by Nikola Hotel
»Melde dich und sag Bescheid, wie es der alten Dame geht«, sagte er. »Und vor allem, damit ich weiß, dass du auch pünktlich zurückkommst. Lara wird mir den letzten Nerv rauben, wenn sie nicht zwischendurch etwas von dir hört. Das kommt davon, wenn man keine Kinder hat. Vielleicht sollte ich ihr einen Hund kaufen«, überlegte er laut, bevor er sich auf Tschechisch verabschiedete. »Ahoj, Isa.«
Ich wollte noch etwas erwidern, aber da hatte er schon auf den Ausknopf gedrückt. »Ahoj«, hauchte ich gegen mein Smartphone. So schnell, wie Marek mich abgewimmelt hatte, kam ich mit meinen trägen Gedanken gar nicht hinterher. Fragend starrte ich auf das Display, dann ließ ich das Gerät auf die Bettdecke plumpsen.
Es war ohnehin müßig, darüber nachzugrübeln, warum er so kurz angebunden gewesen war. Ich schloss die Augen und genoss es, wie wohltuend sich das weiche Kopfkissen unter mir anfühlte. Mein letzter Gedanke galt Alexej und wie es ihm wohl gehen musste. Dann dachte ich nichts mehr und hörte nur im Unterbewusstsein das harte Pock-Pock, das an die Fensterscheibe klopfte.
LUSTDRANG
ISABEAU
Der Songtext von Fragile drang an mein Ohr, als es in meinem Kopf dämmerte. Hatte ich etwa vergessen, mein Handy auszuschalten, bevor ich eingeschlafen war? Stöhnend tastete ich nach dem Gerät auf meinem Bett, aber es musste mir von der Decke gerutscht sein, denn ich griff ins Leere. Außerdem schien die Musik von weiter entfernt zu kommen. Mindestens die paar Schritte, die das Nebenzimmer entfernt war. Ich schreckte auf.
Die Tür zum Schlafraum war nur angelehnt und doch hörte ich ganz deutlich, wie Sting davon sang, dass der Regen uns sagte, wie zerbrechlich wir waren: On and on the rain will say, how fragile we are, how fragile we are …
Mein Kopf fühlte sich an, als hätte ich die vergangene Nacht allein mit einer Flasche Tequila verbracht, und meine Beine, als wären sie mehrmals überfahren worden, was aber sicher daran lag, dass ich immer noch meine steifen Jeans trug. Doch wieso dudelte meine Playlist im Wohnzimmer?
Ich wuchtete die schwere Bettdecke von mir herunter. Die Klamotten klebten an mir, und ich war vollkommen durchgeschwitzt. Der Anblick, der sich mir offenbarte, als ich aus dem Zimmer lugte, ließ mich jedoch ein Stoßgebet ausstoßen, dass ich meine Hosen noch anhatte: Sergius lümmelte auf dem Sofa mit dem Kunstlederbezug. Ich sah seinen blonden Haarschopf über die Lehne ragen, seine Beine hatte er lässig übereinandergeschlagen. Völlig entspannt wippte er mit den Füßen, und mir floss das Blut mindestens dreimal so schnell durch die Adern.
›Wie kommst du hier rein?‹, wollte ich ihn anschnauzen, aber mein Hals war wie zugewuchert. Was herauskam, klang eher wie: »Wichomchuchirn.« Ich räusperte mich und zog hastig das T-Shirt nach unten, das bis zu meinem Bauchnabel hochgerutscht war.
