by Nikola Hotel
»Alles okay«, schnarrte er. Sein Blick sah gierig aus und wanderte immer wieder zur Beute zurück. »Worauf warten wir noch? Meinst du, jemand hätte sich die Mühe gemacht, das Reh zu vergiften, oder was?«
»Schhhh.« Ich schüttelte den Kopf und lauschte. Sergius war wieder in einer Baumkrone gelandet. Im nächsten Augenblick flatterte Raban auf, flog einen Bogen und landete mit einem Hüpfer direkt auf dem Kadaver. Was für ein Risiko! Ich sog scharf die Luft ein. Wenn hier wirklich ein Falkner lauerte, der einen Habicht flog, dann würde dieser jede Sekunde ausbrechen und sich auf Raban stürzen. Doch der Habicht, der mich angegriffen hatte, war ein freier Vogel gewesen, sagte ich mir immer wieder. Ein wilder Vogel, kein Beizvogel, der seine Beute am Boden schlug. Aufs Äußerste angespannt kehrte ich meine Sicht nach innen, ließ alles vor meinen Augen verschwimmen, bis ich nur noch ein buntes Gemisch aus Wald, Luft und Erde wahrnahm. Jede kleinste Veränderung der Stimmung würde vor meinen Augen in grellen Farben explodieren. Meine Sinne harrten aus, lauerten.
Und nichts geschah.
Raban begann, erste Brocken aus dem Kadaver zu reißen. In seinem Schnabel transportierte er etwas davon in unsere Richtung, schritt ruhig aus und schob das Fettstück hin und her, bis es unter Schnee begraben war. Wieder und wieder riss er Klumpen aus dem Körper und vergrub sie in kurzen Entfernungen, für die er nicht einmal fliegen musste, sondern sie bequem ablaufen konnte.
»Ich hole mir jetzt meinen Anteil«, raunte Jaro mir zu und machte Anstalten, sich aufzuschwingen.
»Warte.« Meine Stimme war nur ein Hauch, und trotzdem hörte Jaro wohl das Beben darin, denn er verharrte auf der Stelle. Mein Herzschlag vibrierte wie eine Fliege, die ins Spinnennetz geraten war. Alarmiert, fast panisch. Was genau war es, was hier nicht ins Bild passte? Hastig suchte ich den Wald ab, aber ich konnte kein Versteck ausmachen, keine Tarnung, nichts. Ich suchte den Himmel ab, dann schoss mein Blick zurück zum Kadaver, zu dem sich nun auch noch Darius und Laszlo gesellt hatten und munter Fleischbrocken vertilgten. Auch mein Magen knurrte bereits.
Der Kadaver …
Ich reckte den Hals und fokussierte den Leib am Boden. Alles sah natürlich aus. Die Haltung, die Fraßstellen – nur die Tierspuren fehlten. Wieso zum Teufel sah ich keine Spuren vom Wolf, der es erlegt hatte? Weil dort Schnee gelegen hat, als das Tier erbeutet worden ist, und nun hat die Sonne seine Pfotenabdrücke weggetaut.
Konnte es so einfach sein?
Am Rumpf des Rehs klebten Fichtennadeln. Doch die hatte ich eben schon bemerkt. Das hier war schließlich ein Fichtenwald.
Fichten.
Wie hypnotisiert starrte ich auf die noch grünen Nadeln am Rücken des Tiers. Dann schoss mir ein alarmierender Gedanke durch den Kopf: Fichtennadeln fallen nicht grün vom Baum.
In derselben Sekunde stieß ich einen schrillen Warnschrei aus. Raban, Darius und Laszlo erstarrten, die Fleischbrocken immer noch im Schnabel. Eine Falle!, dachte ich einen unwirklichen Augenblick, bevor ich es laut herausschrie: »Tschieh! Tschieh!«
Falle! Falle!
Wildes Flattern, als sich nicht nur unser Schwarm, sondern auch jeder andere Vogel in der nächsten Umgebung panisch davonmachte. Wie Hornissen schossen plötzlich Projektile durch die Luft. Ein tödliches Surren. Raban und Darius wurden zeitgleich getroffen und ihre Körper durch die Wucht der Einschläge zurückgeschleudert. Federn stoben in alle Richtungen. Und Blut.
Rabenblut.
Sie waren sofort tot. Ich sah sie unter mir zu Boden fallen wie faule Äpfel. Gemeinsam mit Jaro war ich mit kräftigen Flügelschlägen davongestürzt, als drei Männer aus dem Schutz der Bäume heraustraten. Weiße Overalls hüllten sie von Kopf bis Fuß ein. Laszlo war verletzt. Ich sah ihn hilflos auf der Stelle paddeln – sein rechter Flügel zeichnete dabei ein grausiges Muster aus Blut in den Schnee.
