002 - Free like the Wind

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002 - Free like the Wind Page 3

by Kira Mohn


  «Hat er zwischenzeitlich mal was von seinen Eltern gehört?»

  «Nein.» Havens Stimmung dämpft sich schlagartig. «Ich verstehe das nicht – es sollte ihnen doch wichtig sein, wie es ihm geht, oder? Und nicht nur, was er studiert.»

  «Was sagt Jackson denn dazu?»

  «Er meint, sie würden sich schon irgendwann wieder einkriegen. Ich glaube allerdings nicht, dass es ihm völlig egal ist.»

  «Es ist gut, dass Jackson das trotzdem durchzieht.»

  «Ja, ist es. Aber es ist auch hart.»

  Havens Beziehung zu ihrem Vater ist sehr eng, und ich kann mich daran erinnern, wie groß ihre Angst war, er könne verletzt sein, als sie ihm sagte, dass sie ihr Studium der Umweltwissenschaften in Edmonton beenden werde, statt wie geplant nach einem Gastsemester zurück nach Jasper zu gehen. Zum Glück ist Havens Dad ganz anders als die Eltern ihres Freundes.

  «Da vorn ist es.» Haven weist schräg über die Straße auf ein orangefarbenes Gebäude mit riesigen Fenstern. Hoffentlich sitzen wir da nicht ausgestellt wie in einem Zoo.

  Doch zu meiner Erleichterung ist von außen durch die Scheiben nichts zu erkennen, sie spiegeln lediglich mein Gesicht wider.

  Der Eingangsbereich ist klar und hell. Hinter einem geschwungenen Tresen bietet eine riesige Schautafel einen Überblick zu den Kursen – es gibt unglaublich viele, und nur wenige haben Namen, die mir etwas sagen. Acro Yoga. Mental Yin Yoga. Die acht Stufen des spirituellen Raja Yoga. Was soll das bitte sein?

  Haven marschiert zum Empfangstresen. Die Frau, die dort sitzt, blickt ihr mit einem wohlwollenden Lächeln entgegen. «Hi, kann ich euch helfen?»

  «Hallo. Wir haben uns für eine Probestunde bei dem Anfängerkurs von Amjana Lobanov angemeldet», sagt Haven. «Wo müssen wir denn da hin?»

  «Einfach durch die Glastür links, dann noch mal links und bis zur Treppe. Der Kurs findet im Obergeschoss statt, es ist gleich der erste Raum auf der rechten Seite, die Umkleidekabine befindet sich direkt daneben.»

  «Vielen Dank.»

  Ein leichtes Nicken ist die Antwort, und unwillkürlich senken auch Haven und ich kurz den Kopf.

  Die Kursleiterin Amjana Lobanov ist eine kleine, irgendwie zäh aussehende Frau mit einem im Nacken streng zurückgebundenen Zopf, wodurch der dunkle Ansatz ihres blondierten Haars hervorgehoben wird. Im ersten Moment erinnert sie mich an eine alternde Ballettlehrerin, wie sie so aufrecht und mit durchgestrecktem Rücken vor den wenigen Frauen steht, die bereits ihre Yogamatten in dem hohen, hellen Raum auf dem Parkett ausgerollt haben.

  «Hallo.» Mit ausgestrecktem Arm tritt Haven auf die Yogalehrerin zu. «Ich bin Haven. Ich hatte angerufen.»

  «Ah, ihr seid heute für eine Probestunde hier.» Mrs. Lobanov umschließt Havens Finger mit beiden Händen. «Hallo. Ihr habt schon Vorerfahrungen, hast du gesagt, oder?»

  Bei dieser Frage blickt sie zu mir, und automatisch erwidere ich: «Na ja, also, wir haben uns bisher einiges auf YouTube angesehen.»

  Mrs. Lobanov nickt, und obwohl sich an ihrem Lächeln nichts verändert, scheint sie mir doch ein wenig amüsiert. «Das schadet vermutlich nicht», sagt sie. «Es gibt sehr gute Anleitungen im Internet. Aber es schadet auch nicht, in der Praxis zu überprüfen, ob sich Haltungsfehler eingeschlichen haben. Sucht euch einfach einen Platz, von dem aus ihr mich gut sehen könnt – ich komme zu euch, wenn ich euch helfen kann.»

