Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition)

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Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition) Page 32

by Nikola Hotel


  Wenn ich nur gewusst hätte, wo Jaro und Isabeau waren. Aber Isabeau war nicht hier. Ich hätte es gespürt. Wieso hatte Sergius mich belogen? Nein, überlegte ich, eigentlich hatte er das gar nicht. Mal wieder hatte er mich nur in meinem Glauben gelassen und nicht auf meine Frage geantwortet. Er würde wissen, wo sie sich befand, da war ich mir sicher. Doch wenn Isabeau nicht in der Bibliothek war, dann war wenigstens sie in Sicherheit.

  »Bleib, wo du bist!« Der Jäger wurde nervös und ging einen vorsichtigen Schritt auf Ewa zu.

  Mit den Fingerspitzen drückte ich leicht gegen das Türblatt, um besser sehen zu können, wohl wissend, dass allein schon ein leises Quietschen des Scharniers mich sofort verraten würde.

  Jaro stand nur eine Armlänge von Ewa entfernt. Er hatte seine Kleidung abgelegt, um sich, wenn er sich verwandelte, noch schneller davonmachen zu können. Das war mir klar, aber wusste das auch der Jäger?

  Jetzt stellte er sich breitbeinig hin und umfasste die Waffe mit beiden Händen. In Sekundenbruchteilen nahm ich die Veränderung wahr, seine Bereitschaft abzudrücken. Und das war der Augenblick, wo ich meine ganze Kraft sammelte. Ich dachte nicht darüber nach, was ich tat. Alles in mir war Instinkt, ein Überlebensinstinkt.

  Als sein linker Zeigefinger am Hahn zuckte, stieß ich mit voller Wucht die Tür auf. Sie donnerte gegen seinen Rücken. Der Junge fuhr herum, stieß das Kind durch das offene Fenster nach draußen und sprang nur eine Sekunde später hinterher.

  Ich fiel mit einem Aufschrei, der aus dem tiefsten Inneren zu kommen schien, über den Jäger her. Die Waffe glitt ihm aus der Hand und rutschte über das Parkett. Mit einem Scheppern landete sie unter dem schmalen Sofa neben dem antiken Globus. Meine Faust landete auf seiner Schläfe. Einmal. Zweimal. Dann verdrehte er die Augen.

  Seinen Hemdkragen, an dem ich ihn gepackt hatte, ließ ich los, als hätte ich mich daran verbrannt, und er sackte zusammen.

  Ich hatte keine Zeit zu verlieren, denn ich wusste nicht, wie lange seine Bewusstlosigkeit anhalten würde, und stürzte auf den Flur. Das Schlafzimmer meiner Großmutter war verschlossen. Mit der flachen Hand klopfte ich dagegen.

  »Verschwinden Sie!«

  Ich atmete erleichtert aus, denn das war Šimons Stimme. »Ist der General bei Ihnen, Šimon?«

  »Pan kníže?« Von innen rumpelte es, als etwas vor der Tür weggeschoben wurde, dann drehte sich das Schloss, und die Tür wurde einen Spalt geöffnet.

  »Dem Herrn sei Dank, Ihnen ist nichts passiert!« Er zog mich ins Zimmer.

  Meine Großmutter lag auf dem Bett und hatte einen Waschlappen auf ihrer Stirn. Sie war sichtlich angeschlagen, aber als sie mich sah, atmete sie erleichtert auf und bekreuzigte sich.

  Dankbar küsste ich ihre knochige Hand. Wenn ihr etwas zugestoßen wäre, hätte ich mir das nie verziehen. »Geht es dir gut, babička?«

  »Ich bin nicht so leicht zu überwältigen«, sagte sie. »Das müsstest du eigentlich wissen.« Ihr Atem ging zwar keuchend, aber als ich ihr Handgelenk umfasste, spürte ich ihren Puls ruhig und regelmäßig.

  »Hast du Isabeau gesehen? War sie bei euch in der Bibliothek?«

  Ihre Hand tätschelte meine Wange. »Sie ist mit diesem Drygalski-Jungen gegangen. Gleich nachdem sie mich geweckt hat.«

  »Drygalski?« Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. »Meinst du vielleicht Sergius?«

  »Ein bildhübscher blonder Junge mit einem äußerst frechen Mundwerk.«

  Ich sog scharf die Luft ein. Die Beschreibung des Generals war nicht dazu angetan, meine ohnehin schon geweckten Zweifel auszuräumen. Isabeau und Sergius waren auf einmal so vertraut. Es war mir, als gäbe es in meiner Brust einen Riss, durch den Luft hereinströmte. Aber es war kein angenehmes Gefühl, sondern beißend, als sei dieser Atem mit Rauch versetzt. Er brannte sich in mir fest, und je mehr ich Luft holte, umso weniger bekam ich.

