Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition)

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Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition) Page 22

by Nikola Hotel


  »Das Bild ist echt«, sagte ich. »Ich habe das Tier schon so oft mit dem Feldstecher beobachtet, glaub mir, ich würde es überall wiedererkennen.«

  Nikolaus tippte mit zwei Fingern auf mein Trackpad und scrollte die Seite nach oben. »Hier steht, der anonyme Besitzer der Sammlung habe eine Belohnung ausgesetzt für Hinweise, die zum Auffinden der Fotografie führen. Fünfzehntausend tschechische Kronen. Wir können wohl davon ausgehen, dass der anonyme Besitzer der Sammlung mein Vater ist.«

  »Und die Belohnung ist ein Hinweis für uns«, fügte Alexej hinzu.

  Ich spürte, wie die Wut in mir hochkochte. »Soll es etwa das sein, was ihm dein Leben wert ist? Fünfzehntausend Kronen? Heißt das, wenn wir ihm den Vogel geben, dann lässt er dich endlich in Ruhe?«

  »Es ist mehr, als das Leben meines Vaters ihm wert war. Ich fühle mich geehrt, auch wenn es Menschen gibt, die so viel für einen Fernseher ausgeben.«

  Nikolaus überraschte uns beide, indem er meinen Laptopdeckel zuknallte. »Warum zum Teufel hat er sich den Raben dann nicht schon längst geholt? So schwer kann das doch nicht sein? Wofür veranstaltet er erst so ein Spektakel und lässt dich entführen?«

  »Er könnte seine Meinung kurzfristig geändert haben.« Alexej fasste seinen Freund am Arm. »Ach, Niki, ich weiß es doch auch nicht. Er hat mich wirklich von Kopf bis Fuß auseinandergenommen. Vielleicht hat er dabei etwas entdeckt; irgendeine Anomalie, die sich lohnt, genauer unter die Lupe zu nehmen. Und der Vogel ist noch jung, erst wenige Wochen alt. Mag sein, dass er sich etwas davon verspricht. Nur was …«, Alexej schüttelte den Kopf, »… keine Ahnung. Das würden wir vielleicht wissen, wenn wir ebenfalls nachforschen könnten. Aber bisher habe ich mich dagegen gewehrt. Ich wollte gar nicht wissen, was genau da in meinem Körper vorgeht.«

  Das stimmt. Alexej wollte es nicht wissen. Aber ich! Ich hatte es immer schon wissen wollen.

  SCHWARMOPFER

  ISABEAU

  Roman! Es hüpfte hoffnungsvoll in meiner Brust. Roman aus dem Labor in Prag könnte eine Antwort darauf finden!

  Eine Schrecksekunde lang stellte ich mir vor, wie Alexej reagieren würde, wenn ich ihm gestand, dass ich – unabhängig von Wassilij und ohne es ihm zu sagen – das Rabenblut habe untersuchen lassen. Nein, ich konnte mich nicht dazu durchringen, es ihm zu gestehen. Das war ein Vertrauensbruch, und in Anbetracht dessen, was Wassilij ihm angetan hatte, um vielleicht sogar zum selben Ergebnis zu gelangen wie ich, auch noch ein ganz makabrer dazu. Ich hatte zwar nicht dieselben bösen Absichten wie Wassilij, doch der Zweck heiligte nicht die Mittel.

  Hin- und hergerissen zwischen meinem schlechten Gewissen und der Tatsache, dass ich von Roman schließlich noch gar kein Ergebnis vorliegen hatte, beschloss ich, erst einmal die Klappe zu halten, und griff den eigentlichen Knackpunkt auf.

  »Ganz unabhängig davon, was sollen wir denn jetzt tun? Seid ihr bereit, Wassilij den Vogel zu geben? Ihn zu opfern?« Denn dass es ein Opfer werden würde, musste uns klar sein.

  »Wir können ihm den Vogel nicht geben, Isabeau«, sagte Alexej und verschränkte die Arme vor der Brust. »Er gehört uns nicht. Er ist kein Wesen, das man irgendwie besitzen kann.«

  Nikolaus schnaubte aufgebracht. »Komm mir jetzt nicht auf die moralische Tour, Alexej! Klar gehört der Vogel niemandem wirklich. Doch wenn er zu jemandem gehört, dann am ehesten vielleicht zu Sergius, denn er hat ihn schließlich irgendwie … gezeugt.«

  Bei diesen Worten erschauerte ich. Sergius hatte das Weibchen mit Gewalt überwältigt, das war uns allen noch gut in Erinnerung. Und es war nicht so, als hätte ich mit seiner Art der »Kontaktaufnahme« nicht selbst schon Bekanntschaft gemacht.