»Scheiß Rabenviecher!«, blaffte einer der Männer, legte erneut das Gewehr an und zielte auf ihn.
Ohne darüber nachzudenken, ließ ich mich fallen und schoss im Sturzflug auf den Bewaffneten zu. Der Aufprall riss das Gewehr nach unten. Ein Knall – und Schnee spritzte in einer Fontäne nach oben, weil die Kugel ihr Ziel verfehlte. Ich landete mit dem Gesicht auf dem Boden. Luft wurde aus meinen Lungen gepresst, als mich ein Stiefel traf. Beinahe sofort brach ich aus meinem Rabenkörper aus und rollte herum. Mit Schwung riss ich an dem Bein, das nach mir getreten hatte, und der Mann krachte ächzend auf den Rücken.
Das Letzte, was ich sah, bevor ein Gewehrkolben mein Blickfeld verdunkelte, waren kräftige Hände, die Laszlo vom Boden aufklaubten und ihm den Hals rumdrehten. Über mir ein Flattern, Rabenschreie.
Dann explodierte mein Schädel.
TODESSPUR
ISABEAU
»Camping!« Lara schnaubte und warf ihre dicken Fellhandschuhe auf den Schreibtisch, bevor sie sich aus ihrem Mantel quälte. »Kannst du mir sagen, wie man bei diesen Temperaturen auf die Idee kommen kann, ein Zelt aufzuschlagen? Die spinnen, diese Camper!«
Mit einem Plumps ließ sie sich auf ihren Drehstuhl fallen, ihre Arme baumelten an ihr herab und demonstrierten, wie hilflos Lara sich fühlte. »Ich habe fast eine halbe Stunde auf diese beiden Idioten eingeredet, aber sie lassen sich partout nicht davon abbringen. Und das Blöde ist: Ich kann sie nicht einmal mit den Parkregeln kleinkriegen. Es ist erlaubt, im Notfall ein Zelt aufzuschlagen. Erst wenn sie morgen immer noch da sind, kann ich sie dazu zwingen, abzuziehen. Dann ist es kein Notfall mehr, sondern so was wie Urlaub.«
Ich unterdrückte ein Schaudern. Wenn diese Nacht so werden würde wie die letzte – was zu erwarten war –, dann sanken die Temperaturen bis knapp unter zehn Grad minus. Das war jedenfalls kein Wetter, bei dem ich freiwillig in einen Schlafsack krabbeln würde.
»Hast du ihnen angeboten, bei uns zu übernachten?«, erkundigte ich mich. Platz genug hatten wir, aber es gab auch genug Pensionen in Südböhmen. In jedem Dorf, das man durchfuhr, war mindestens ein Schild mit der Aufschrift penzión oder hostinec angebracht. Im Winter waren diese natürlich weniger gut besucht als im Sommer, wenn die Wanderer und Mountainbiker kamen. Urlauber, die hierher zum Wintersport anreisten, übernachteten auch meist in einem Hotel in Sessellift-Nähe oder mieteten sich ein Apartment im Ort.
»Lara?« Ich tippte ihr auf die Schulter, denn sie hatte nach ihrer Tirade die Aufmerksamkeit direkt auf den Computerbildschirm gerichtet und mir nicht geantwortet. Darauf leuchtete nun ein Foto von einem Luchs auf.
»Mmh«, machte sie nachdenklich. »Habe ich, aber davon wollten sie nichts wissen. Haben nur was von Abenteuer gefaselt. Hoffentlich halten sie sich auch daran, dass sie kein Lagerfeuer anzünden dürfen. Sakra!«, fluchte sie, dann fuhr ihre Hand entschuldigend zu ihrem Mund.
»Was ist?« Ich warf einen Blick über ihre Schulter. Ihr Haar duftete nach Shampoo und kitzelte mich in der Nase.
»Ein Foto von dem Luchskater, der hinter der Grenze bei Philippsreut überfahren wurde. Der Tierarzt hat mir gesagt, dass auf dem Röntgenbild eine doppelte Fraktur der Wirbelsäule und ein Schädelbasisbruch zu sehen sind. Er geht davon aus, dass der Luchs nach dem Zusammenstoß sofort tot war und nicht hat leiden müssen. Wenigstens etwas.«
Ich betrachtete das Bild genauer. Der kleine Kopf zeigte eine blutende Wunde am Ohr, die die typischen Pinsel rot färbte, und der Rücken war seltsam gekrümmt. Ich studierte das Tupfenmuster, das sich über den ganzen Körper zog, den kurzen Schwanz, der in einem dunklen Stummel endete, als hätte man ihn in schwarze Farbe getaucht, und sog erschrocken die Luft ein.