  »Ich muss sie finden. Versprich mir, dass du hier in deinem Zimmer bleibst! Wassilij kann kein Interesse daran haben, dir etwas anzutun, aber es ist besser, wenn du keinem seiner Söldner mehr begegnest.«

  »Šimon wird die Tür verriegeln. Aber erst, wenn er dir etwas Vernünftiges zum Anziehen gegeben hat. Šimon?«

  »Sehr wohl.« Der alte Herr sprang sofort.

  »Babička, dafür ist keine Zeit.«

  »Ich lasse dich so nicht aus diesem Zimmer«, widersprach sie. »Es dämmert bereits, und ich möchte nicht, dass dich jemand in diesem Aufzug sieht.«

  Mein Herz quoll über für sie. Es war möglich, dass mich einer der Jäger erwischte. Möglich, dass der Mann in der Bibliothek schon längst wieder zu sich gekommen war und draußen auf mich wartete. Es war möglich, dass heute ein guter Tag war zu sterben. Aber wenn, dann bitte in standesgemäßer Kleidung. Ich küsste ihre Hand und stand auf.

  Als Šimon mit einem Stapel Kleidung auf dem Arm zurück ins Zimmer kam, nahm ich ihm nur schnell die Hose ab und schlüpfte hinein.

  »Ich habe die Bibliothek abgeschlossen«, sagte Šimon. »Aber dieser Verbrecher klopft bereits sehr ungehalten gegen die Tür. Beeilen Sie sich.«

  Ich hatte die Klinke noch nicht in der Hand, als ein Knall die Stille zerriss. Ich konnte nicht lokalisieren, woher er kam, aber der darauf folgende markerschütternde Schrei kam von draußen und nicht vom Innenhof. Ein Schrei des Entsetzens, hilflos, ohnmächtig, grauenvoll. Mir gefror das Blut in den Adern.

  Isabeau. Es war Isabeau, die so geschrien hatte.

  BLUTREGEN

  ISABEAU

  Es war ein unbedachter Moment gewesen, ein ganz dummer einfacher Moment, in dem wir uns zu sicher fühlten und nicht darauf achteten, was um uns herum geschah. Wir sahen Jaro und Ewa nach, die vom Felsen hinab über die Moldau flogen. Ich spürte eine unendliche Erleichterung, dass sie es geschafft hatten. Keiner von uns beiden achtete auf den Söldner, der oben in der Bibliothek gewesen war. Der Söldner, dessen Stimme wir rufen gehört hatten. Aus irgendeinem Grund war ich davon ausgegangen, dass er versuchen würde, durch das Gebäude nach draußen zu gelangen. Ich hätte nie damit gerechnet, dass er aus dem Fenster auf uns schießen könnte. Vor allem, da sie bisher immer vermieden hatten, einen der Raben in seiner Menschengestalt zur erwischen.

  Der erste Schuss verfehlte sein Ziel. Ich hörte den Knall, spürte das Surren, das dicht an meinem Ohr vorbeiflog, und ließ mich auf den Boden fallen. Das Herz hämmerte mir so stark gegen die Rippen, dass ich dachte, mein Brustkorb müsste bersten.

  Sergius robbte über den Boden auf mich zu. Die ersten Strahlen der Morgensonne krochen über das Wasser und tauchten alles in blaues Licht. Wir konnten uns nicht verstecken. Kein Strauch, kein Baum, und nun ließ uns auch noch die Dunkelheit im Stich.

  »Am Fenster«, stieß ich hervor. »Er steht am Fenster der Bibliothek.« Wie hypnotisiert sah ich zu, wie der Mann den Arm erneut anhob und zielte. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass Sergius sich nicht einmal zu ihm umwandte.

  Dann erwachte ich aus meiner Starre. »Schnell!«, schrie ich Sergius an. Selbst wenn ich jetzt loslaufen würde, ich käme nicht einmal zwei Meter weit, aber Sergius hatte eine echte Chance. »Verschwinde!« Ich gab ihm einen Stoß gegen die Brust, in der Hoffnung, dass er sich sofort verwandeln und abheben würde.

  Aber Sergius kroch weiter auf mich zu. Warum nur verwandelte er sich nicht?