  Sie wendet sich einer Frau zu, die strahlend auf sie zueilt, und während die beiden sich umarmen, rollen Haven und ich unsere Matten nebeneinander in der Nähe der bodentiefen Fenster aus. Irgendwie glaube ich nicht, dass das hier das Richtige für mich ist. Eine leise Sehnsucht nach meinen YouTube-Videos steigt in mir auf, zu Hause, wo ich ungestört bin und um mich herum keine Menschen leise miteinander reden oder seltsame Dehnübungen machen.

  «Ich bin wirklich gespannt, du auch?» Haven hat sich im Schneidersitz neben mir zurechtgesetzt und lächelt mir zu.

  Ich nicke nur. Haven ist wirklich der einzige Mensch auf der Welt, der mich immer wieder dazu bringt, meine üblichen Routinen zu verlassen, und das war von Anfang an so. Nach dem Umzug nach Edmonton habe ich den Kontakt zu all meinen bisherigen Freunden abbrechen lassen, und die Einsamkeit, die sich daraus ergab, hat sich nicht einmal verkehrt angefühlt. Doch ein Blick in ihr offenes Gesicht und den – bei unserer ersten Begegnung – sehr verletzten Ausdruck darin hat mich tatsächlich dazu gebracht, sie anzusprechen. Ich glaube, einfach so eine andere Frau angesprochen habe ich noch nie. Jedenfalls nicht mehr, seit ich ein kleines Mädchen war, und auch damals nur sehr selten. Ich hatte ja immer eine beste Freundin, und wir waren uns meistens genug.

  «Ihr Lieben.» Die Tür ist mittlerweile geschlossen, und Mrs. Lobanov hat sich der Gruppe zugewandt. Ihre Tonlage hat sich verändert – bei unserem Gespräch vor wenigen Minuten war ihre Stimmfarbe wesentlich höher. Jetzt ist sie tiefer, und sie spricht auch langsamer. «Ich freue mich sehr, euch alle heute hier zu sehen. Lasst uns beginnen.» Sie schüttelt kurz Arme und Beine aus und schließt die Augen. «Erde deine Füße.»

  Jede der Frauen, die bisher auf ihren Matten saßen, erhebt sich, und wir alle kopieren Mrs. Lobanovs Haltung. Barfuß, die Füße ein Stück weit voneinander entfernt, stehe ich da, atme tief durch und schließe die Augen.

  «Atme ein … heb deine Hände über den Kopf, die Handinnenflächen berühren sich …»

  Je länger ich mich von ihrer Stimme durch die Stunde führen lasse, desto leichter gelingt es mir, mich darauf einzulassen. Schon nach kurzer Zeit vergesse ich beinahe, dass ich nicht alleine bin, und ich bemühe mich sehr, ihren Anweisungen zu folgen, in der Hoffnung, mich dadurch vielleicht noch ein wenig gelöster als in der vorhergehenden Minute zu fühlen.

  «Setz dich aufrecht hin, beug dein linkes Knie …»

  Zweimal war Mrs. Lobanov bereits bei mir und hat meine Haltung korrigiert, doch im Moment fühlt sich alles, was ich tue, absolut richtig an.

  «Atme in deine Dehnung hinein. Als würdest du die Stellen, die sich vielleicht eng anfühlen, wie einen Ballon aufblasen und mit der Ausatmung übermäßige Spannung daraus befreien. Atme. Atme weiter. Atme tief in den Bauch.»

  Leah würde das hier gefallen.

  Dieser Gedanke trifft mich mit einer solch entsetzlichen Wucht, dass ich unwillkürlich die Luft anhalte. Eben noch fühlte sich die Körperhaltung, in der ich mich gerade befinde, sicher und stabil an, doch jetzt drohe ich die Balance zu verlieren.

  Normalerweise überkommen mich die Erinnerungen nicht so überraschend. Meistens sind sie immerwährend da, wie ein Ton, an den man sich gewöhnt hat, das Rauschen des Windes, fließendes Wasser. Jetzt allerdings ist es mir wirklich und wahrhaftig gelungen, mich eine kurze Weile nur auf mich und meinen Körper zu konzentrieren – umso heftiger wirft mich Leahs Auftauchen wieder zurück in meine ganz persönliche Hölle.

  Ich senke die Stirn, bis ich den Mattenboden berühre, presse beide Handflächen gegen den Widerstand des Bodens.

  Leah hätte es hier gefallen.

  Abrupt richte ich mich auf, rolle hektisch meine Matte zusammen und bin schon auf dem Weg zur Tür, bevor ich Havens überraschten Ausruf höre. «Rae! Was … wo gehst du denn hin?»

  Ich kann ihr nicht antworten, nicht in diesem Moment.

