Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition)

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Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition) Page 20

by Nikola Hotel


  »Du siehst schlecht aus«, sagte Lara nun unumwunden. Ihr Blick wanderte an meinem Körper hinunter, nur um sofort wieder zu meinem Gesicht zu huschen. Ich sollte einen Scherz machen, so wie Isabeau das für gewöhnlich tat, wenn sie die Anspannung nicht mehr aushielt.

  »Was siehst du mich so prüfend an«, fragte ich mit einem Augenzwinkern und kein bisschen provokant. »Denkst du, mir sind inzwischen Flügel gewachsen?« Ich zog eine Grimasse. Ob sie bemerkte, dass meine Stimme zitterte? All meine Sinne waren auf die beiden Menschen in diesem Raum gerichtet, die mir in den letzten Wochen so ans Herz gewachsen waren. Die Auseinandersetzung mit Marek hatte nichts daran geändert. Ich mochte Marek mit seiner kahlen Stirn und dem abstehenden Haar über den Schläfen, dessen runde Augen einen fast lustigen Ausdruck besaßen, selbst wenn er überhaupt nicht guter Laune war. Er war ehrlich und bodenständig, selbst sein Fausthieb war ehrlich gewesen. Und auch Lara, an der immer irgendetwas in Bewegung war, mochte ich nicht verlassen. Ihre langen Fingernägel klapperten immer viel zu laut auf die Tastatur ihres Computers, ihre Ohrringe wippten, wenn sie sich bewegte. So wie jetzt, als sie auf mich zukam. Ich wollte zurückweichen, denn die Nervosität, die sie ausströmte, alarmierte mich. Doch schon hatte sie ihre Arme um meinen Oberkörper geschlungen und drückte mich an sich.

  »Ja, das dachte ich«, sagte sie. »Wenn Isa nicht so entsetzlich traumatisiert wäre, würde ich glauben, dass sie gleich um die Ecke schießt und ›April, April!‹ ruft. Was machst du nur für Sachen?« Sie begann, mit ihren Händen meine Stirn zu befühlen, als hätte ich Fieber. Dann rümpfte sie die Nase, als sie den Rauchgeruch an mir bemerkte.

  Nein, Isabeau konnte es ihnen nicht erzählt haben. Nicht, wenn Lara so wenig Abstand zu mir hielt. Ich wusste nicht, ob ich erleichtert sein sollte oder ob mir nicht viel mehr davor graute, was mir dann gleich noch bevorstand.

  Über Laras Kopf hinweg sah ich, wie Marek die Augen verdrehte. »Du siehst doch, dass er nichts hat«, murmelte er und stierte in sein nur noch halb volles Glas. »Es geht ihm gut.«

  Lara ließ sich durch diese Aussage aber nicht davon abhalten, mich weiter prüfend anzusehen. »Was haben sie dir nur angetan?« In ihren Augen glitzerte es verdächtig. Ich schluckte hart, weil ich damit nicht gerechnet hatte. Ich hatte erwartet, angeschrien zu werden, verflucht, verteufelt. Aber nicht, dass Lara sich so offensichtlich um mich sorgte.

  »Diese Dreckschweine«, ließ Marek von sich hören. Er stand auf und knallte das Glas auf den Tisch, sodass der Wodka über die Tischplatte spritzte.

  Seine plötzlich aufkeimende Wut verunsicherte mich. »Was genau hat Isabeau euch erzählt?« Sie konnte ihnen nicht die ganze Wahrheit gesagt haben. Unmöglich. Ich befreite mich aus Laras Umarmung und rückte unwillkürlich näher an die Tür heran, machte mich fluchtbereit.

  »Dass Nikolaus’ Vater dich mehr oder weniger hat entführen lassen. Und auch, dass er hinter dieser ganzen Sache steckt.« Sie machte eine ausholende Bewegung mit dem Arm. »Ich kann kaum glauben, dass diese Wanderer alles andere als harmlos waren. Sie waren … nun ja, irgendwie nett. Nicht ungewöhnlich nett, sondern völlig normal. Es macht mich fertig, dass meine Menschenkenntnis mich so sehr im Stich lassen konnte.«

  Auch wenn ihre Worte nicht darauf abzielten, mich zu verletzen, meine Hand, die ich in der Hosentasche vor ihr verbarg, ballte sich unwillkürlich. Ich hatte sie ebenso getäuscht und belogen. Hatte ihr etwas vorgespielt, hatte genau gewusst, wie ich sie manipulieren konnte, und das bei jeder Gelegenheit ausgenutzt. Sie hatte mich zwangsläufig mögen müssen.