  »Sergius, verschwinde endlich!« Allein das Adrenalin, das durch seinen Körper rauschte, musste doch dafür sorgen, dass sein Rabenblut alles überspülte. Aber Sergius beherrschte seinen Körper, beherrschte sein Rabenwesen besser als alle anderen.

  »Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich nicht sterben lasse«, sagte er. Er richtete sich auf und zog mich an sich, legte seine Arme schützend um meinen Kopf. Doch als er mich umarmte, kam es mir vor, als würde er den Tod umarmen. Mit dem nächsten Knall ging ein Ruck durch Sergius’ Körper. Plötzlich stand ich im Regen. Einem Regen aus Blut, der durch die Luft sprühte und sich überall auf mein Gesicht und meine Kleidung legte.

  Ich schrie. Schrie so laut, dass etwas in mir zu platzen schien.

  Hilflos klammerte ich mich an ihn und versuchte, ihn wegzuzerren. Aus der Schusslinie herau
s. Irgendwohin. Aber sein Körper war viel zu schwer, und es gab auch keine Deckung für uns.

  Sergius lächelte. Er lächelte sein Apfelspaltenlächeln, und dabei lief ihm ein Rinnsal Blut aus dem Mundwinkel und tropfte über sein Kinn.

  Nein, nein! Bitte nicht, lieber Gott, bitte nicht! Ich schluchzte auf. Meine Hände fassten an seinem Rücken ins Nasse. »Das tust du mir nicht an, Sergius. Das tust du mir jetzt nicht an!«

  Er schwankte. Seine Hände umkrampften meine Oberarme so fest, dass es schmerzte.

  Jede Sekunde erwartete ich den nächsten Schuss, aber er blieb aus. Ich hörte Schreie, Männerschreie. Dann sah ich die beiden Silhouetten, die am Fenster miteinander rangen. Ich erkannte Alexej und hatte das Gefühl, dass die Welt in diesem Moment untergehen müsste.

  Mit einem Gebrüll, das aus einer nachtschwarzen Höhle aufzusteigen schien, schlug Alexej den Mann mit dem Kopf gegen den Fensterrahmen. Aber der Jäger kämpfte sich wie ein Wilder nach oben und presste Alexej durch die Fensteröffnung. Alexejs Oberkörper rutschte immer weiter über die Brüstung. Er schien sich kaum zu wehren. Nein, er wollte, dass sie beide nach unten stürzten, schoss es mir durch den Kopf. Der Rabe zwischen seinen Schulterblättern bäumte sich auf. Was dann passierte, nahm ich wie in einem Albtraum wahr: Alexej fiel und riss den Jäger mit sich. Mit einem krächzenden Schrei befreite er sich aus dessen Umklammerung, bevor der Aufprall zu hören war, mit dem der Körper des Jägers erst auf den Felsklippen auftraf und schließlich ins Wasser rutschte.

  »Sergius.« Meine Lippen bebten. »Er kann nicht mehr auf uns schießen. Alles wird gut, er kann uns nicht mehr erwischen, hörst du?«

  Doch kaum hatte ich das gesagt, kippte Sergius zur Seite. Panisch beugte ich mich über ihn und strich ihm die blonden Strähnen aus dem Gesicht. Meine Finger berührten die kahle Stelle über seiner Schläfe, wo der Streifschuss ihn erwischt hatte. Als er mich mit offenen Augen ansah, stieß ich heißen Atem der Erleichterung aus.

  »Er kann uns nicht mehr erwischen«, wiederholte ich. »Wo hast du mein Handy versteckt? Verflucht, wo ist mein Handy? Ich rufe sofort den Notarzt. Mach dir keine Sorgen, alles wird gut.« Obwohl ich wusste, dass es nicht in meiner Tasche war, klopfte ich wie eine Irre meine Hose ab, als könnte ich das Telefon allein durch meine Willenskraft herbeizaubern.

  »Isa«, raunte er.

  »Hast du Schmerzen? Oh Gott, natürlich hast du Schmerzen. Ich verspreche dir, das wird gleich besser. Du bekommst etwas gegen die Schmerzen.«

  »Nein.« Er leckte sich über die Lippen und verzog das Gesicht, als er das Blut schmeckte. »Ich habe keine beschissenen Schmerzen.«

  Gott sei Dank! Solange er fluchte, war ich mir sicher, dass alles in Ordnung war und dass er mir nicht in den Armen wegsterben würde.