Keine Reaktion. Sergius’ Fuß kam nicht mal aus dem Takt. Nachdem ich überlegt hatte, ob ich erstens lieber um Hilfe rufen oder zweitens besser ins Badezimmer flüchten und mich dort einschließen sollte, entschied ich mich für die lahme Reaktion Nummer drei: Ich schnappte nach Luft. Da hob Sergius mein Handy an und sagte: »Der Song ist so was von geil.«
Jetzt war ich wirklich sprachlos. Nicht nur, dass er sich bei diesem Satz wie ein Teenager anhörte – der er ganz offensichtlich nicht mehr war –, er konnte doch unmöglich dieses Lied gut finden? Ich meine, Sting sang davon, dass aus Gewalt niemals etwas entsteht für all diejenigen, die unter einem schlechten Stern geboren sind. Und gerade Sergius war unter einem ganz, ganz miesen Stern geboren. Wenn einer keinen Sinn dafür hatte, wie zerbrechlich wir Menschen waren, dann doch wohl Sergius. Ihm war es schließlich völlig egal, ob etwas in anderen zerbrach. Sei es ein Herz, ein Genick oder schlicht Vertrauen. Ich schüttelte mich innerlich.
»Ich frage dich jetzt nicht, wie du hier hereingekommen bist«, raunzte ich ihn an.
»Gut«, sagte er. Mehr nicht. Ganz in die Anzeige meines Handys versunken, tippte er den nächsten Song an: Moon over Bourbon Street.
Ja, dachte ich mit einem Anflug von Häme, das passte schon viel besser zu ihm. »Ich gehe ins Bad«, zischte ich, nur um ihm gleich klarzumachen, dass er es nicht wagen sollte, auch nur in die Nähe der Badezimmertür zu kommen.
»Ist besetzt. Jaro duscht gerade.«
Abrupt blieb ich stehen. »Und wo sind die anderen? Sitzt Milo bereits an meinem Frühstück? Soll ich euch noch mein Tagebuch raussuchen?« Ich warf einen bösen Blick zur Küchenzeile, aber der Raum war ansonsten leer. »Kommen sie gleich nach, und wir machen hier alle zusammen eine Schwarm-Party?« Es störte mich selbst, dass meine Stimme so zickig klang, aber ich mochte es überhaupt nicht, so überfallen zu werden.
»Du meinst einen Gang-Bang?« Sergius’ Augenbrauen gingen in die Höhe, und sein Mund war wieder eine einzige Apfelspalte. Eine breit grinsende Apfelspalte. Ich verdrehte die Augen und verkniff mir eine Antwort. Sergius erwartete auch keine, seine Aufmerksamkeit richtete sich sogleich wieder auf das Smartphone.
»Wie lange seid ihr schon hier? Ich dachte, ihr schlaft draußen und sucht euch einen bequemen Platz.«
»Bequem, ja?« Mit dem Zeigefinger tippte Sergius gegen seine Schläfe, wo unter einem Wust blonder Haare sein Verband herauslugte. »Du hast wohl vergessen, dass ich als Rabe im Augenblick am Arsch wäre.«
Das stimmte leider. Würde er sich verwandeln, verlöre er als Erstes natürlich den Verband, und die Verletzung könnte in seiner Rabengestalt auch wesentlich schlimmer ausfallen. Das auszuprobieren, war ganz sicher ein Risiko.
Sergius stöpselte das Kopfhörerkabel ein und lehnte sich mit den Knöpfen im Ohr genüsslich zurück. Das Kunstleder knarzte, als er mit seinem Hintern nach unten rutschte. Mit einem Seufzen machte ich mich an der Kaffeemaschine zu schaffen, füllte Wasser auf und kramte im Küchenschrank nach Filtern. Minuten später röchelte die Maschine los, und braune Brühe tröpfelte in die Kanne. Ein Klopfen an der Tür ließ mich zusammenzucken. Ich warf einen fragenden Blick zu Sergius, der das erst gar nicht gehört hatte und mit geschlossenen Augen döste.
