by Nikola Hotel
Sergius griente. »Selbst wenn. Das sind auch keine Leute, die vor der Polizei Angst haben.«
»So wie du.« Die Worte waren einfach so aus mir herausgepurzelt, und ich hielt den Atem an. Sergius startete den Motor und trat aufs Gas. Die Räder drehten durch, dann machte er Wagen einen Hüpfer. Stur blickte er auf die Straße und verzog dabei keine Miene. »Angst hat man mir schon vor langer Zeit ausgetrieben.«
Wie zum Beweis spannten sich seine Unterarme an, und die feinen Narben traten weiß hervor. Ich wagte nicht nachzufragen, auf welche Weise oder wer das getan hatte, denn im Grunde ging mich das nichts an, und ich wollte es auch gar nicht wissen. Nachher würde Sergius mir noch leidtun, und das Letzte, was ich wollte, war, für sein Verhalten so etwas wie Verständnis aufzubringen. Es wunderte mich trotzdem, dass er diese Andeutung machte. Ob er etwa wollte, dass ich ihn verstand?
»Alexej hat erzählt, dass du mehrere Brüder hast.«
»Vergiss es, Isa. Ich habe echt keinen Bock auf Small Talk.«
Also doch nicht. Na gut, es war nur ein Angebot, aber anscheinend war seine Redebereitschaft nur reine Einbildung von mir gewesen. Trotzdem hätte ich gerne gewusst, ob er wirklich so gerne als Rabe lebte, wie er vorgab. »Du bist doch der Einzige von deinen Brüdern, der … ein Rabe ist. Hat dich das nie gestört?«
Er bremste so abrupt ab, dass mir der Gurt die Luft nahm. Mein Handy, das ich bis dahin auf dem Schoß liegen hatte, landete klappernd im Fußraum. Ich wartete mit eingezogenen Schultern darauf, dass er mich anschnauzen würde oder Schlimmeres, doch sein Mund formte sich zu einem Lächeln. Das hätte mich gleich misstrauisch machen sollen, aber ich war erleichtert, dass er offenbar nicht sauer auf mich war. Hätte ich ihn besser gekannt, hätte ich gewusst, dass ein Lächeln von Sergius viel gefährlicher war als jeder Drohblick. Er ließ den Gurt aufschnappen und beugte sich zu mir herüber.
»Sechs«, sagte er. »Ich hatte sechs Brüder.« Sein Lächeln wurde breiter. Ich sah ein paar kurze Härchen an seinem Kinn, die er beim Rasieren nicht ganz erwischt hatte und die seinem hübschen Gesicht etwas Unperfektes gaben. Etwas, auf das sich mein Blick konzentrieren konnte, ohne nervös zu werden.
»Wir hatten eine sonnige Kindheit in einem polnischen Kinderheim ganz in der Nähe der ukrainischen Grenze. Es war nett – wir nannten es liebevoll Hundezwinger.«
»Wir müssen nicht darüber reden, wenn du nicht willst«, begann ich vorsichtig. »Tut mir leid, dass ich so neugierig war.«
»Dein Handy ist runtergefallen«, erinnerte er mich und nickte in Richtung meiner Füße. Ich wagte nicht, mich zu rühren, weil ich damit rechnete, dass seine Stimmung jederzeit umschlagen könnte. Als er sich mit dem Handballen auf meinem Knie abstützte, um das blöde Telefon aufzuheben, hielt ich den Atem an.
»Mein jüngster Bruder Mikolaj kam geistig behindert zur Welt. In meinem Kopf sind ganz wunderbare Erinnerungen von den Foltermethoden, die sie im Hundezwinger bei ihm angewandt haben, um ihn gesund zu machen. Mein Glück war es, als Ältester geboren zu sein. Tomasz und Marcin haben dort nicht einmal richtig sprechen gelernt, ich bin wenigstens vorher schon mal auf einer Schule gewesen.« Er warf mir das Handy zu, das auf meinem Schoß landete und zwischen meine Knie rutschte, weil ich es nicht festhalten konnte. Genauso wenig, wie ich die Gefühle zurückhalten konnte, die in mir hochkochten.
