002 - Free like the Wind

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by Kira Mohn


  «Danke.»

  «Willst du die Milch aufschäumen?»

  «Nein, nicht so wichtig.» Sie füllt Espresso und Milch in die große Tasse und mustert dann ratlos den Topf, in dem noch ein Rest zurückgeblieben ist.

  «Lass ihn einfach stehen», sage ich. «Du kannst dir damit ja später noch einen zweiten machen. Brauchst du Zucker?»

  «Nein.» Behutsam nimmt sie die Tasse in beide Hände und balanciert damit zurück zur Tür.

  «Hör mal …»

  Rae dreht sich um und wartet vermutlich ähnlich gespannt wie ich selbst darauf, was ich noch zu sagen habe. Nix, eigentlich.

  Ich muss wieder an diesen Blick denken, mit dem sie mich letzte Nacht angesehen hat. Als hätten wir uns über irgendetwas verständigt. Allerdings bin ich mir nicht sicher, worüber wir uns da ausgetauscht haben. «Was habt ihr euch gestern angesehen?»

  Raes Augenbrauen wandern in die Höhe. Ja, ich finde diese Frage jetzt auch eher schwach, aber etwas Besseres ist mir in meinem aktuellen Zustand nicht eingefallen.

  «The Greatest Showman. Und danach Shazam.»

  Sie hat sehr schlanke Beine, und Jacksons Shirt spannt sich an Stellen, an denen es sich normalerweise nicht spannt. Mir fällt auf, dass sie auch ihre Fingernägel blau lackiert hat, und plötzlich frage ich mich, ob sie wohl die Augen schließt, wenn sie jemanden küsst. Oder geküsst wird.

  Meine Kopfschmerzen treten in den Hintergrund.

  Sie räuspert sich. «Kennst du einen der Filme?»

  «Nein. Nur davon gehört. Waren sie gut?»

  «Ja, schon. The Greatest Showman habe ich zum vierten Mal gesehen.»

  «Okay, also sogar besonders gut.»

  «Ich mag ihn», erwidert sie schlicht und trinkt einen Schluck.

  Ihr Gesicht ist schmal, das Kinn beinahe spitz. Wären ihre Augen größer, könnte sie mit ihrer Haarfarbe direkt einem Anime entsprungen sein.

  «Es kommt ein Song darin vor», sagt sie jetzt. «This is me, und ich finde …»

  «Morgen.» Jackson taucht hinter ihr auf und schiebt sich gähnend vorbei. «Gut geschlafen, Rae?»

  «Ja, danke.»

  Sie sieht wieder zu mir, als Jackson die Kühlschranktür aufreißt und beim Hineinschauen die Haare an seinem Hinterkopf mit einer Hand noch etwas mehr durcheinanderbringt.

  «Es ist eine ganz besonders berührende Szene», sagt sie.

  «Hm?», erwidere ich, abgelenkt von Jackson, der den Kühlschrank zuwirft und jetzt den Siebträger aus der Espressomaschine dreht.

  «Die Szene, in der dieser Song auftaucht.»

  «Welcher Song?»

  Rae öffnet den Mund und schließt ihn wieder. «Ach, egal.»

  «Wir sollten irgendwo frühstücken gehen», wirft Jackson ein und beginnt Espressobohnen zu mahlen. «Willst du mitkommen, Cay?», ruft er gegen das Getöse des Mahlwerks an.

  «Ja, warum nicht.»

  Ich sehe Rae nach, die sich in diesem Augenblick langsam in Richtung Küchentür bewegt. Ihre blauen Haare leuchten auf, als sie dabei einen breiten Sonnenstreifen durchquert.

  «Ich kann leider nicht», erklärt sie, sobald der Lärm der Kaffeemühle aufgehört hat. «Es ist schon ein bisschen spät, sorry, ich fahr jetzt erst mal nach Hause.»

  Sie verschwindet um die Ecke, und als ich ihr hinterhergehe, schließt sie gerade die Tür des Gästezimmers.

  «Haven ist bestimmt schon fertig mit Duschen», bemerkt Jackson, «und ich brauche nicht lang. Was ist mit dir? Ich schätze, wir könnten in etwa zwanzig Minuten los.»

  «Ich hab’s mir überlegt. Ich bleibe doch hier.»

  «Echt? Es sind gerade mal noch drei Scheiben Toast da.»

  «Reicht mir. Mehr vertrage ich heute Morgen eh nicht.»