  »Du erwartest doch nicht wirklich, dass Sergius seinen Nachwuchs für mich opfert?«

  »Es wäre nicht nur für dich, sondern für euch alle. Den gesamten Schwarm«, gab ich zu bedenken.

  Nikolaus hatte da weniger Zweifel. »Sergius ist das bestimmt scheißegal. Das Tier interessiert ihn doch einen Dreck!« Er spuckte das Wort geradezu aus. »Außerdem ist es nur ein Rabe.«

  Bei diesem Satz schien es in Alexejs Augen aufzulodern. Seine Augenbrauen verengten sich, aber schon in der nächsten Sekunde hatte er sich wieder unter Kontrolle. »Das können wir noch gar nicht wissen. Wie alt ist der Jungvogel jetzt? Um die vierzig Tage, oder? Er ist zwar kein Nestling mehr, wird aber erst flügge und ist noch völlig hilflos.«

  Er sah aus, als bereitete ihm dieser Gedanke körperliche Schmerzen.

  »Es ehrt dich, dass du den Vogel schützen willst, aber ich glaube wirklich, wir sollten es versuchen«, sagte ich. »Zum einen wissen wir gar nicht, was wir stattdessen unternehmen könnten. Und was haben wir dabei denn zu verlieren?«

  »Nichts«, sagte Alexej kalt, »außer einem letzten Rest Moral, der uns, wenn schon nicht als Raben, so doch wenigstens als Menschen, irgendwie begleiten sollte. Ihr wollt ihm wirklich das Jungtier zum Fraß vorwerfen, ohne zu wissen, was er damit vorhat?«

  »Auf jeden Fall«, sagte Nikolaus.

  »Er wird Versuche mit ihm anstellen. Es foltern, so wie er es mit mir getan hat. Der Vogel wird das mit großer Wahrscheinlichkeit nicht überleben.« Alexej sah mich an und wartete auf meine Antwort.

  Sakra!, fluchte ich innerlich. Ganz egal, für was ich mich entscheiden würde, es gab keine richtige Antwort auf diese Frage. Ob ja oder nein, beides wäre auf unterschiedliche Art falsch, einfach nur falsch. Aber ich klammerte mich an den Gedanken, dass es schließlich nur ein Tier war. Wer wusste schon, wie lange es überhaupt in freier Wildbahn überleben würde? Hatte Alexej nicht selbst gesagt, der weiße Rabe würde von seinen Artgenossen ohnehin abgelehnt? Oh Gott, Isa!, stöhnte ich auf. Wie sich das in meinen Ohren anhörte. So unmenschlich und gemein. Aber es konnte keine andere Antwort geben, wenn ich an Alexej dachte.

  »Ja«, sagte ich und nickte. Gleichzeitig fühlte ich mich wie ein Schwein. Alexejs undurchdringlicher Blick sorgte auch nicht dafür, mein Wohlgefühl zu steigern. Mit fester Stimme fuhr ich fort: »Es ist leicht für dich, darauf mit Nein zu antworten, wenn du ganz genau weißt, dass wir letztendlich für dich die Entscheidung treffen werden und dich überstimmen.«

  Alexej zuckte zusammen. Okay, das war wirklich unfair von mir, aber das Gefühl, in die Ecke gedrängt worden zu sein, trieb mich dazu, weiter auf diesem Punkt herumzureiten. »Es ist auch leicht für dich, dich selbst zurückzustellen. Dir macht es vielleicht nichts aus, den Märtyrer zu spielen, aber mir macht es etwas aus! Würde es nur um mich gehen, könnte ich auch moralisch sein. Aber es geht nicht um mich. Frag dich, wie du entscheiden würdest, wenn es nicht dich selbst beträfe, sondern jemanden, den du liebst. Auch wenn es dir schwerfällt, weil du dich selbst so wenig lieben kannst.« Ich blinzelte die Tränen weg, die in mir aufstiegen, und schluckte. Mit diesen Worten hatte ich ihn bestimmt verletzt.

  »Stell dir vor, es ginge um den General«, sagte ich. Die nächsten Worte flüsterte ich nur. »Oder um mich.«

  »Du hast eine Menge dazugelernt«, sagte er. Seine Stimme klang unendlich traurig. »Du könntest ebenso gut ein Rabe sein wie ich.«

  Meinte er damit, dass ich versuchte, ihn zu manipulieren? Aber das hatte ich nicht gewollt. Ganz und gar nicht. Dass er das von mir glaubte, entsetzte mich.

