wäre es eine.« Seine Augen zeigten mir nichts als offene und ehrliche Liebe. Für einen Moment tat es unendlich weh. »Wegen vorhin … ich habe das ernst gemeint, weißt du.«
Ich zwang Ophelia, ihn weiter anzusehen. »Was, dass ich beschissen aussehe?«
»Nein. Das andere.« Er lächelte etwas verlegen.
»Ich habe dir schon eine Antwort darauf gegeben«, sagte sie und erwiderte das Lächeln. »Aber da warst du längst weg.«
Lucien hob die Schultern. »Wahrscheinlich hatte ich Angst.«
»Dazu gibt es keinen Grund.« Ophelia lehnte sich nach vorne und sah ihm ernst in die Augen. »Ich liebe dich, Lucien de Marais. Ich würde bis ans Ende der Welt mit dir gehen.«
Er lächelte. »Ich mache gleich morgen den Flug klar.«
Dann küsste er mich.
37
326 Atemzüge. So lange dauerte es, bis ich sicher war, dass Lucien schlief. Ich registrierte jede seiner Regungen, jede Unregelmäßigkeit und jedes Zucken. Aber auch ohne Kapsel hätte ich es gewusst. Er hatte mich zwar die ganze Zeit belogen, aber im Schlaf konnte er das nicht. Wenn er zu Hause war, fühlte er sich sicher. Das war mein großer Vorteil.
Ich schlüpfte aus dem Bett und ging ins Bad, ohne mich anzuziehen. Wenn Lucien aufwachte und meine Sachen weg waren, würde er sicher Verdacht schöpfen.
In dem Schränkchen über dem Waschbecken suchte ich nach einer Schere oder einem Messer – nach etwas, das scharf genug war, um in die Haut zu schneiden. Ich fand einen Rasierer mit herausnehmbarer Klinge. Eilig friemelte ich sie aus der Halterung und hielt meinen Unterarm über das Becken.
Ich presste die Zähne aufeinander, als die Klinge die empfindliche Haut an meinem Handgelenk durchtrennte. Der Schnitt tat verflucht weh, denn die Aufhebung des HeadLock verstärkte alle meine Empfindungen. Trotzdem gab ich keinen Laut von mir.
Blut lief ins Waschbecken und färbte die weiße Fläche rot. Mit den Fingerspitzen griff ich in die Wunde und angelte nach dem WrInk. Erst beim dritten Versuch bekam ich ihn zu fassen. Mit zittriger Hand holte
ich das flexible Stück Kunststoff heraus und wickelte es in ein Handtuch. Den Schnitt verband ich provisorisch mit einer Bandage, die ich im Schrank fand. Es brannte, aber ich würde nicht verbluten.
Schnell verwischte ich meine Spuren, spülte das Becken aus und versteckte den eingewickelten WrInk bei den anderen Handtüchern im Regal. Nach dem Ende der Ermittlungen war mein Signal außerhalb von Luciens Räumen wieder ortbar. Aber ohne den WrInk konnte mich niemand aufspüren oder aus der Ferne deaktivieren.
Im Ankleidezimmer zog ich meine schmutzige Einsatzkluft wieder an. Dann holte ich die Waffe aus ihrem Versteck. Ein letzter Blick ins Schlafzimmer sagte mir, dass Lucien nichts von meinem Verschwinden bemerkt hatte. Er lag mit dem Gesicht zum Fenster, im Gegenlicht des Mondes sah ich seine Locken auf dem Kissen. Kurz schmerzte der Fleck, wo früher mein Herz gewesen war. Dann wandte ich mich ab.
Die Tür zum Geheimgang war unverschlossen, das grelle Licht brannte mir in den Augen. Vergeblich leuchtete der rote Streifen an der Wand – der Notausgang würde den König heute nicht retten können. Mich vielleicht schon.
Ich war fokussiert und konzentriert, trotz meines schmerzenden Schädels. Die 30 Minuten des Wartens hatten geholfen, ich konnte halbwegs klar denken und fühlte nur wenig. Das musste ich nutzen.
Das Ankleidezimmer des Königs war stockfinster. Langsam tastete ich mich zur anderen Seite und stieß schließlich mit den Fingern gegen die Wand. Aufmerksam horchte ich, ob sich draußen etwas bewegte, dann schob ich die Tür auf. Es war dunkel und niemand zu sehen. Wahrscheinlich war der König längst ins Bett gegangen.
Die Räume waren noch größer als die seines Bruders, und ich brauchte einen Moment, um mich zu orientieren. Ich stand in jenem geräumigen Wohnzimmer, das nur teilweise zu sehen gewesen war, als ich den König und Phoenix belauscht hatte. Es gingen mehrere Türen ab. Da bestimmt Gardisten im Flur standen, öffnete ich leise zwei davon, bevor ich endlich fündig wurde.