»Ansonsten das Übliche halt: ziemlich viel Dreck, ziemlich viele Exkremente, ziemlich viele Schläge. Dafür wenig Wasser und noch weniger zu essen. Als Mikolaj schwer krank wurde, weil das Zimmer, in dem wir schliefen, nicht geheizt wurde, und ich nach einem Arzt fragte, hieß es: Man hätte ihn besser direkt nach der Geburt ertränkt. Tja. Er ist dann auch nur acht Jahre alt geworden.« Er legte seine Hände zurück auf das Lenkrad und fuhr wieder an.
Ich räusperte mich, um den Brocken in meiner Kehle loszuwerden, der sich dort festgesetzt hatte. »Willst du dich nicht lieber wieder anschnallen?«
Sergius gab ein Schnauben von sich und schaltete in den nächsten Gang. Anschnallen war nur etwas für Leute, die noch Angst haben konnten. Er gehörte wohl wirklich nicht dazu. Und ich wollte das alles gar nicht wissen. Die Bilder, mit denen sich mein Kopf zu füllen begann, entsetzten mich. Und doch konnte ich mir kaum vorstellen, wie er diese Zeit überstanden hätte, wenn er kein Kämpfer wäre, kein Rabe. »Wie hast du das nur ausgehalten?«, fragte ich, gleichzeitig wissend, dass mir die Antwort vielleicht nicht gefallen würde.
»Für mich war es nicht so schlimm wie für die anderen. Ich hatte ein schönes Gesicht und bekam manchmal etwas zugesteckt. Wenn ich brav war. Aber wenn ich nicht spurte, dann wurde ich ordentlich durchgefickt.« Er lachte hart.
Oh Gott! Bitte lass ihn das im übertragenen Sinne meinen. Bitte!
»Du würdest dir jetzt gerne die Ohren zuhalten, oder? Ist bestimmt nicht so einfach für ein sauberes deutsches Mädchen, sich so was anzuhören. Wenn du dich also immer noch fragst, ob es mich stört, dass aus mir ein Rabe geworden ist, dann hast du nichts kapiert. Das war das Beste, was mir passieren konnte. Das Beste!«
»Was ist … mit euren Eltern? Wieso seid ihr überhaupt dort gelandet?«
»Kann ich dir nicht sagen.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich erinnere mich nicht an sie. Keine Ahnung, ob sie einen Unfall hatten oder abgehauen sind.« Er lenkte den Wagen an einem Ortsschild vorbei, aber ich hatte nicht aufgepasst, wie der Ort hieß, weil mich seine Geschichte zu sehr aufwühlte. Ich konnte mir Sergius unmöglich als kleinen Jungen vorstellen. Und erst recht nicht als einen hilflosen kleinen Jungen.
»Hast du noch Kontakt zu deinen Brüdern?«
»Nein.« Sergius setzte den Blinker und fuhr auf einen großen Parkplatz, der an eine Art Park grenzte. »Aber jetzt weißt du, warum ich nicht so schön Klavier spielen kann wie unser Fürst Alexander.« Er brach in irres Gelächter aus, das mich mehr schockierte als alles andere. Mit einem Ruck kam das Auto zum Stehen, und sein Lachen verstummte. »Wir sind da.«
Mit wackeligen Knien kletterte ich aus dem Auto und zog den Reißverschluss meines Parkas wieder bis zum Kinn hoch. Ich hatte es eilig, Sergius zu entkommen. Er strahlte mehr Kälte aus als der Nebel, der über den Boden waberte und zwischen den Bäumen festhing wie eine Hängematte.