  »Es gibt einen Unterschied zwischen dem Versuch, jemanden zu manipulieren oder ihn zu überzeugen. Ich will dich überzeugen, Alexej.«

  »Du hast mich bereits überzeugt.«

  Offenbar hatte ich das. Aber genau deshalb schien er wütend auf mich zu sein. Unsere Blicke klammerten sich aneinander fest. Seiner war ein einziger Vorwurf, weil ich ihn gezwungen hatte, das Ganze von außen zu betrachten. Meiner schrie ihm nur eine Sache entgegen: Niemals werde ich aufgeben. Niemals werde ich dich aufgeben.

  »Und was ist, wenn wir Wassilij damit nur eine noch viel größere Waffe in die Hand geben?«, fragte Alexej mich.

  »Das ist doch ganz einfach«, sprach Nikolaus dazwischen.

  Wir fuhren beide zu ihm herum. »Ach ja?«

  »Dann werden wir eben dafür sorgen, dass diese Waffe nach hinten losgeht.«

  HERZFRAGEN

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p; ALEXEJ

  Mit gemischten Gefühlen schlüpfte ich aus meinen Hosen und faltete sie sorgsam zusammen, um sie in Isabeaus Reisetasche zu verstauen. Ich hätte sofort verschwinden sollen, nun waren vermutlich überall im Haus Spuren von mir zu finden. Fingerabdrücke, ein Haar auf dem Teppichboden im Wohnzimmer oder auf Isabeaus Kleidung. Und ein einzelnes Haar würde ausreichen.

  Ich glaubte keine Sekunde daran, dass es Wassilij nur um den Jungvogel ging. Auch wenn seine Hinweise, die er der Presse übermittelt hatte, darauf schließen ließen – er würde sich damit nicht zufriedengeben. Allenfalls konnte ihn sein neues Spielzeug für ein paar Tage beschäftigen. Nicht länger und keinesfalls für immer. Und ob er, wenn er seinen Willen bekam, die Polizei von meiner Fährte wegführte, war ebenso fraglich. Es würde nichts daran ändern, dass ich mich als Mensch nirgendwo mehr öffentlich zeigen konnte, ohne Gefahr zu laufen, enttarnt zu werden.

  Isabeau hatte ich gesagt, ich würde im Wald nach dem Rabenvogel suchen, aber was ich zuerst wollte, war schlafen. Nicht in einem Haus, in dem ich mich gar nicht aufhalten durfte, sondern im Schutze meines Schwarms, auch wenn dieser Schutz nur mehr eine Illusion war. Es war mir nicht leichtgefallen, meine Erschöpfung zu verbergen. Noch schwerer war es, nicht zu zeigen, wie sehr ich meine Freiheit brauchte. Nicht die Freiheit zu tun, was immer ich wollte – ich war kein triebgesteuerter Egoist –, Freiheit war für mich etwas anderes, und das hatte ich in den letzten Tagen deutlich für mich definieren können: Wirkliche Freiheit bedeutete, nicht das tun zu müssen, was man nicht wollte.

  Und mich verstecken und davonlaufen gehörte zweifelsohne zu den Dingen, die ich nicht wollte.

  Ich zog mir den Pullover über den Kopf, das Hemd, meine Unterwäsche, schob alles in die Seitentasche und verschloss die Tasche wieder. Das waren meine einzigen Habseligkeiten, und ich war froh darum. Im Gegensatz zu den meisten Menschen machte ich mich nicht abhängig von den Dingen, die ich besaß oder eben nicht besaß. Darin waren Isabeau und ich uns sehr ähnlich. Sie hatte nicht einmal mit den Wimpern gezuckt, als ich ihr gestanden hatte, alle ihre Sachen verbrannt zu haben. »Okay«, hatte sie gesagt und einmal tief durchgeatmet. Dafür bewunderte ich sie. Und ich hätte ihr gerne auf Deutsch gesagt, was ich nur auf Tschechisch gewagt hatte: dass ich sie bis zum Irrsinn liebte, dass ich verrückt werden würde an dieser Liebe zu ihr. Aber das alles klang mir zu arm, war längst nicht genug. Ich hoffte, dass ich irgendwann diese Worte für sie spielen konnte. Und zwar so spielen, dass sie keiner Übersetzung bedurften.

  Das Fenster schwang sofort auf, als ich den Griff hochzog. Das vertraute Zittern meiner Glieder war mir willkommen. Mit einer Hand zog ich mich am Rahmen hoch und landete barfuß auf der Kante. Meine Lunge schob sich in plötzlicher Enge zusammen, und mein Brustkorb schien sich selbst zu zerdrücken. Es war nur schmerzhaft, wenn ich mich dagegen wehrte, doch gerade jetzt sehnte ich den Moment der Verwandlung herbei. Meine Füße krümmten sich und krallten sich fest. Dann schlug ich meine Flügel nach hinten und verschwand in die Nacht.