»Room Service!«, flötete eine gut gelaunte Stimme durch die Tür. Erleichtert, dass erst einmal nicht mit weiteren Raben zu rechnen war, zog ich die Tür einen Spalt auf und stellte mich so davor, dass hinter mir auf dem Sofa Sergius nicht gleich zu sehen sein würde. Die sympathische Frau von heute Morgen hielt einen Stapel Wäsche in die Höhe. »Sie haben nicht genug Handtücher. Ich wusste nicht, dass Sie noch mehr Leute erwarten«, erklärte sie auf Englisch. »Möchten Sie das Frühstück morgen früh auf drei Personen aufstocken?«
Nun gut, sie wusste also bereits, dass ich Besuch hatte. »Ja, bitte. Das wäre sehr nett«, antwortete ich zähneknirschend. Denn wie es aussah, würde ich Sergius wohl kaum so schnell loswerden, und wenn er hier übernachtete, dann würde ich darauf bestehen, dass auch Jaro blieb. Als Chaperone. Oder eher als Lebensversicherung, wenn ich es genau bedachte. Ich nahm die Handtücher entgegen und schubste die Tür mit der Schulter zu.
»Du bist gar nicht hier eingebrochen, stimmt’s?«
Sergius zog die Stöpsel aus den Ohren, sein Mundwinkel zuckte nur leicht. »War gar nicht nötig. Ich konnte die Schnitte auch so davon überzeugen, dass sie mich reinlässt.« Er klopfte sich auf den flachen Bauch und fuhr mit seiner Hand eine Etage tiefer.
Idiot! Aber ich verkniff es mir, das laut zu sagen. Als Jaro endlich aus dem Bad herauskam, war mein Ärger bereits verraucht, und ich freute mich sogar, ihn zu sehen. Vor allem, da er wieder etwas mehr Farbe im Gesicht hatte und die Erlebnisse von gestern ihn nicht völlig apathisch hatten werden lassen. Es wäre übertrieben zu sagen, er wäre gut gelaunt, aber zumindest lächelte er scheu und biss mit Appetit in den Apfel, den er aus meiner Tasche gefischt hatte. Für ihn und Alexej hatte ich Klamotten eingepackt, aber was die anderen Raben betraf – da fühlte ich mich wirklich nicht verantwortlich.
»Jaro hat eine tolle Idee, wie wir Alexej aufstöbern können.« Die Art, wie Sergius das betonte, ließ keinen Zweifel darüber, dass er Jaros Idee für ziemlich einfältig hielt. Er stand auf und legte mein Smartphone auf den Küchentisch, an den ich mich mit Jaro gesetzt hatte. »Hier, der Akku ist leer.«
»Wi
rklich?«
»Ja, er ist tatsächlich leer, man glaubt es kaum.«
»Ich meine doch die Idee.« Am liebsten hätte ich Sergius irgendwas Hartes an den Kopf geworfen, aber er war verwundet und außerdem ein Idiot, deshalb warf ich ihm nur einen giftigen Blick zu und lächelte Jaro dann aufmunternd an. »Was für eine Idee?«
Der Junge schluckte hastig den Bissen herunter, an dem er gekaut hatte. »Ich dachte, wir holen uns Hilfe«, begann er. »Hier in der Altstadt und auch in der Umgebung gibt es schließlich genug Rabenkrähen. Wenn Alexej in seiner Rabengestalt ist und Laut von sich gibt, dann muss wenigstens eine davon ihn irgendwann hören, oder nicht?«
Langsam nickte ich, doch so ganz war mir nicht klar, worauf er hinauswollte. »Kannst du sie dazu bringen, nach ihm zu suchen?«
»So einfach ist das auch wieder nicht«, gab Jaro zu. »Aber ich könnte sie vielleicht … animieren.« Es klang wie eine Frage.