  Mit der Espressotasse in der Hand drückt Jackson sich an mir vorbei, so wie kurz zuvor an Rae. Er ist schon fast beim Sofa, da scheint ihm etwas einzufallen, und er kehrt zurück. «Vergiss es», sagt er leise.

  «Was?»

  «Rae. Vergiss es. Sie ist nicht dein Typ. Und du nicht ihrer.»

  Betont gleichgültig zucke ich mit den Schultern.

  «Außerdem ist sie Havens beste Freundin. Du hast schon das mit Ally verbockt.»

  «Ich will nichts von Rae, wie kommst du überhaupt darauf?»

  Für diese Bemerkung fange ich mir einen skeptischen Blick ein. «Umso besser. Demnächst macht sie sowieso eine längere Tour durch den Jasper National Park – und das war ja eher nichts für dich.» Grinsend zieht er ab, diesmal endgültig.

  In der Küche beginne ich, mit einem feuchten Tuch die Espressomaschine zu säubern. Ich hasse Kalkränder auf dem glänzenden Edelstahl.

  Rae will also durch den Nationalpark wandern? Allein oder zusammen mit Haven?

  Wie auch immer, so hätte ich sie nicht eingeschätzt. Bisher habe ich sie durch und durch für einen Stadtmenschen gehalten.

  Ich versuche, sie mir inmitten des endlosen Waldes vorzustellen, in dem ich vor etwa einem Dreivierteljahr hinter Jackson hergestapft bin, doch es will mir nicht gelingen. Könnte allerdings auch daran liegen, dass ich mich damals schon am ersten Abend gefragt habe, warum ich überhaupt mitgekommen bin. Eine Million Bäume, keinerlei Ablenkung und ein mieses Netz – ich kann nicht behaupten, dass ich wirklich begeistert gewesen wäre.

  Wenn Rae jetzt tatsächlich eine solche Tour plant, brauche ich zumindest fürs Erste nicht weiter über sie nachzudenken.

  Ich hätte mir vorhin nicht vorstellen sollen, wie Rae wohl aussieht, wenn sie jemanden küsst. Wieso ist mir das überhaupt eingefallen? Bei einer Frau, die null mein Typ ist, wie Jackson ganz richtig festgestellt hat?

  Der Lappen landet im Spülbecken, und ich verlasse die Küche, um in meinem Zimmer unterzutauchen, bis alle gegangen sind.

  Zu viele Fragen für einen verkaterten Sonntagmorgen. Die banale Antwort auf alle lautet wahrscheinlich, dass ich noch immer auf der Suche nach einer Emma bin, und weil sechs Drinks mich gestern Abend diese Mission kurz vor dem Ziel abbrechen ließen, kommt wohl auch jemand wie Rae in Frage. Das ist alles.

  6.

  Rae

  Den ganzen Weg nach Hause ärgere ich mich darüber, Jacksons Frühstücksangebot ausgeschlagen zu haben, nur weil Cayden meinte, er würde mitkommen. Keine Ahnung, was mich in dieser Sekunde geritten hat – immerhin haben wir uns Sekunden zuvor in der Küche erstmalig ganz normal unterhalten. Und selbst wenn wir das nicht getan hätten: Haven ist meine Freundin, ich mag Jackson, es wäre nett geworden, und ich hätte Cayden zur Not einfach ignorieren können.

  Warum also habe ich behauptet, ich müsse nach Hause?

  Weil Cayden gestern Nacht so verflucht verloren aussah. Deshalb. Weil er etwas in mir berührt hat, das ich lieber ruhen lassen will, und weil ein banales Gespräch mit ihm in der Küche schwerer zu ertragen ist als jede seiner spöttischen Bemerkungen. Er redet anders, wenn es ihm nicht darum geht, ein Wortgefecht auszutragen. Irgendwie ruhiger. Weicher. Fast hätte ich ihm erzählt, was This is me mir bedeutet, ausgerechnet einem Typen wie Cayden. Dass er mir gar nicht richtig zugehört hat, ist dann mal wieder typisch für ihn gewesen, aber letztlich war es garantiert besser so. Er hätte es ohnehin nicht kapiert.

  Die Gefahr, ihm versehentlich mehr von mir zu zeigen, als ich im Allgemeinen nach außen dringen lasse, wäre bei einem gemeinsamen Frühstück jedenfalls mit Sicherheit nicht gegeben gewesen. Im Beisein von Haven und Jackson hätte er sich so verhalten wie immer, und mir wäre es dadurch vielleicht sogar leichter gefallen, das Bild von letzter Nacht wieder nach hinten zu schieben.

  Egal.