  »Ich möchte mich bei euch entschuldigen.«

  »Das solltest du auch!« Marek stand am Fenster und riss mit einem Ruck den Vorhang zur Seite. Von hier aus konnte man die Flammen noch sehen. Und wenn er das Fenster öffnete, würde man auch den Rauch riechen.

  »Marek!«

  »Es tut mir leid«, fing ich an, »ich weiß nicht, was Isabeau euch außerdem noch erzählt hat.«

  Lara schnaubte. »Alles, will ich doch mal hoffen. Es sei denn, du willst mir nun auch noch weismachen, dass unsere Luchse gar nicht einfach so vom Radar verschwinden.«

  Der Themenwechsel irritierte mich. Als ich sie nur fragend anstarrte, kniff sie mich in den Arm. »Alexej! Jetzt sag mir bitte, dass unsere Luchse auch wirklich ganz normale Luchse sind.«

  »Die Luchse.« Meine Stimme war fast tonlos, was daran lag, dass ich hilflos nach Atem rang.

  Ihre Ohrringe klirrten, als sie heftig mit dem Kopf nickte. »Katzenähnlich«, sagte sie und machte eine seltsame Geste über ihrem Kopf. »Pinselohren? Schon mal gesehen?«

  Ich rieb mir mit der Hand über die Stirn, als hätte ich Kopfschmerzen, dabei wollte ich nur meinen Blick verbergen, weil sie so einen entsetzten Gesichtsausdruck machte. Ich konnte sie doch nicht auslachen! Aber bei Gott, diese Panik, die in ihren Augen aufflackerte – es war unmöglich, dabei ernst zu bleiben. Vielleicht hatte Marek recht, und ich war einfach nur wahnsinnig und nach all dem, was in den letzten Tagen passiert war, durchgedreht. Meine Nerven mussten völlig überspannt sein. Glaubte sie wirklich, dass ihre Luchse ebenso menschlich waren wie ich? Wollte sie mir das damit sagen?

  »Alexej!«, stieß sie wieder hervor. »Lachst du mich etwas aus?«

  »Nein, nein!« Ich hob abwehrend eine Hand und versuchte, Luft in meine Lungen zu pumpen. »Ich … bin … nur … verwundert«, presste ich mühsam heraus. Ich spürte, wie mir die Kontrolle entglitt. Mein letzter Halt war der Wodka, der immer noch vor Marek auf dem Tisch stand. Mit einem Satz war ich bei ihm und schnappte mir das Glas. Mir standen Tränen in den Augen, als ich den Wodka hinunterkippte und fast daran erstickte. Doch das Brennen sorgte endlich dafür, dass sich meine aufgestauten Gefühle beruhigten. Vielleicht war es aus ihrer Sicht wirklich ein naheliegender Gedanke, aber nicht für mich.

  »Du musst das Glas spülen«, sagte ich, als ich es abstellte. »Ich würde das selbst tun, aber …« Ich zuckte mit den Schultern, dann konnte ich ein Grinsen nicht mehr unterdrücken. »Ich sollte hier keine Fingerabdrücke hinterlassen. Übrigens bin ich mir ziemlich sicher, dass eure Luchse ganz normale Luchse sind. Aber erinnerst du dich an den Staubgrauen?«

  Der Staubgraue war der Wolf gewesen, der uns als Futterlieferant gedient hatte in der Nacht, in der Jaros Bruder Pavel starb. Der Wolf, der von Wassilijs Mann erschossen worden war.

  »Oh Gott, sag mir bitte nicht, dass er anders war. Also so anders.« Sie gab ein Keuchen von sich.

  Ich seufzte und presste die Lippen betrübt zusammen. »Ich weiß es nicht mit Bestimmtheit, aber er könnte theoretisch …«

  »Theoretisch was?« Ihre Stimme überschlug sich fast vor Aufregung.

  Beschwichtigend hob ich eine Hand. »Also theoretisch könnte er der Wolf sein, der Rotkäppchen gefressen hat.«

  »Ty vole!« Sie schlug nach mir, und ich brach endgültig in haltloses Gelächter aus. Meine Sorge, von den beiden als Rabe abgelehnt zu werden, fiel gänzlich von mir ab. Ich fühlte mich unendlich erleichtert. Lara konnte schließlich ebenfalls nicht mehr an sich halten und kicherte albern. Marek hingegen zog kopfschüttelnd wieder den Vorhang vor das Fenster. Die Ernüchterung ließ nicht lange auf sich warten.