»Schwachsinn!«, fuhr Sergius dazwischen. »Krähen sind keine Spürhunde, die du einfach so abrichten kannst. Ihr Geruchssinn ist echt beschissen.«
»Jetzt lass ihn doch mal ausreden! Außerdem stimmt das doch gar nicht. So schlecht können Singvögel auch wieder nicht riechen.«
»Willst du mir jetzt erklären, wie mein Körper funktioniert, Mädchen?« Sergius schob die Hände in die Hosentaschen seiner Jeans. Seine Augenbrauen hatten sich nach oben gebogen, und wäre er in seiner Rabengestalt gewesen, hätte ich vermutlich eine ganze Palette an Drohgebärden an ihm wahrnehmen können, doch so bildeten nur seine Lippen einen schmalen Strich. Was allerdings ausreichte, um mich zu verunsichern. »Vielleicht wollte Jaro ja auf etwas ganz anderes hinaus«, sagte ich versöhnlich.
Unruhig rutschte Jaro auf dem Stuhl hin und her und zwinkerte nervös. Seine Augen waren fast genauso blau wie die Alexejs, fiel mir zum ersten Mal auf. In ein paar Jahren würde er einen bildhübschen Kerl abgeben. Falls er dann noch lebte, dachte ich und schob den Gedanken so schnell wie möglich wieder von mir.
»Ich könnte sie vielleicht dazu bringen, nach ihm zu rufen.« Er hob eine Hand, um Sergius, der schon zu schnauben begonnen hatte, zurückzuhalten. »Auch wenn du sie für weniger intelligent hältst als uns, sie können genauso gut Stimmen imitieren wie wir. Ich glaube, dass ich es schaffen könnte, ihnen etwas beizubringen, was Alexej verrät, dass wir in seiner Nähe sind.«
»Ich sag ja, eine tolle Idee«, wiederholte Sergius. »Du liegst nur in einem Punkt völlig falsch: Ich denke nicht, dass die Rabenkrähen dümmer sind als wir. Nur du bist es! Ich halte dich für einen dummen, verwöhnten Bengel, der bisher nur Zucker in den Arsch geblasen bekommen hat. Egal, was du dir da jetzt zusammenspinnst, du kriegst es nicht hin, solange Mami nicht da ist, dir das Händchen hält und deine Pausenbrote schmiert. Du kriegst es nicht gebacken.«
Als ich ruckartig aufstand, schob sich mein Stuhl quietschend über den Dielenboden. »Können wir uns ganz kurz unter vier Augen unterhalten, Sergius?« Meine Stimme klang weich wie Butter.
»In deinem Schlafzimmer?«
»Nja.« Ich knirschte mit den Zähnen und ging voran durch die Tür, um sie nach Sergius zuzudrücken. Ich hätte platzen können, schraubte aber meine Wut so weit zurück, dass ich nicht laut wurde. »Du kannst deinen Ärger nicht an Jaro auslassen«, raunte ich. »Nur weil du bisher ein beschissenes Leben hattest und es ihm in seiner Familie besser ging, hast du nicht das Recht dazu, ihn so runterzuziehen. Er ist ein großartiger Kerl, und so leicht ist es ihm auch nicht ergangen. Denkst du mal daran, dass er erst vor Kurzem seinen Bruder verloren hat? Pavel, schon vergessen?«
»Jaros Leben interessiert mich überhaupt nicht.«
»Das sollte es aber. Wenn wir nicht zusammenhalten, dann schaffen wir es nie, Alexej zu finden.«
»Alexej geht mir auch am Arsch vorbei«, sagte er durch zusammengebissene Zähne. »Ich mach das hier nur mit, weil ich nichts gegen etwas Abwechslung habe.« Er streckte seine Arme, und ich sah deutlich, wie sich seine Unterarmmuskeln anspannten. Seine Worte trafen mich trotzdem, auch wenn ich es inzwischen besser wissen müsste. Sergius war niemandes Freund, auch meiner würde er nie werden.
»Lass Jaro in Ruhe und such dir jemanden von deinem Kaliber, wenn du unbedingt Kräftemessen musst.«
»Dich zum Beispiel?«
»Ich sagte, von deinem Kaliber.«
»Das hab ich schon verstanden. Du bist ganz genau meine Kragenweite.« Er begann, sich die Hose aufzuknöpfen.