Lara seufzte und drehte sich zu mir um. »Kommt dir das Fellmuster irgendwie bekannt vor?«
Mir wurde das Herz schwer, und ich nickte langsam. »Das ist Peter.«
»Jetzt wissen wir wenigstens, wieso wir schon so lange nichts von ihm gehört haben.«
Damit spielte Lara auf den Sender an, den er sich bei irgendeiner Rauferei oder Kletterpartie abgerissen haben musste und den wir schon vor Tagen gefunden hatten.
»Der arme kleine Kerl«, sagte ich leise. Dabei war Peter nicht klein. Er war im Gegensatz sogar ein ziemlicher Brocken von einem Kuder gewesen. Als wir ihn vor ein paar Monaten
in einer Kastenfalle geschnappt hatten, hatte er sehr gut im Futter gestanden. Es beschämte mich, dass ein so kräftiges Wildtier so leicht der modernen Zivilisation zum Opfer fallen konnte. Luchse waren scheu. Die Chance, sie zufällig in freier Wildbahn zu sehen, war äußerst gering. Was für ein dummer Zufall hatte ihn nur in die Nähe der Straße geführt?
»Vor ein paar Tagen hat ihn noch eine Fotofalle erfasst.« Lara klickte das Bild vom toten Peter weg und öffnete eine andere Datei. Die Fotofalle hatte in der Nacht zugeschnappt, als Peter auf einem Streifzug gewesen war. Er sah darauf direkt in die Kamera, und seine Augen reflektierten das Blitzlicht, was sie aussehen ließ wie zwei glühende Kohlen. Der Hintergrund schaurig blass. Und jetzt war er tot. Ich schüttelte meine Gedanken aus wie einen nassen Regenmantel und kam auf die beiden Wanderer zurück.
»Vielleicht sollten wir ihnen sagen, dass sie ihr Auto bei uns abstellen und nicht irgendwo wild parken sollen«, sagte ich.
Lara winkte ab und fuhr ihren Computer herunter. »Hab ich bereits. Davon waren sie gar nicht begeistert. Aber ich habe ihnen gleich klargemacht, dass ich den Wagen sonst abschleppen lasse. Der weiße Nissan.« Mit einem Kopfnicken deutete sie in Richtung des Parkplatzes draußen.
Ich trat zum Fenster und zog den Vorhang zur Seite. Ein Pathfinder, das konnte ich in der Dämmerung gerade noch erkennen. Die Heckscheiben waren mit Folie abgeklebt worden. Die Scheibentönung hatte dem Fahrer wohl nicht ausgereicht, er wollte auf Nummer sicher gehen, dass garantiert keiner einen Blick in seinen Geländewagen werfen konnte. Ich fand das übertrieben, aber was verstand ich schon von der Psyche von Wanderern, die bei Minusgraden im Nationalpark zelten wollten? Die konnten eh nicht ganz dicht sein!, tat ich das Ganze mit einem Achselzucken ab und zog mein Handy aus der Hosentasche.
Alexej hatte sich nicht gemeldet, was okay war, denn das tat er selten. Er war kein Freund des Telefonierens und besaß selbst gar kein Handy. Wo hätte er das auch hinstecken sollen, wenn er sich als Rabe fortbewegte? Trotzdem wünschte ich, er würde wenigstens einmal kurz durchklingeln, nur um mir zu sagen, wo er steckte. Ich konnte damit leben, dass er viel unterwegs war, aber die ständige Sorge, dass ihm etwas passiert sein könnte, fraß an meinen Nerven. Ich wusste weder, ob er mit seinem Schwarm unterwegs war, noch ob er nach Orlík zurückgekehrt war. Seitdem seine Oma ihn wieder aufgespürt hatte, nutzte der General jede Gelegenheit, ihn für ihre Interessen einzuspannen. Ich mochte die alte Dame und konnte sie verstehen, aber Alexej hatte ihr schon lange klarmachen wollen, dass er sich nicht um das alte Schloss kümmern wollte und auch auf sein Erbe gut verzichten konnte. Doch seine abweisende Haltung beeindruckte sie überhaupt nicht.
Ob ich sie anrufen sollte?