  »Wieso darfst du keine Fingerabdrücke hinterlassen? Was ist das für ein Quatsch?« Lara schob mich an den Tisch und drängte mich, mich zu setzen, doch auch das musste ich ablehnen. »Es kann sein, dass die Polizei nach mir sucht«, begann ich. »Aber mir will nicht in den Sinn, was Wassilij damit bezweckt. Was nutzt es ihm – außer seiner persönlichen Rache, meine ich –, wenn ich festgenommen und verhört werde? Bisher war ich davon überzeugt, dass sein einziges Ziel ist, uns alle zu töten.«

  Lara zuckte bei diesen Worten zusammen, und auch Marek gab einen unverständlichen Laut von sich. »Und jetzt bist du da nicht mehr so sicher?«

  »Er hatte zumindest mehr als eine Gelegenheit dazu. Warum, frage ich euch, hat er sie nicht genutzt? Und was bezweckt er mit den ganzen Untersuchungen? Er hat mein Innerstes nach außen gekehrt und wirklich jede erdenkliche Untersuchungsmethode an mir angewandt. Doch wozu das alles?«

  »Das ist eine gute Frage«, hörte ic
h Isabeaus Stimme von der Tür. Sie lehnte im Rahmen, ihr Haar war noch tropfnass und hinterließ eine Spur auf ihrem frischen T-Shirt. Als sie in das Licht trat, das die Lampe über dem Esstisch ausstrahlte, bemerkte ich, wie erschöpft sie aussah. Ihr Gesicht war immer noch kalkweiß, und ihr Blick huschte unruhig über den Tisch, blieb nur für eine Sekunde an der Wodkaflasche hängen.

  »Willst du einen?«, fragte Marek. Er schien damit heute besonders großzügig zu sein. Wobei ich die Vermutung hegte, dass es ihm nur eine Ausrede bot, um sich selbst nachzuschenken.

  Ein müdes Lächeln erschien auf ihren Lippen. »Besser nicht. Ich bin auch so schon ziemlich durcheinander, da brauche ich keinen Alkohol.« Sie zog ihr Handy aus der Tasche und wischte über das Display. »Es ist bereits in den Nachrichten zu lesen.« Mit spitzen Fingern schob Isabeau das Mobiltelefon zu Marek. »Ich kann das leider nicht alles übersetzen. Lies du bitte.«

  Ich lugte über Mareks Schulter, als er das Telefon aufnahm. Es war ein Bericht über den Leichenfund auf einem Parkplatz in Český Krumlov. Marek las vor, dass die Polizei durch einen anonymen Hinweis auf das Auto aufmerksam gemacht worden sei.

  »Völlig logisch.« Isabeau verdrehte die Augen. »Sie bekommen einen anonymen Anruf und schicken zum Spaß dann gleich mal eine ganze Kolonne der Militärpolizei hin. Das stimmt doch hinten und vorne nicht!«

  Marek las weiter: »Spuren im Kofferraum deuten darauf hin, dass sich noch eine weitere Person darin befunden haben muss. Die Polizei geht davon aus, dass es sich dabei um ein zweites Opfer handelt. Ob männlich oder weiblich, ist bisher noch unklar.« Er tippte auf das Display. »Hier kommt eine weitere Meldung dazu herein.« Er räusperte sich und warf mir einen zweifelnden Blick zu, dann las er laut vor:

  »Zeitgleich gab es einen Einbruch in einer Kunstgalerie der Stadt. Ein Mitarbeiter des Wachpersonals wurde von einem unbekannten Mann mit einem drahtähnlichen Gegenstand erwürgt. Der mutmaßliche Täter wurde von einer Überwachungskamera aufgenommen. Es ist ein dunkelhaariger Mann, ca. 1,86 m groß und von sportlicher Statur. Sein Alter schätzt die Polizei auf 26 bis 32 Jahre. Er trägt ein auffälliges Tattoo auf dem Rücken, das die Form eines Raben hat, und eine schwarze Sporthose. Die Bevölkerung wird dazu angehalten, sich mit Hinweisen bei der örtlichen Polizei zu melden, weist aber dringend darauf hin, dass der Mann eventuell bewaffnet und gefährlich ist.«

  Auf einmal war aus dem Doktor ein Mitarbeiter des Wachpersonals geworden. Wie hatte Wassilij das angestellt?