  »Ich spüre meine Beine nicht.«

  »Das ist bestimmt normal«, stieß ich hervor. »Das ist der Schock. Oder die Kälte. Alles wird wieder gut, Sergius, mach dir keine Sorgen!«

  »Du bist eine beschissene Lügnerin.«

  »Ich weiß.« Meine Stimme klang völlig hysterisch.

  »Aber ich spüre meine Beine nicht mehr!«

  Ich heulte los. »Darum kümmern wir uns später.«

  Er lachte auf, und erneut lief ein Rinnsal Blut aus seinem Mund. »Ich will, dass du mich küsst«, sagte er unerwartet.

  Mein Schluchzen stockte. »Aber –«

  »Ich bin verdammt noch mal verwundet, Isa! Diese Situation kann ich ja wohl ausnutzen. Ich will verdammt noch mal einen verfickten Kuss von dir!«

  Ich rang nur kurz mit mir. Dann umfasste ich sein Gesicht und versuchte zu ignorieren, dass meine Hände blutverschmiert waren. Die Tränen unterdrückend presste ich meine Lippen auf seine. Sie waren weich und nachgiebig, ganz anders, als ich es erwartet hatte, und mir rutschte das Herz in die Hose. Seine Zunge schob sich zwischen meine Lippen, und Sergius schloss die Augen, als er an meiner Unterlippe saugte. Ich spürte einen stechenden Schmerz und schreckte zurück. Hatte er mich gebissen? Verwundert wollte ich nach meinem Mund fassen, aber seine Hand hatte den Pferdeschwanz an meinem Hinterkopf gepackt und gab mich nicht frei. Er leckte über meinen Mund, um ihn erneut zu öffnen. Und dann wusste ich nicht mehr, ob es sein Blut war oder mein eigenes, das ich auf meiner Zunge schmeckte. Ich wusste nur, dass Sergius sein ganzes Leben in diesen Kuss legte.

  Keuchend kamen wir zu Atem.

  »Scheiße«, raunte er. »Jetzt habe ich dich endlich da, wo ich dich die ganze Zeit schon haben wollte, und kriege verdammt noch mal keinen mehr hoch.«

  Ein hysterisches Lachen brach sich aus meiner Kehle Bahn. Albern, aufgekratzt, unwirklich und völlig verzweifelt. »Wir sind doch Freunde«, sagte ich.

  »Ich wollte nie dein beschissener Freund sein«, sagte er. »In einem anderen Leben, da hätten wir vielleicht Freunde sein können, aber nicht in diesem.«

  »Das können wir immer noch«, brachte ich mühsam hervor. »Wir können immer noch Freunde sein.«

  Er schien mir gar nicht zuzuhören. Nicht zu hören und nicht zu sehen. Sein Blick hing an einem Punkt hinter mir fest. »Ich kann niemanden lieben, Isa. Nicht dieses verfluchte Kind, nicht den Schwarm, auch dich nicht.« Jetzt starrte er mich direkt an. »Ich kann dich nicht lieben. Aber verflucht …«, er hob seine Hand und presste Daumen und Zeigefinger vor meinem Gesicht aneinander, »… ich war so dicht dran. So dicht.« Er ließ seine Hand fallen.

  Wieso nur sagte er das? Ich hatte entsetzliche Angst vor dem, was nun passieren würde. Und ich war verwirrt. »Das ist doch egal. Ich liebe dich für uns beide.« Ich wusste nicht, wo diese Worte auf einmal herkamen, aber sie fühlten sich echt an. Wir waren schließlich Freunde. Und erst recht fühlte es sich richtig an, sie zu einem Mann zu sagen, der vielleicht sterben würde.

  Sergius schloss die Augen. Mein Herz schlug wie wild, und ich betete dafür, dass Alexej bereits den Notarzt gerufen hatte.

  Als Sergius mich wieder ansah, glänzten seine Pupillen olivgrün und der Morgen spiegelte sich darin. Ich spiegelte mich darin. Moldavite waren fast fünfzehn Millionen Jahre alt, und mir kam es vor, als wäre sein Blick, der dieselbe Farbe hatte und der genauso zerklüftet war wie dieses Glas, als wäre dieser Blick das ebenfalls. Er wusste genau, was er sagte:

  »Du musst mir das Herz rausschneiden.«

  »Aber … Ganz sicher nicht!«

  Seine Lider flatterten, als kämpfte er dagegen an, das Bewusstsein zu verlieren. »Wenn ich tot bin. Dann will ich ein Rabe sein und … mich nicht in einen Menschen zurückverwandeln. Nimm ein beschissenes Küchenmesser und schneide mir den Brustkorb auf, wie Wassilij es bei Ferenc gemacht hat. Und dann vergräbst du mich irgendwo.«