Als ich die beiden Rabenvögel sah, die über den Parkplatz hüpften und dabei wiederholt ein Krächzen ausstießen, war ich unendlich erleichtert, in einem davon Jaro zu erkennen. Sein kleiner Kopf wippte zur Begrüßung auf und ab. Der andere wirkte deutlich imposanter und größer als Jaro. Das musste Milo sein. Ich wusste, dass die beiden sich in dieser Kälte nicht freiwillig verwandeln würden, und sah mich auf dem Parkplatz um.
Der Pathfinder stand ganz in der Nähe des kleinen Kassenhäuschens, als würde der Fahrer nur mal eben seinen Wochenendeinkauf erledigen.
»Sie haben sich ja wahnsinnig viel Mühe gegeben, die Karre zu verstecken«, raunte Sergius.
Jaro flatterte unruhig auf, als wir uns dem Auto näherten. Ich lief sofort zum Kofferraum und klopfte gegen das Blech, bevor ich mein Ohr an den Wagen lehnte und lauschte. Nichts.
Sergius ließ seine Handfläche über die Motorhaube gleiten. »Eiskalt.« Allerdings war kein frischer Schnee auf den Wagen gefallen und zumindest die Fenster frei. Ich sah, wie er zu unserem Suzuki zurücklief und eine der Fließdecken aus dem Auto zerrte. Er wickelte sich die Decke um den rechten Arm.
»Was hast du vor?«
»Einen Blick in diese Dreckskarre werfen, was sonst?« Er holte aus und rammte seinen gepolsterten Ellbogen gegen die Scheibe auf der Beifahrerseite. »Verdammt!«, fluchte er mit schmerzverzerrtem Gesicht, als die Scheibe nicht nachgab.
Ich konnte nicht verhindern, dass ein leises Prusten über meine Lippen kam. Was glaubte er denn, wer er war? Mr. Incredible? Batman? Aber ehe ich mich versah, hatte Sergius zwei Schritte rückwärts gemacht. Dann trat er mit voller Wucht gegen die Scheibe. Leider erfolglos. Er ging erneut zurück, um Anlauf zu nehmen, da hob ich meine Hand. »Warte!«
Mir fiel ein, was mein Bruder Timo mir einmal über sein Praktikum erzählt hatte, das er beim Technischen Hilfsdienst absolviert hatte. Deshalb kramte ich in meiner Jackentasche na
ch einem Kugelschreiber. Wenn Sergius einen auf Batman machte, dann würde ich es mit MacGyver probieren, dachte ich innerlich grinsend. Ich setzte die metallene Spitze in der Mitte der Scheibe an. Mit zusammengebissenen Zähnen begann ich, hart gegen das Glas zu klopfen.
»Was zum Teufel machst du da?«, blaffte Sergius. »Willst du das Fenster bekritzeln und es damit zu Tode erschrecken?« Er sah wütend aus, weil er mit seinen Muskeln keinen Erfolg gehabt hatte. Ich beachtete ihn nicht weiter, sondern klopfte immer schneller von der Mitte nach hinten abwärts, und kurz bevor ich die Ecke erreicht hatte, gab die Scheibe ein Knacksen von sich. Ein leichtes Klopfen mit meiner behandschuhten Hand, und das Fensterglas bröselte auf die Rückbank.
Triumphierend sah ich zu Sergius auf. Dessen Miene spiegelte Fassungslosigkeit wider.
»Das ist Physik«, sagte ich und steckte den Kuli wieder in die Tasche. Eine halbe Minute später riss Sergius die Tür zum Kofferraum auf. Das Nächste, was ich hörte, war meine eigene Stimme, die einen gellenden Schrei ausstieß.
FAUSTEID
ISABEAU
»Das ist nicht Alexej!« Sergius hatte mich an den Schultern gepackt und schüttelte mich, aber ich konnte einfach nicht aufhören zu schreien.