  »Das ist gruselig«, sagte Lara. »Und wie kann es sein, dass sie aus einem Ausbruch einfach so einen Einbruch machen? Das hinterlässt doch ganz sicher nicht dieselben Spuren.«

  Ich dachte gerade dasselbe. Die Arztliege hatte ich als Rammbock genutzt, um das Gitter zu zerstören. Sie war über die Straße gerollt und schließlich gegen die Rückwand eines Gebäudes gestoßen. Passanten hatten das gesehen. Da war ein alter Mann gewesen und eine Frau mit einem Regenschirm.

  »Wassilij manipuliert das alles.« Isabeaus Stimme zitterte, und sie ließ sich neben Lara auf einen Küchenstuhl fallen. »Er hat bestimmt Kontakte, die so was mit einem Fingerschnipsen regeln. Mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke. Wir können unmöglich hierbleiben.« Ihr Kopf fuhr zu mir herum. »Und du brauchst gar nicht erst versuchen, mich davon abzuhalten, mit dir zu gehen. Es ist viel unauffälliger, wenn du mit einer netten, jungen Frau unterwegs bist, als allein als düsterer schwarzer Mann.« Jetzt streckte sie mir die Zunge heraus. »Außerdem brauchst du jemanden, der dich davon abhält, etwas richtig Dummes anzustellen.«

  »Und was wäre das, deiner Meinung nach?«, erkundigte ich mich. Ich konnte nicht verbergen, dass mir bei ihren Worten warm geworden war. Wir, hatte sie gesagt. Wir.

  »Dich der Polizei stellen zum Beispiel.«

  »Ich gebe zu, mit dem Gedanken habe ich kurz gespielt.«

  »Das dachte ich mir.«

  »Aber wo wollt ihr hin?«, fragte Lara. »Zum General könnt ihr nicht zurück. Auch wenn sie im Krankenhaus ist und somit sicher, Wassilij weiß doch bestimmt genau, dass das Schloss deiner Familie gehört, oder?«

  Krankenhaus? War in meiner Abwesenheit etwas passiert? Ich fing von Isabeau einen intensiven Blick auf, sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Da beschloss ich, in Laras Beisein nicht weiter nachzuhaken.

  »Das stimmt«, gab ich zu. »Aber es ist … eine Wasserburg.« Und in meinem Kopf keimte ein winziger Funken, dass wir vielleicht doch noch eine Möglichkeit hatten, uns vor Wassilij abzuschotten. Meine Gedanken wurden allerdings vom Marek unterbrochen, der nach einem Blick auf seine Armbanduhr aufgestanden war und das Küchenradio angestellt hatte. »Seid mal kurz still!«

  »Was ist?«, fauchte Isabeau, und ich konnte ihren Unmut nachvollziehen, sie verstand von den tschechischen Nachrichten vermutlich kaum ein Wort. Doch auch mir war nicht danach, noch weitere Hiobsbotschaften zu hören.

  Marek schüttelte mahnend den Kopf und drehte die Lautstärke hoch.

  »… vermutet die Polizei, dass ein Zusammenhang zwischen den beiden Straftaten besteht«, tönte es knisternd aus dem Radio. »An beiden Tatorten hat man schwarze Federn gefunden. Laut eines Ornithologen handelt es sich dabei höchstwahrscheinlich um das Gefieder eines Rabenvogels. Das Rabentattoo des mutmaßlichen Täters lässt darauf schließen, dass die Federn eine Art Markenzeichen sind, mit denen er seine Opfer kennzeichnet …«

  »Was sagen sie? Kann mir das bitte einer übersetzen?« Isabeau biss sich auf die Lippe. »Marek?«

  Marek starrte sie nur wortlos an, und Lara stieß einen undamenhaften Fluch aus, was ihr sonst nie passierte. Ich fasste mir an die Schläfe, weil mein Kopf anfing, wie verrückt zu pochen.