Nein, dabei käme ich mir furchtbar blöd vor. Sie konnte mir meine Sorgen auch nicht nehmen, und ich würde sie nur beunruhigen. Völlig überflüssig also. Ich spürte, wie ein seltsames Kribbeln mir im Nacken hochkroch und es in meinem Magen unruhig hüpfte. Gegessen hatte ich auch den ganzen Tag noch nichts. Marek hatte mich mit der Wartung der Sender beauftragt, und ich hatte deshalb mehrere Stunden Geräte gereinigt, Akkus ausgetauscht und deren Funktionsfähigkeit überprüft. Anschließend sollte ich neue Fotofallen installieren. Dazu hatte Marek mir mehrere Punkte auf der Karte eingezeichnet, von denen wir wussten, dass sie von Wild stark frequentiert wurden. Ich hatte nur die Hälfte der Plätze abgeklappert und würde mir morgen früh den Rest vornehmen. Aber jetzt brauchte ich erst einmal was zu essen. Ich wünschte Lara einen schönen Abend und schnappte mir meinen Parka vom Haken im Flur. Das Kunstfell, das ich hineingeknöpft hatte, gab mir jedes Mal, wenn ich es berührte, einen kleinen elektrischen Schlag, der meine Haare knistern ließ.
Draußen stülpte ich mir gegen den Wind die Kapuze über den Kopf und schaltete die Taschenlampenfunktion meines Smartphones ein. Erstaunlich, wie schnell hier das Dämmerlicht vollkommener Nachtschwärze wich. Innerhalb weniger Minuten war die Abendsonne verschwunden, als hätte jemand eine Lampe ausgeknipst. Ich lief über den Parkplatz an Mareks Suzuki vorbei, der neben dem luxuriösen Pathfinder aussah wie ein Kinderspielzeug. Der Schein meines Handys streifte den Kofferraum des weißen Geländewagens. Ganz schön verdreckt, stellte ich fest. Die Ladekante am Kofferraum sah aus, als hätte jemand seine schlammverschmierten Schuhe daran abgestreift. Kopfschüttelnd wollte ich weitergehen, da blitzte vor meinen Augen etwas Rotes auf dem Schotterboden auf. Ich bückte mich und hob ein kleines rechteckiges Stück Pappe auf, das an den Rändern ausgefranst war. Vermutlich war es von irgendeiner Verpackung abgerissen. Ich steckte es gedankenlos in meine Hosentasche, lief den Weg zu meiner Hütte hinunter und schloss die Haustür auf.
Der Ofen war kalt. Ich war länger als geplant bei Lara im Büro geblieben und hatte vergessen, rechtzeitig Holz nachzulegen. Als ich mich auf mein Bett setzte, biss mich die klamme Kälte durch die Jeans, und ich schreckte sofort wieder hoch. Erst einmal einheizen. Mit ein paar Spänen stocherte ich im Feuerraum herum – wenigstens Glut war noch da – und schob zwei Scheite durch die enge Öffnung nach.
Neben meinem Schreibtisch stand ein kleiner Kühlschrank, den ich allerdings nur äußerst selten anrührte, und auch jetzt hatte ich wenig Hoffnung, dass er sich von allein gefüllt haben könnte. Der Inhalt war tatsächlich mehr als trostlos: eine angebrochene Tüte Milch, die bereits unangenehm roch, Marmelade und eine zerquetschte Tube Senf – na wunderbar! Doch auf meinem Schreibtisch stand wenigstens noch eine Schachtel Ritz-Cracker. Missmutig dippte ich einen der salzigen Kräcker in die Himbeermarmelade und schaltete mein Handy ein. Mein Bruder Timo hatte mir eine Sprachnachricht geschickt, die ich abhörte, während ich den Schreibtisch vollkrümelte und anfing, meine Hosentaschen zu entleeren.
»Hi Isa. Ich weiß, du hast bestimmt wie immer keine Zeit, aber da ist dieser Brief von der Uni gekommen. Geht um das Ende deines Urlaubssemesters, und Papa will dich deswegen morgen anrufen …« Er plapperte weiter, und ich beförderte Taschentücher, einen Labello und ein Taschenmesser auf den Tisch. Das Stück Pappe, das ich neben dem Auto gefunden hatte, drehte ich in den Händen und stopfte mir den nächsten Kräcker in den Mund.
»… du kannst nicht einfach wegbleiben, wenn Anfang April das Sommersemester anfängt, sagt Papa, sondern musst dich beurlauben lassen …«
Was interessierte mich die Uni?, fragte ich mich und seufzte. Auf dem roten Stück Pappe war ein kreisrundes Logo abgebildet, das aus einem G und drei weiteren Buchstaben im Inneren bestand.