  »Du wirst nicht sterben! Was zum Teufel lässt dich glauben, dass ich dich einfach so sterben lassen würde? Du bist verletzt, okay, aber du kannst mit mir sprechen. Wenn gleich der Rettungswagen kommt, bringen sie dich ins Krankenhaus.«

  »Ich kann meine Beine nicht mehr spüren, Isa. Und meinen ganzen Unterleib nicht. Kurwa! Ich werde nie wieder in meinem Leben einen hochkriegen.«

  »Als ob das so lebenswichtig wäre«, schnauzte ich ihn an. »Deine Verletzung ist bestimmt nicht so schlimm, dass du daran stirbst.«

  »Ja«, sagte er und leckte sich über die Lippen. »Als Mensch vielleicht nicht.«

  Ich konnte erst nicht fassen, was er mir damit sagen wollte, aber schließlich schüttelte ich in langsamem Begreifen den Kopf. »Wenn du das machst, wenn du dich jetzt verwandelst, dann werde ich dir das nie verzeihen.« Verzweifelt presste ich mein Gesicht in sein Haar. »Ich werde dir das nie verzeihen, hörst du?«

  Mit den Lippen berührte er beinahe zärtlich meine Wange. Seine Stimme klang erschöpft, doch seine Worte waren alles andere als kraftlos. »Das ist mir scheißegal.«

  Ich heulte los. »Ich werde einen Grabstein für dich bestellen, auf dem dick und fett von Drygalski steht.«

  Jetzt lachte Sergius kehlig. Blut lief über seine Wange bis über das Ohr, wo ich ihn eben noch geküsst hatte. Er schluckte mühsam. »Ich glaube nur an meinen eigenen Arsch, das habe ich dir schon einmal gesagt. Und wenn ich den nicht mehr spüren kann, was für einen S
inn hat das Ganze dann noch?«

  Ich wollte nicht betteln, weil ich wusste, dass ihn das völlig kalt lassen würde, aber ich tat es doch, weil betteln wirklich nur ein geringer Preis war und ich nichts unversucht lassen wollte. »Ich flehe dich an, tu es nicht. Bitte tu es nicht. Es ist doch egal, was mit deinen Beinen ist. Die sind doch nicht wichtig. Du machst doch viel mehr aus als bloß das, was dein Körper darstellt. Ich …«

  Eine Hand fasste mich an der Schulter, und ich schreckte auf. Alexej hockte neben mir, seine Miene war undurchdringlich. Er griff nach Sergius’ Handgelenk, um dessen Puls zu fühlen.

  »Es war trotz allem … ein geiles Leben«, keuchte Sergius, der ihn gar nicht wahrzunehmen schien. »Du hast also keinen Grund zu flennen, auch wenn du mir den Käsekuchen schuldig bleibst.«

  Tränen rannen mir über das Gesicht. Wir sollten ihn k. o. schlagen, überlegte ich hitzig. Irgendetwas tun, damit er keine Kontrolle mehr über seinen Körper hatte. Irgendetwas!

  »Der Notarzt ist unterwegs«, sagte Alexej, und Hoffnung keimte in mir auf. Vielleicht würden sie doch noch rechtzeitig eintreffen.

  »Sie schicken einen Rettungshubschrauber. Du wirst dich also nicht einfach so aus dem Staub machen können, Kumpel. Wir sind ein Schwarm, vergiss das nicht. Ich lasse dich genauso wenig im Stich wie Isabeau.«

  »Ein Schwarm.« Sergius lachte blechern und schlug Alexejs Hand beiseite. »Fick dich!«, sagte er.

  Dann wirbelte schwarzer Flaum auf.

  RABENTOD

  ISABEAU

  Durch die Wucht der Verwandlung stoben Rabenfedern durch die Luft.

  »Nein, oh bitte, bitte nein!« Entsetzt hob ich Sergius’ Rabenkörper auf, dessen Gefieder völlig zerfetzt war. Über uns wummerten die Rotoren des herannahenden Hubschraubers. Doch der kleine Brustkorb hob sich in meinen Händen nur noch ein paar Mal, dann war er still.

  Ich konnte kaum etwas sehen, weil die Tränen mich blind machten, und schlug Alexejs Hand beiseite, genau wie Sergius es eben getan hatte. »Fass mich nicht an!«

 

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