Plötzlich traf mich seine flache Hand im Gesicht, und mein Kopf flog von der Wucht des Schlages zur Seite. Jaro kreischte auf, flatterte wie tollwütig um Sergius’ Kopf und hackte mit dem Schnabel nach ihm. »Hör auf, verdammt!« Er scheuchte den Vogel weg. Und zu mir gewandt sagte er: »Beruhig dich, es ist nicht Alexej. Es ist nur einer der Jäger.«
Ich fasste mir an die brennende Wange. Dieser Mistkerl! Das war so was von gegen die Regeln! Aber seine Ohrfeige hatte das bewirkt, was keine Worte erreicht hätten: Mein Anfall war vorüber. Trotzdem hätte ich stattdessen lieber ein paar ruhige Minuten lang in eine Plastiktüte geschnauft. »Aber was ist mit ihm passiert?«
Ich hielt mir die Finger vors Gesicht und spreizte sie. Wie ein ängstliches Kind lugte ich hindurch und entdeckte an Sergius das erste Mal so etwas wie Verlegenheit. »Ich schätze mal, er hat sich das Genick gebrochen.«
Meine Arme sackten nach unten. »Und woher willst du das so genau …« Ich unterbrach mich selbst und starrte ihn mit offenem Mund an. Sergius kratzte sich am Arm und zog sich dann die Ärmel bis zum Handgelenk herunter. Er straffte sich, und als er mich direkt ansah, funkelten seine Augen mehr denn je wie zwei olivfarbene Moldavite.
»Tja«, sagte er kalt. »Das ist dann wohl ebenfalls Physik gewesen. Mechanik, um genau zu sein. Bei Gelegenheit kann ich dir ja zeigen, in welchem Winkel man die Drehung ausführen muss.«
Ich war sprachlos. Dann lenkte aufgeregtes Flattern meine Aufmerksamkeit wieder zum Kofferraum. Jaro schwirrte immer wieder vom Boden hoch, doch Milo war sofort neugierig auf der Alu-Abdeckung gelandet und hüpfte nun ins Innere. Ich brachte es beim besten Willen nicht über mich, noch einmal da reinzugucken, und drückte mich mit dem Rücken an die Seitentür. Ich holte tief Luft und versuchte krampfhaft, mir nicht vorzustellen, wie Sergius diesem Mann das Genick gebrochen haben könnte, aber die Bilder gingen in meinem Kopf auf wie Pop-up-Fenster.
»Kroak!« Milo gab mehrere heisere Laute von sich, und Jaro krähte zur Antwort ein abgehaktes »Aki, Aki«.
»Er hat recht. Das riecht nach Alexej.« Zur Bestätigung hielt mir Sergius seine offene Hand hin, auf der ein paar schwarze Flaumfedern lagen. Wie irrsinnig, die weichen Federn auf einer Hand zu sehen, die nur wenige Stunden zuvor das Kinn dieses Mannes grob gepackt haben musste. Die Federn waren so zart und leicht, dass sie der nächste Lufthauch von Sergius’ Handfläche wehte. Mein Blick folgte ihnen, bis sie sanft auf dem Boden landeten und an den Schneekristallen hängen blieben.
Mit etwas im Schnabel, das wie ein silbernes Plastikstück aussah, sprang Milo aus dem Wagen. Es war mehrere Zentimeter breit, und als ich mich aus meiner Starre lösen und es ihm abnehmen konnte, erkannte ich, dass es sich dabei um Klebeband handelte. Die Enden waren glatt, als hätte es jemand mit einem Messer oder einer Schere abgeschnitten.
»Sie haben ihn gefesselt«, sagte ich mit einem Zittern in der Stimme.
»Gut so.«
»Was soll daran bitte gut sein?«, fauchte ich aufgebracht und wäre Sergius wegen seines kaltblütigen Tonfalls am liebsten an die Gurgel gesprungen.