»… den Antrag schriftlich einreichen und als Grund angeben, dass es sich dabei …«, er raschelte im Hintergrund mit irgendwelchen Papieren, »… um die Aufnahme einer praktischen Tätigkeit handelt, die dem Studienziel dient … bla … bla … sonst kannst du das vergessen.«
G e c o. Meine Lippen bewegten sich lautlos. Geco. Das Logo hatte ich noch nie gesehen, und auch mit dem Wort konnte ich nichts anfangen. Am unteren Rand standen ein paar seltsame Gramm-Angaben. Vielleicht ein Medikament?
»… dann wirst du exmatrikuliert.« Timo schnaubte in den Hörer. »Also vergiss mal für fünf Minuten diese ganze Geschichte mit Alexej und seinen … also … äh, Kumpels … und kümmere dich um diesen scheiß Antrag, ja? Sonst ist dein Studium für’n Arsch.«
Die Sprachnachricht war zu Ende. Ich hob das Handy auf, doch anstatt zurückzurufen oder Timo eine SMS zu schicken, öffnete ich den Browser und tippte versuchsweise den Firmennamen in die Suchleiste: Geco.
Eine ganze Reihe an Ergebnissen wurde mir angezeigt, nicht wenige davon hatten aus meinem Suchwort einen »Gecko« gemacht. Aber dann sah ich doch ganz weit oben ein Ergebnis, das mir unwillkürlich eine Gänsehaut bescherte: geco-munition.de.
Mit zitternden Fingern tippte ich auf die Adresse, um die Website aufzurufen, und blickte nach wenigen Sekunden in den Lauf eines Jagdgewehrs.
Okay, Isa, bleib mal ganz locker.
Ich scrollte nach unten, aber der komplette Hintergrund der Seite war in rote Farbe getaucht und das Firmenlogo glich ganz genau dem Logo auf dem Pappstück in meiner Hand. Ich verglich die wenigen Infos, die ich entziffern konnte, mit den Produkt-Abbildungen der Seite und hatte bald darauf das P
rodukt gefunden, das sich in dieser Schachtel befunden haben musste: Gewehrmunition Kaliber 7 x 64. Die Produktbeschreibung dazu lautete: Der Urvater aller Geschosstypen, unverwüstlich und immer gefragt. Es spricht im Wildkörper zuverlässig an, wirkt in der Tiefe und bringt in der Regel Ausschuss.
Hatte Lara nicht gesagt, die Besitzer des Wagens wären Wanderer, die bei uns im Wald nur eine Nacht im Zelt verbringen wollten? Das sah für mich aber ganz und gar nicht so aus, als handelte es sich bei den beiden Männern um harmlose Spaziergänger. Hatte mich der luxuriöse Geländewagen schon misstrauisch gemacht, so war ich nun wirklich alarmiert. Was wollten diese Männer hier? Es gab genug private Jagdgebiete, wieso waren sie ausgerechnet hierhergekommen?
Vielleicht interpretierte ich aber auch zu viel in dieses Stück Pappe hinein. Vielleicht war es nur Zufall, dass ich es ausgerechnet neben dem Pathfinder gefunden hatte. Der Wind hatte es vielleicht hierhergetrieben, und die Schachtel gehörte gar nicht den harmlosen Wanderern, sondern Marek, der, soweit ich wusste, ebenfalls ein Jagdgewehr besaß. Wenn auch nur zur Deko.
Vielleicht, vielleicht, vielleicht.
Ich riss meine Schreibtischschublade auf. Irgendwo dort drin musste eine Taschenlampe sein. Hektisch kramte ich Papiere und anderen Krempel beiseite. Ansonsten musste eben wieder mein Handy herhalten. Aber nein, ich fand die schmale Alulampe unter einem Wust Fotos, die ich im Spätsommer im Wald geknipst hatte. Tierfotos, Losungen, angefressene Kadaver, Pfotenabdrücke im weichen Waldboden, ausgetretene Pfade. Seitdem hatte sich so viel verändert. Meine ganze Welt hatte sich um hundertachtzig Grad gedreht. Aber ich war nicht bereit, etwas davon kampflos aufzugeben. Und deshalb würde ich mir diesen Wagen jetzt einmal genauer ansehen.
Ich schlüpfte in meinen Parka und zog mir den Reißverschluss energisch bis unter das Kinn, bevor ich leise die Tür aufzog und nach draußen schlüpfte. Den Schein der Lampe richtete ich auf den Boden vor mir. Er erhellte erst die Treppe und dann, als ich ihn weiterwandern ließ, ein paar nackte Füße, die nur wenige Zentimeter von mir entfernt auf den Stufen standen.