  In der Umkleidekabine sitze ich auf der Holzbank, damit beschäftigt, mir die Socken wieder anzuziehen, als Haven im Türrahmen erscheint.

  «Rae? Was ist denn los?»

  Eigentlich will ich nur abweisend den Kopf schütteln, so wie ich es in den letzten Jahren immer getan habe, wenn ich versehentlich jemanden zu tief in mein Innerstes habe blicken lassen, doch das hier ist Haven, und bei Haven funktioniert es nicht.

  «Rae …» Sie durchquert den kleinen Raum und setzt sich neben mich. Ich bin dankbar dafür, dass sie keinen Versuch unternimmt, mich zu umarmen. In solchen Momenten haben mich immer alle umarmt, und keiner kam auf die Idee, dass ich das nie wollte, weil der einzige Mensch, dessen Umarmung ich so dringend gebraucht hätte, nicht mehr da war.

  Ich schlüpfe in meine Stiefel. «Ich musste gerade an jemanden denken.»

  «
Es scheint keine sehr schöne Erinnerung gewesen zu sein.»

  «Nein», erwidere ich, und es hört sich an wie ein Seufzen. «Nein, war es nicht.»

  Leahs blutleeres Gesicht. Ihre geschlossenen Augen. Die furchtbare, furchtbare Wunde an ihrem Hals.

  «Ist es okay für dich, wenn ich mit dir komme?»

  Ich blicke auf. Haven hat sich ebenfalls ihre Sachen wieder angezogen. Mehrere Minuten scheinen vergangen zu sein – das passiert mir oft, wenn ich an Leah denke.

  Mit ihrer zusammengerollten Matte auf den Knien sitzt Haven neben mir und sieht mich prüfend an.

  «Kann ich mich einfach nachher bei dir melden?», frage ich. Es geht nicht, ich will nicht darüber reden, nie wieder. Nicht einmal mit Haven. «Mir ist heute doch nicht mehr nach einem Eis.»

  «Natürlich.» Mit den Fingerspitzen streicht sie sacht über mein Knie, nur ganz kurz, kaum spürbar. «Wann immer du dich danach fühlst. Ich bin da.»

  Cayden

  «Was meinst du damit, du hast nicht vor, heute in die Kanzlei zu gehen?»

  Jackson steht im Eingang zur Küche, und genau dort steht er mir im Weg, weil er keine Anstalten macht, ein Stück zur Seite zu treten.

  «Was genau ist daran denn nicht zu verstehen?», erwidere ich.

  «Es ist Montag. Du musst da nur für einen einzigen Nachmittag in der Woche hin. Findest du nicht, dass du es langsam übertreibst?»

  Ich dränge ihn mit der Schulter zur Seite und steuere mit meinem Drink in der Hand das Sofa an. «Wieso fühle ich mich auf einmal, als würde ich mit meiner Mutter zusammenwohnen?»

  «Cayden. Das ist doch nicht dein Ernst. Es ist nicht einmal Mittag. Soll ich dich gleich bei den anonymen Alkoholikern anmelden, oder warten wir damit, bis ich dich in deiner eigenen Kotze liegend finde?»

  «Tu, was auch immer du nicht lassen kannst, Mum.» Ich stelle den Wodka Lemon auf dem Tisch ab und lasse mich auf die Polster fallen. Einen Arm in den Nacken gelegt, greife ich mit der freien Hand nach der Fernbedienung.

  «Sieh dich doch mal an. Du driftest, Cay. Du besuchst vielleicht gerade mal die Hälfte deiner Vorlesungen, du datest immer mehr Frauen in immer kürzeren Abständen, du hast dir am frühen Vormittag einen Scheißdrink gemacht, und jetzt hast du nicht mal vor, heute zu Thompson & White zu gehen – das Einzige, was dir wirklich noch etwas zu bedeuten scheint, ist dein Training.»

  «Ich achte eben auf meine Gesundheit.» Bei irgendetwas, das nach einer Verfolgungsjagd aussieht, unterbreche ich meine Zapperei und taste nach dem Glas. «Musst du nicht zur Uni?»

  «Thompson & White kicken dich einfach wieder.»

  «Na und?»

  «Wie kann man nur so egoistisch sein?»

  Überrascht sehe ich Jackson an.

  «Du hast die Möglichkeit, bei einer so renommierten Kanzlei wie T & W Erfahrungen zu sammeln, obwohl du gerade mal so die Mindestvoraussetzungen dafür erfüllst – was denkst du wohl, wie viele gern an deiner Stelle wären? Deinetwegen bekommt jetzt niemand anderes die Gelegenheit.»