»Es gibt keinen Grund, einen Toten zu fesseln, denk doch mal nach! Wenn sie ihn gefesselt haben, dann nur, weil er sich noch wehren konnte. Wahrscheinlich sind sie zu Fuß weiter, und sie haben die Fessel aufgeschnitten, damit er laufen konnte.«
Das klang allerdings logisch, musste ich zugeben. Jedoch … »Wenn er sich verwandelt hat«, ich deutete auf die wenigen Federn, »ist er ihnen vielleicht doch entkommen.«
»Wenn er sich vollständig verwandelt hat«, betonte Sergius. »Das würde aber nicht erklären, warum die Fesseln aufgeschnitten wurden.«
»Wie vollständig? Heißt das, man kann sich auch unvollständig verwandeln? Wie soll ich mir das vorstellen? Halt, nein, sag es mir nicht!« Ich hob abwehrend die Hand und presste sie mir dann vor den Mund.
Sergius zuckte mit den Schultern. »Möglich.«
»Ist dir das schon mal passiert? Ich meine, hast du …«
»Ich mache keine halben Sachen«, sagte er.
Doch dann verschwand sein Grinsen, und er knallte den Kofferraumdeckel zu. »Auf jeden Fall ist diese Aktion hier ein ganz großer Scheiß«, fluchte er und schlug mit der Faust gegen das Auto. »Sie sind nicht vor uns geflüchtet, und sie haben sich auch nicht vor uns versteckt. Sie wollten, dass wir die Karre hier finden! Das ist eine beschissene Schnitzeljagd! Reine Zeitverschwendung. Im Grunde hätten sie uns auch einfach eine Notiz an den Wagen pinnen können: Kommt morgen um neun zu irgendeinem verfickten Fabrikgelände in diesem verfickten Kaff und lasst euch dort verfickt noch mal abschlachten. Vorher gibt’s Käsekuchen.«
»Käsekuchen«, wiederholte ich verwirrt.
»Ja«, sagte Sergius. »Das wär mal ein echter Anreiz gewesen, ich stehe auf Käsekuchen.«
Über diesen Themenwechsel konnte ich nur verblüfft den Kopf schütteln. Sergius war ein Irrer!
Wenn ich mir das oft genug in Erinnerung rief, dann würde ich vielleicht auch wieder vergessen, was er mir auf der Fahrt hierher erzählt hatte. Ich hatte schon Bilder von Kinderheimen in Rumänien gesehen, die so ziemlich genau das widergespiegelt hatten, was er nur andeutete. Man konnte nur durchdrehen, wenn man eine solche Hölle überlebt hatte. Er ist ein Irrer, wiederholte ich stumm. Das durfte ich niemals vergessen, egal wie oft dieser Funke eines ganz neuen Gefühls in mir aufblitzte. Dieses Gefühls, dass sich zwischen uns etwas entwickeln könnte, was entfernt an Freundschaft erinnerte.
Wie zum Hohn spürte ich auf meiner Wange nun überdeutlich das Kribbeln, das sein Schlag hinterlassen hatte. Es hätte mich nicht gewundert, wenn darauf ein roter Handabdruck zu sehen war. Unwillkürlich berührten meine Fingerspitzen die Stelle unterhalb meines Jochbeins, und ich zuckte zusammen. Sergius schüttelte sich die Haarsträhnen aus der Stirn und hob seine Hand. Kurz hing sie in der Luft, als wolle er mich ebenfalls dort anfassen. Mit dieser kalten Hand, die dem Jäger das Genick und sein Versprechen mir gegenüber gebrochen hatte.
»Wir hatten übrigens eine Abmachung«, sagte ich und knallte ihm die Reste des Klebebands vor die Brust. Du hast versprochen, mich nicht zu bedrohen oder anzufassen, verdammt! Aber ich sagte es nicht laut, sondern stapfte über den Parkplatz zurück zum Suzuki, um meine Tasche vom Rücksitz zu nehmen. Innerlich war ich aufgewühlt und kein bisschen so wütend, wie ich tat, weil ich mir eine Schwäche eingestehen musste. Andere kauten an ihren Fingernägeln oder knibbelten die Etiketten von Glasflaschen ab. Meine Schwäche war es, an Sergius’ Etikett zu knibbeln. Langsam und unermüdlich.