»Was zum Teufel soll das werden?«
»Isa«, knurrte er durch die Zähne. »Ich könnte es jetzt echt gebrauchen, um etwas Stress abzubauen.«
Im ersten Augenblick kapierte ich gar nicht, was genau er mit »es« meinte, aber dann fiel der Groschen in meinem Hirn mit einem lauten Scheppern. »Du tickst doch nicht mehr ganz sauber. Wenn du auf diese Art Stress abbauen musst, dann reiß dir doch da draußen eine Frau auf!« Ich deutete auf das Fenster zur Straße. »Dürfte doch nicht so schwer sein, solange du die Klappe hältst und keinen deiner üblichen Sprüche loslässt. Wir kommen in der Zeit supergut ohne dich klar.«
Er rang mit sich. Ich sah, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten, und wartete mit eingezogenen Schultern darauf, dass er unsere Abmachung brechen und mir wehtun würde. Mein Puls rauschte mir in den Ohren. Er war mir so nah, dass ich seinen heißen Atem spüren konnte. Dann zuckte Sergius mit den Schultern. »Sehr gut.« Er riss die Tür so hastig auf, dass sie mit einem Donnern gegen die Wand krachte, und stapfte an Jaro vorbei, der wie ein aufgeschrecktes Kaninchen aussah, die Augen weit aufgerissen. Ich hastete Sergius hinterher, da schlüpfte er bereits in seine Schuhe und stellte den linken Fuß auf dem Küchenstuhl ab, um die Schnürsenkel zu binden. Mir kam ein erschreckender Gedanke. »Du kommst doch nicht auf die Idee, irgendwie gewalttätig zu werden, oder?«
Sergius gab keine Antwort, sondern band sich in absoluter Seelenruhe auch den anderen Schuh zu.
»Sergius?«
Als er aufsah und unsere Blicke sich trafen, fröstelte ich. Seine Pupillen waren so dunkel wie ein Abgrund. Ein Tunnel, der dorthin führte, wo ich keinesfalls sein wollte. Augen wie die eines Biestes in einem Gesicht, das einem Engel glich. Ich konnte nur hoffen, dass jede Frau, die ihm begegnete, diese Maske sofort durchschaute.
»Versprich mir, dass du wenigstens nichts … Kriminelles machst«, bat ich. »Und denk an deine Verletzung.«
Sergius sagte keinen Ton, aber zumindest lachte er nicht, wie er das sonst tat, wenn ich etwas Dummes sagte. Er verließ das Hotelzimmer ohne ein Wort.
»Reg dich nicht auf, er wird schon nichts anstellen.« Jaro fasste mich beruhigend am Arm, aber ich bemerkte doch, dass er zitterte.
»Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte ich, um dann gedankenverloren hinzuzufügen: »Aber ich glaube wirklich, Sergius wäre gerne unschuldiger, als er es ist.«
Das glaubte ich tatsächlich. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass er gerne das Arschloch spielte. Das schien ein innerer Zwang von ihm zu sein, als würde er, wenn er einmal nur etwas Nettes tat oder sagte, Stromschläge bekommen. Innerlich sehnte er sich vielleicht danach, alles, was er erlebt hatte, hinter sich zu lassen. Noch einmal neu anzufangen, ohne den ganzen Horror, der auf ihm lastete, seit er ein kleiner Junge war. Vielleicht war ich aber auch wirklich nur hoffnungslos romantisch, wie Alexej mir das vorgeworfen hatte, und Sergius war tatsächlich so kaltblütig, wie er mich das glauben machen wollte. Doch tief in mir drinnen ahnte ich, dass dieser Rabe liebte, was er zerstörte, und – was noch viel schlimmer war – dass er zerstörte, was er liebte. Und das machte mir Angst.