  Auf Schwingen getragen tauchte ich in den Wald. Wie recht Isabeau damit hatte, dass mir alles Musik war. Ich flatterte hoch, und das Schlagen meiner Flügel rauschte seine eigene Melodie. Stringendo, eilend und vorwärtsdrängend. Der Wind spielte mit den Baumkronen und erzeugte Klänge wie die einer Äolsharfe. Sphärisch und geisterhaft, aber mir unendlich vertraut. Und wenn ich im Baum schlief – meine Zehen sich automatisch und ohne Kraft am Ast festkrallten, sobald ich in die Hocke ging –, wurde ich selbst ein Teil dieser Harfe. Dann spielte der Wind mit meinem Gefieder, als wären die dünnen, hohlen Schäfte meiner Federn Saiten, in Holz gespannt.

  Leider kam ich nicht weit. Meine Kraft verließ mich bereits nach wenigen Hundert Metern, kaum dass ich den tieferen Wald erreicht hatte. Mein Körper erzitterte, und würde ich nicht endlich zur Ruhe kommen, stürzte ich ab. Mir blieb nichts anderes übrig, deshalb unterdrückte ich das quälende Hungergefühl ebenso wie den Drang, zu meinem Schwarm zurückzukehren, und landete in der Spitze einer Fichte, kauerte mich zusammen und plusterte mein Gefieder gegen die Kälte auf. Dann wartete ich auf den Schlaf.

  Mit dem ersten Pink-Pink eines Buchfinkmännchens wachte ich auf. Es war noch dunkel. Würde ich denken wie ein Mensch, dann verriet mir die Stimme des Vogels, dass es noch etwa eine halbe Stunde bis zum Sonnenaufgang dauerte. Aber ich wollte nicht wie ein Mensch, sondern wie ein Rabe denken und schob diese abstrakte Vorstellung von Zeit weit von mir. Normalerweise verließen wir den Schlafplatz nicht vor dem Sonnenaufgang, aber meine innere Unruhe hatte mich ohnehin die ganze Nacht nicht verlassen und auch jetzt trieb sie meinen Herzschlag in die Höhe. Ob das immer noch Nachwirkungen der Medikamente waren?

  Mit einem Schaudern schlug ich meine Flügel auseinander und ordnete meine Schwingen. Einige widerspenstige Federn zupfte ich mit dem Schnabel zurecht, bevor ich auf der Suche nach etwas Essbarem zu Boden flatterte. Nur lustlos pickte ich das Laub auf und sammelte bei der Gelegenheit ein paar Fichtensamen. Sie gehörten nicht gerade zu meiner Leibspeise, aber ich durfte bei dieser Witterung weiß Gott nicht wählerisch sein.

  Trotzdem – was hätte ich jetzt für einen anständigen Kadaver mit richtigen Fettbrocken gegeben!

  Bevor mein Schwarm sich im Sonnenaufgang auf Nahrungssuche begeben würde, wollte ich bei ihnen sein. Deshalb gab ich es auf, weiterzusuchen, und stieß ein »Kroak« aus. Mit kräftigen Ruderschlägen stieg ich in die Höhe und sah bald die Baumspitzen unter mir. Auch hier begann der Schnee zu tauen. Es krachte im Wald, sobald Schneemassen von den Ästen rutschten und sich am Boden anhäuften. Mehr und mehr Grün tauchte zwischen dem blendenden Weiß auf. Wo ich das Nest des Jungvogels fand, wusste ich, doch ich wollte zuerst mit Sergius darüber sprechen. Möglicherweise würde er unsere Pläne durchkreuzen, indem er sich weigerte, das Tier herauszugeben. Auch wenn er bisher kein Interesse daran gezeigt hatte – es war etwas anderes, seinen Nachwuchs zu vernachlässigen, als ihn in den sicheren Tod zu schicken. Wenn ich ehrlich war, dann hoffte ich sogar, dass er es ablehnte. Es hätte mein Gewissen beruhigt, dass ich diese Entscheidung nicht treffen musste und Isabeau nicht willentlich enttäuschte.

  Wie immer war Milo derjenige, der mich zuerst bemerkte. Seine eher plumpe Gestalt war in der Dämmerung kaum auszumachen, und als ich auf der Krone landete, in der unser Junggesellenschwarm hauste, erkannte ich ihn allein an seinem typischen Geruch, der in meinem Kopf als eine Erinnerung aus farngrünen Sprenkeln auftauchte.