Aber egal, wie sehr ich mich auch daran abmühte, ein dreckiger Rest würde immer kleben bleiben.
HÖLLENKLANG
ALEXEJ
Der Techno-Beat wummerte gegen die Scheiben. Ich hatte es längst aufgegeben, kläglich zu krächzen. Genauso wie ich es aufgegeben hatte, ein Schlupfloch aus diesem Saal zu finden. Wassilij war kein Dummkopf. Er wusste genau, w
ie der Raum präpariert sein musste, damit ich mich nicht befreien konnte und mich doch der Freiheit so nah fühlte, dass es umso mehr schmerzte.
Ich schätzte die Raumhöhe auf mindestens vier Meter, und die gesamte Seite, die zur Straße führte, bestand aus bodenlangen Fenstern. Das hier war kein Verlies, sondern ein Ort der Freiheit und der Kunst. Eine Galerie, die dazu geschaffen war, Gedanken, Träume, Fantasien und Wirklichkeiten auszustellen. Die Fenster waren mit weißen Tapetenbahnen beklebt worden, die alles und nichts verbargen. Ich sah das Licht, die Schatten, die Bewegungen. All das Leben, das draußen pulsierte. Ich hatte die Stimmen der Vorbeihastenden gehört, das Knistern, wenn der Wind Schneeflocken gegen die Scheibe warf, die schmolzen und als Tropfen hinabrannen. Hatte sogar bis hierhin das Fließen der Polečnice hören können, wie sie schäumend in die Moldau überging. Doch nun nicht mehr. Jetzt hörte ich nur noch ein monotones Rauschen, über das sich ein alles beherrschender Beat gelegt hatte, der meinen Herzschlag manipulierte. Seit mehr als zwei Stunden dröhnte dieser Lärm durch meinen Rabenkörper. Ich konnte mir nicht die Ohren zuhalten und war panisch gegen die Scheibe geflogen, wieder und wieder. Hatte mit dem Schnabel gegen das kalte Metall gehackt, das die Fenster einrahmte, und nur darauf gewartet, dass er endlich auftauchte, um mich zu töten. Aber er wollte mich nicht töten, sonst hätte er die Gelegenheit bereits viel früher ergriffen. Hätte mich mithilfe eines Köders vergiftet oder den Wanderfalken auf mich gehetzt. Bisher hatte Wassilij sich nicht einmal blicken lassen.
Ich hockte in der hintersten Ecke des Saals, rieb meinen Kopf gegen die kalten Backsteine des Gemäuers und betete für einen Stromausfall.
Die Reise mit der Leiche des Jägers war ein Picknick im Vergleich zu dieser Folter. Wenigstens hatte die Lüftung des Wagens während der Fahrt für Wärme gesorgt. Doch ich war nicht fähig gewesen, mich zu verwandeln. Egal wie sehr ich mich anstrengte, mein Rabenherz zum Ausbluten zu bringen, es tröpfelte nur kläglich und schaffte es nicht, sich auszudehnen und meinen Körper zu überwältigen. Erst als die Männer mich aus dem Wagen zerrten und meine Augen im Licht der Straßenlaterne etwas erkennen konnten, stellte ich fest, dass die Stelle in meiner Armbeuge, die mich juckte und schmerzte, von einem Einstich herrührte. Ich wusste nicht, was sie mir verabreicht hatten, aber ich wusste nun, dass es wirkte. Doch irgendwann hatte das Mittel nachgelassen, und bei der ersten Gelegenheit war ich in meinen Rabenkörper eingebrochen und hatte mich von den Fesseln befreit.