  »Alexej? Kannst du mir mal bitte sagen, was da gesprochen wurde?«

  Es hatte ohnehin keinen Sinn, es zu verschweigen. Sergius hatte dem Jäger das Genick gebrochen, aber Sergius existierte als Mensch überhaupt nicht. Es gab ihn nicht. Seit er noch als Kind aus dem Heim in Polen abgehauen war, war seine Existenz wie ausgelöscht. Und allein das Tattoo, das ich Nikolaus zu verdanken hatte, schaffte es nun, mich zu überführen. Welche Ironie.

  Ich ließ meine Hand sinken. »Ich schätze, jetzt gelte ich bereits als Serienkiller«, sagte ich trocken. »Was für eine Karriere.«

  LIEBESVERGESSEN

  ISABEAU

  Ich schämte mich unendlich für diesen Gedanken, aber am liebsten hätte ich mir nur noch die Bettdecke über den Kopf gezogen wie ein Kleinkind, das sich grundlos fürchtete. Und die Vorstellung, dass mein Vater sich zu mir ans Bett setzen und mir über den Rücken streichen würde, bis ich eingeschlafen war, weckte eine tiefe Sehnsucht in mir. Heile, heile Gänschen, es ist bald wieder gut. Kätzchen hat ein Schwänzchen, es ist bald wieder gut.

  Aber im Gegensatz zu meiner Kindheit, in der ein kleiner Streit schon ausgereicht hatte, meine Welt in Scherben zu schlagen, hatte ich heute echte Probleme. Das hier war das wahre Leben und kein Traum. Noch nie hatte ich eine solche existenzielle Bedrohung erlebt. Und es schien völlig aussichtslos, da heil wieder herauszukommen. Es gab kein »Heile, heile Gänschen« für mich.

  »Was du brauchst, ist kein Wodka«, sagte Alexej und sein Lächeln sah dabei gezwungen aus. »Du brauchst einen Becher Flusswasser aus der Lethe.«

  »Du meinst damit vermutlich keinen Nebenfluss der Moldau, oder?«, fragte ich und wusste, dass das die richtige Frage war, weil in Alexejs Augen ein Hauch Humor aufblitzte. Wir hatten darüber diskutiert, ob er mit seinem Schwarm nach Orlík fliegen sollte, aber ich war nicht bereit gewesen, ihn allein ziehen zu lassen, und nun lag ich in Laras und Mareks Wohnzimmer auf dem Sofa.

  »Nein.« Er schmunzelte und beugte sich über mich. »Das ist einer der Flüsse aus der griechischen Unterwelt. Wenn man davon trinkt, verliert man seine Erinnerungen, was eine Voraussetzung ist, um wiedergeboren zu werden.« Seine Fingerkuppen strichen mir über die Schläfe, was allein schon genügte, um mich einzulullen.

  »Und du denkst, es würde mir besser gehen, wenn ich alles vergesse?«, fragte ich schläfrig.

  Er schüttelte zwar den Kopf, sagte aber Ja. »Vor allem denke ich, dass du eine Chance hättest, g
lücklich zu werden. Ohne das Wissen, dass der Schwarm und ich überhaupt existieren.«

  »Da dieser Fluss nur in der Mythologie vorkommt, brauchen wir eigentlich gar nicht darüber zu sprechen. Das ist doch nur hypothetisch.«

  Darauf erwiderte er nichts.

  Marek und Lara hatten angeboten, uns ein provisorisches Matrazenlager zu errichten, aber Alexej wollte hier nicht schlafen. Er hatte keine Ruhe, weil er befürchtete, dass die Polizei uns jederzeit überraschen konnte. Außerdem vermied er es tunlichst, irgendwas in diesem Raum anzufassen.

  Mit Ausnahme von mir.

  Seine Hand glitt über mein Kinn und legte sich auf meinen Hals. Die Hitze, die er ausströmte, schien wie Strom durch meinen Körper zu jagen. Mit der nächsten Bewegung schob er dieselbe Hand von unten unter mein T-Shirt. Er musste sie nicht bewegen, um mich aufseufzen zu lassen. Es genügte, dass ich diese Hitze auf meiner Brust spürte.

  Er küsste mich, und die Bilder, die er damit weckte, verdrängten das viele Blut, die geschlachteten Rabenkrähen und sogar den Geruch nach verbrannten Federn, der sich in meiner Nase festgebissen hatte.

  »Ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren«, sagte ich.

  Alexej hatte die Augen geschlossen, als er mich streichelte. Die Schatten, die seine Wimpern warfen, sahen aus wie zwei lächelnde schwarze Monde.

 

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