Mit einem Lächeln, das kaum über meine Mundwinkel hinausragte, versuchte ich, Jaro aufmunternd zuzunicken. »Und jetzt erzähl mir von deinem Plan.«
GIFTRAUSCH
ALEXEJ
Ich hatte begonnen, diese Spritzen zu fürchten. Nicht das, was sie mit mir machten, sondern vielmehr das, zu was sie mich trieben. Sie brachten mich dazu, aufzugeben. Nicht gleich – aber sie trugen Stück für Stück meiner Selbstbeherrschung ab. Es konnte nicht lange dauern, bis ich endgültig einbrechen würde.
»Was geben Sie mir da?«, hatte ich den
Doktor am zweiten Tag gefragt, an dem er auf meine Verwandlung wartete. Ich war zu erschöpft, um auch nur einen Arm zu heben, geschweige denn, ihm den Infusionsschlauch um den Hals zu legen, wie ich es mir in meinen wüsten Träumen ausmalte.
»Etwas, das deine Lebensgeister wecken wird.« Ich hörte das Lächeln in seiner Stimme mehr, als dass ich es sah, denn er vermied es immer, mir ins Gesicht zu sehen. »Adrenalin.«
Wie absurd, dass er sich trotz allem immer noch an die Regeln hielt und meine Ellenbeuge sorgsam mit Desinfektionsmittel besprühte, bevor er zustach und das teuflische Brennen anfing. Als ob es noch eine Rolle spielen würde, wenn ich mich mit irgendwelchen Keimen infizierte. Es dauerte nur Sekunden, bis das gewohnte Zittern mich überlief. In den letzten beiden Tagen hatte ich es genug gekostet, um noch überrascht zu sein, und trotzdem traf es mich jedes Mal wie ein Faustschlag, dass ich die Kontrolle über meine Muskeln verlor. Ich versuchte mich aufzurichten, aber der Schwindel ließ mich gleich zurücktaumeln. Dann kam die Kälte. Eine Kälte, die mich in die Glieder biss wie ein Raubtier. Zeitgleich brach mir der Schweiß aus allen Poren, und in meinem Kopf schraubte sich ein Schmerz in einer unendlichen Spirale nach oben. Ich presste mir die Fäuste gegen die Stirn, um dagegenzuhalten, doch schließlich stöhnte ich auf.
Das war der Moment, an dem der Doktor wie immer ein Seufzen von sich gab. Ein Seufzen der Zufriedenheit, als würde meine Pein in ihm einen wohligen Schauer auslösen. Aus dem, was er mit Wassilij besprach, hatte ich herausgehört, dass das Mittel viel zu schnell abgebaut wurde, deshalb würde ich auch diesmal nach wenigen Minuten die nächste Injektion erhalten. Wieder und wieder in stetig steigender Dosierung. Mein Kopf lief heiß an, und das Blut wurde so hart durch meine Adern gepumpt, dass ich befürchtete zu bersten. Der Monitor, an dem ich angeschlossen worden war, gab ein hektisches Piepsen von sich. Schneller. Lauter.
Sie lauerten darauf, dass ich mich verwandelte. Und mit jedem Mal kam ich dem Punkt näher, ihnen ihren Willen zu lassen. Das Einzige, was mich noch zurückhielt, war die Angst davor, was danach käme. Wenn ich ihnen gab, was sie wollten, was würden sie dann mit mir machen? Und nicht nur mit mir. Was würden sie mit all dem Wissen anfangen, dass ich ihnen damit in die Hände spielte? Mir war klar, dass ich einen gewissen Anteil Adrenalin im Blut brauchte, um mich verwandeln zu können. Doch würde die Dosis irgendwann so hoch sein, dass ich jegliche Kontrolle verlor? War das nicht genau das, was passiert war, als Pavel von den Bluthunden getötet worden war? Damals hatte mich auch das Blut überschwappt wie eine Welle, und jede Gegenwehr war sinnlos gewesen. Nicht einmal den Gedanken an Gegenwehr hatte ich noch fassen können.