  »Immer wenn ich dich sehe, kriege ich einen Mordshunger«, begrüßte er mich und keckerte lauthals. »Das muss daran liegen, dass du so ausgemergelt aussiehst.«

  Er freute sich sichtlich, mich gesund wiederzusehen. Seine Federn lagen glatt an, und mit diesem gurrenden Tonfall unterstrich er seine unterwürfige Haltung, auch wenn seine Worte mich neckten.

  »Ich bin nicht ausgemergelt. Du bist nur lediglich an ein anderes Spiegelbild gewöhnt«, krächzte ich.

  »Aber da ist diese Begierde in deinem Blick, die mir Angst macht. Soll ich dir zeigen, wo wir zurzeit fressen? Arwed hat ganz in der Nähe des Sumpfes ein angefressenes Hirschkalb entdeckt. Da haben wir noch mehrere Tage was von. Und es ist garantiert keine Falle«, fügte er hinzu.

  »Später, Milo. Erst muss ich mit euch etwas wegen des Jungvogels besprechen. Du und Jaro, ihr habt euch doch um ihn gekümmert.« Das war eigentlich eine rhetorische Frage, auf die ich keine Antwort erwartete, aber Milo nickte.

  »Raban hat uns geholfen«, krächzte er. Gleich darauf stieß er einen klagenden Laut aus. »Scheiße, Mann, Raban geht mir echt ab. Was sind wir nur für ein armseliger Haufen.« Er nickte wippend mit dem Kopf in Richtung der anderen, die ebenfalls aufgewacht waren und sich reckten.

  Er hatte recht. Vor Kurzem noch waren wir zu zehnt gewesen, dann hatten wir als Erstes Pavel, Jaros älteren Bruder, verloren und Jaro dafür gewonnen. Und nun waren nur noch sechs von uns übrig. Doch ich wollte nicht über Raban sprechen. Dass Wassilij so viele von uns erwischt hatte, war unfassbar. Bisher hatte ich auch den Gedanken an Laszlo und Ferenc erfolgreich verdrängt. Doch würde ich jetzt zulassen, um sie zu trauern, dann verlö
re ich aus den Augen, was uns noch bevorstand.

  »Langsam glaube ich, du bist eine Katze«, krähte Milo. »Wie viele Leben hast du eigentlich?«

  Überrascht nahm ich wahr, wie sich unter seiner ergebenen Haltung so etwas wie Zweifel abzeichneten. Misstraute er mir etwa, weil ich Wassilij entkommen war?

  »Akiii!« Jaro flatterte auf und hockte sich direkt neben mich. Der Ast, auf dem wir saßen, wippte unter unserem Gewicht. Er rieb seinen Schnabel an mir. Dass er seine Zuneigung so unverhohlen vor den anderen zeigte, war mir unangenehm. Ich rückte von ihm ab und antwortete stattdessen Milo auf seine unausgesprochene Frage.

  »Er hat mich entkommen lassen, weil er etwas anderes von uns haben will«, sagte ich rundheraus. Es hatte wenig Sinn, um den heißen Brei herumzureden. András und Arwed krallten sich am selben Ast fest, auf dem auch Sergius hockte, der bisher aber mit keiner Regung gezeigt hatte, dass er mich überhaupt bemerkte.

  »Was will er?« Jaros junge Stimme schlug einen Salto vor Aufregung. Alles an ihm war in Alarmbereitschaft. Er hatte in seinem kurzen Leben bisher viel zu viele Opfer bringen müssen und wusste, dass jede Forderung wieder ein solches bedeuten konnte.

  »Er hat uns zu verstehen gegeben, dass er mich in Ruhe lassen würde im Austausch für … einen anderen Raben.«

  Auf Arweds Kopf stellten sich mehrere Haarbüschel auf. Sie sahen aus wie zwei Federohren und wirkten aggressiv. »Will er jetzt jeden von uns einzeln auseinandernehmen, oder was? Sergius hat uns erzählt, was er mit dir gemacht hat. Ich werde mich garantiert nicht anbieten, damit das schon mal klar ist.«

  »Das wollte ich damit auch nicht sagen.«

  Ich beobachtete mit einem mulmigen Gefühl, wie gleichgültig Sergius unserem Disput lauschte. Seine ganze Haltung drückte demonstrative Langeweile aus. Um ihn aus der Reserve zu locken, musste ich mit der Sprache herausrücken. »Wassilij will den Jungvogel haben.«

 

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