  «Du meinst, es würde weltweit für Entsetzen sorgen, wenn bekannt werden würde, dass ich den Tag heute lieber hier vor dem Fernseher verbringe, statt für drei Stunden in die Kanzlei zu gehen?»

  «Ich meine, dass du mal klarkriegen solltest, ob dieses Studium überhaupt dein Ding ist.»

  «Okay, ich denke darüber nach.»

  «Cayden.»

  «Was denn noch? Geh mir nicht auf die Nerven, Jax.»

  Jackson verdreht die Augen. «Ach verdammt … mach doch, was du willst.»

  «Kein Problem.»

  Während Jackson über die Wendeltreppe nach unten verschwindet, setze ich mich bequemer zurecht. Ob dieses Studium überhaupt mein Ding ist – eins ist so gut wie das andere, wieso also nicht Anwalt werden? Seit Jackson Jura aufgegeben hat, um sich stattdessen auf seine zukünftige Laufbahn als Lehrer vorzubereiten, ist er auf einem Weltverbesserungstrip und versucht ständig herauszufinden, was ich eigentlich will. Mittlerweile tut es mir beinahe leid, dass es da bei mir nicht viel zu entdecken gibt. Ich träume nicht heimlich davon, Astronaut zu werden oder Tierarzt oder Feuerwehrmann. Anwalt ist okay. Die Bezahlung ist in Ordnung, soweit das überhaupt eine Rolle spielt, und es ist ein Job, in den ich ganz gut reinpasse, denke ich. Besser jedenfalls als vieles anderes, das Jackson bisher so vorgeschlagen hat. Das nächste Mal werde ich ihm sagen, ich gedenke, Glückskeksautor zu werden. Vielleicht gibt er dann eine Weile Ruhe.

  Was die Drinks betrifft – ich stelle das Glas auf den Tisch zurück –, solange meine Hände nicht zittern, während ich mir den nächsten mixe, sehe ich kein Problem darin.

  Eine halbe Stunde später stehe ich in der Küche und versuche, mich zwischen Schokolade und Chips zu entscheiden, als es an der Haustür klingelt. Das Gerät für die Funkvideo-Sprechanlage liegt auf der Fensterbank, und einen Klick später weiß ich, dass draußen Havens Freundin steht, wie auch immer sie noch hieß. Es ist die, die mich nicht mag. Könnte amüsant werden.

  Statt sie über die Sprechanlage zu fragen, was sie will, gehe ich zur Treppe, und Sekunden später öffne ich schwungvoll die Haustür. Im selben Moment, in dem sie mich erkennt, verschränkt sie ablehnend die Arme vor der Brust.

  «Hi. Ich will nur Haven abholen.»

  Zuvorkommend trete ich zur Seite, und ohne mich auch nur noch ein einziges Mal anzusehen, geht sie an mir vorbei zur Wendeltreppe. Statt ihr zu folgen, steuere ich das Trainingszimmer an. Sie wird ohnehin gleich wieder hier unten auftauchen.

  «Haven?», höre ich ihre gedämpfte Stimme. «Hallo?»

  Ich setze mich ans Ende der Hantelbank und klemme die Füße hinter die gepolsterten Beinhalterungen. Nach dem Duschen heute Morgen habe ich mir ein T-Shirt und eine Sporthose angezogen, optimale Klamotten für eine kleine Runde Bauchmuskeltraining.

  «Haven?»

  Die Stimme klingt jetzt leiser, vermutlich hat Havens Freundin sich gerade in Jacksons leeres Zimmer gewagt. Kurz darauf höre ich ihre Schritte wieder die Stufen hinuntereilen, und im nächsten Moment erscheint sie im Türrahmen.

  «Wo ist sie denn?»

  «Keine Ahnung.» Ich spanne die Muskeln an und lehne mich auf der Bank zurück, ohne den Blickkontakt abreißen zu lassen.

  «Aber wieso …» Sie hält inne. «Hat Haven letzte Nacht nicht bei Jackson übernachtet?»

  «Nicht dass ich wüsste.»

  «Das ist …» Ihr scheint etwas einzufallen, und sie verstummt. «Wieso lässt du mich dann nach ihr suchen?»

  Ein weiteres Mal lehne ich mich zurück, halte die Spannung, dann richte ich mich auf. «Ich hätte es dir ja gesagt, aber du bist einfach zu schnell an mir vorbeigerannt.»

  Sie scheint zu überlegen, wie ernst sie diese Antwort nehmen sollte, und ich achte sorgfältig darauf, meinen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten.

  «Okay», sagt sie schließlich, «ich wollte dich nicht stören, sorry.»

  «Hast du nicht.» Versuchsweise teste ich ein Lächeln, das unerwidert bleibt. Die Frau ist ein Eisklotz. «Soll ich Haven was ausrichten, falls sie später zusammen mit Jax hierherkommt?»

  «Nein, musst du nicht, ich schreibe ihr eine Nachricht. Ich habe da etwas vergessen, fürchte ich.»

  «In Ordnung.» Ich stehe auf und gehe ein paar Schritte in ihre Richtung, bis ich so nahe vor ihr stehe, dass ich ihre Augenfarbe erkennen kann. Ein helles Grüngrau. Sie ist alles in allem ziemlich durchschnittlich, abgesehen von ihrem seit einigen Wochen dunkelblauen Haar. Billige Klamotten, aber darin unterscheidet sie sich nicht von den meisten Menschen, die ich kenne. Einzig ihre Augen … wenn sie mich ansieht, meine ich etwas darin zu erkennen, das mir bekannt vorkommt. Was ist es? Langeweile? Wut?

  «Also, ich geh dann mal wieder.»

  «Klar.» Jede Mühe wäre hier verschenkt, es ist nicht zu übersehen, dass sie nur darauf wartet, zu irgendeinem Vorschlag, der von mir kommt, nein sagen zu können. Das ist überhaupt der einzige Grund, aus dem sie noch immer im Türrahmen steht. Ich grinse sie an, und sie wappnet sich.

  «Links von dir», sage ich.

  «Was?» Verwirrt sieht sie zu mir auf.

 
«Die Haustür. Sie befindet sich links von dir.»

  Auf ihren Wangen erscheint ein Anflug von Rosa. Ohne noch etwas zu erwidern, dreht sie sich um. Sekunden später wird die Tür nachdrücklich ins Schloss geworfen.

  Rae. Sie heißt Rae.

  Von oben ist das Summen meines Telefons zu hören. Wenn das mal nicht Thompson & White sind.

  Im Trainingsraum schalte ich die Anlage ein, und in der nächsten Sekunde dröhnen Rage Against The Machine durch den Raum, so laut, als stünde Zack de la Rocha direkt neben mir.

  Ich gehe zurück zu meiner Bank und klemme wieder die Füße hinter die Halterungen. Noch ein bisschen Training. Vielleicht auch ein bisschen mehr. Eben genug, um danach ein paar Stunden schlafen zu können.

  3.

  Rae

  Verflixter Cayden.

  Links von dir.

  Er hat mich angegrinst, und ich war mir vollkommen sicher, dass gleich irgendetwas in Richtung Hast du Lust auf einen Kaffee? kommen würde. In Caydens Fall vermutlich eher: Wollen wir zusammen duschen? Und ich hätte sehr höflich nein gesagt.

  Und dann – links von dir.

  Als würde es nicht schon reichen, völlig vergessen zu haben, dass Haven gestern nicht bei Jackson übernachtet hat, weil sie mit ihrer Cousine Lucy für eine Chemieprüfung lernen wollte.

  Immer noch genervt – mittlerweile allerdings mehr von mir selbst – steuere ich meinen Wagen durch Edmontons Univiertel. Haven und ich frühstücken montags meistens gemeinsam. Danach hat sie ihren ersten Kurs, und ich erledige den Wocheneinkauf für meine Mutter. Wenn ich mich beeile, schaffen wir es heute trotz meiner Vergesslichkeit noch.

  Cayden stand gerade so dicht vor mir, dass ich Spuren des Duschgels an ihm riechen konnte, das er heute Morgen verwendet hat. Das und noch etwas anderes, Ungewöhnlicheres. Eine Weile grübele ich darüber nach. Irgendetwas, das er zum Frühstück gegessen oder getrunken hat? Pfefferminztee? Irgendwas mit Limone? Nein, das war es nicht, aber ich komm nicht drauf. Vermutlich war es irgendein schweineteures, exklusives Männerparfum.

  Er hat sehr dunkle Augen und – noch erstaunlicher, wenn man seine Haarfarbe bedenkt – auch eher dunkle Augenbrauen. Ein seltsamer Gegensatz. Rein optisch ist er das komplette Gegenteil von mir: blondes Haar, schwarzes Haar, dunkle Augen, helle Augen, er eher groß, ich eher klein.

 

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