  Letzten Endes spielt es keine Rolle. Und sollte ich jemals wieder in eine vergleichbare Situation kommen, werde ich mich von niemandem davon abhalten lassen, das zu tun, worauf ich Lust habe. Punkt.

  Mit Cayden am Tisch hätte ich allerdings nicht über das Thema gesprochen, das mich gerade am meisten beschäftigt, nämlich wie ich meine Mutter davon überzeugen soll, einer Wanderung allein durch den Jasper National Park zuzustimmen. Und ich weiß jetzt schon, dass ich es nicht schaffen werde, gegen ihren Willen loszuziehen.

  Vielleicht sollte ich d
och erst einmal mit Haven zusammen eine bestimmte Strecke festlegen, eine, die sich in etwa zwei, drei Wochen locker abwandern ließe und bei der ich meiner Mutter zeigen kann, dass ich plane, Abend für Abend einen der öffentlichen Zeltplätze anzusteuern. Und wenn Haven ihr noch bestätigen würde, dass die offiziellen Wanderwege gar nicht so einsam sind, könnte es ja immerhin sein, dass Mum zumindest mal darüber nachdenkt. Jackson meinte sogar, es sei dort geradezu überlaufen. Okay, er sprach von den Athabasca Falls und nicht von einem gewöhnlichen Wanderweg, aber immerhin gibt es überlaufene Plätze im Jasper National Park. Wenn ich ihr dann noch versichere, mich regelmäßig zu melden …

  Allzu optimistisch bin ich trotz dieser Überlegungen nicht, als ich die Stufen zu unserer Veranda hinaufsteige und die Haustür aufschließe. Auf jeden Fall muss ich einen geeigneten Moment abwarten und ihr nicht mit dieser Idee kommen, wenn sie sich gerade mal wieder Sorgen macht. Ob ich warten sollte, bis Dad zwischen zwei Geschäftsreisen mal wieder etwas Zeit findet?

  Doch auf ihn kommt es letztlich nicht an – sollte Mum dagegen sein, ist er es ebenfalls.

  «Hallo, Rae.» Meine Mutter tritt aus der Küche, der ein himmlischer Duft entströmt.

  «Hi.» Die Tür fällt hinter mir ins Schloss, und ich streife die Schuhe von den Füßen. «Brownies?»

  «Brownies, ja. Möchtest du welche? Sie sind aber noch ziemlich warm.»

  «Auf jeden Fall. Wenn sie noch warm sind, schmecken sie nur noch besser.»

  Im Gästebad wasche ich mir die Hände, und als ich danach ins Esszimmer komme, stellt Mum gerade einen Teller schokoladenbestrichener Minikuchen auf den Tisch.

  «Ich wollte noch einen Tee kochen, trinkst du eine Tasse mit?»

  «Ja, klar.»

  Mum blickt zur geöffneten Terrassentür in den Garten hinaus. Das Gras leuchtet hellgrün im strahlenden Sonnenlicht. «Wir könnten uns auch raussetzen.»

  «Wenn du magst.»

  Sie geht an mir vorbei in die Küche, wo ich höre, wie sie den Wasserhahn aufdreht, vermutlich um den Wasserkocher zu füllen. Sekunden später kehrt sie mit einem Lappen wieder und beginnt, den weißen Plastiktisch auf der Terrasse abzuwischen. Während sie noch damit beschäftigt ist, trage ich den Teller mit den Brownies nach draußen.

  Tee. Brownies. Und beides im Garten, Mums Lieblingsplatz. Was willst du mir sagen, blödes Schicksal? Dass bereits jetzt der geeignete Moment gekommen ist? Ich wollte aber doch erst noch einmal mit Haven reden.

  «Du bist früh zurück», ruft meine Mutter, die wieder reingegangen ist. «Hast du überhaupt schon gefrühstückt? Ich habe nicht vor zwölf mit dir gerechnet.»

  «Nur einen Kaffee getrunken», erwidere ich und lasse mich auf einen der Klappstühle mit geblümten Polsterauflagen nieder.

  Als Mum erneut zur Terrassentür hinaustritt, balanciert sie ein Tablett in den Händen, auf dem sich die Teekanne, zwei Tassen, Löffel und ein Zuckerschälchen befinden. «Ich dachte, du wolltest mit Haven und Jackson frühstücken?», fragt sie.

  Ich schiebe den Kuchenteller beiseite, damit sie das Tablett abstellen kann. «Hat sich doch nicht so ergeben.»

  «Wie geht es Haven? Ich musste gestern Abend an sie denken. Im Fernsehen kam eine Dokumentation über den Jasper National Park …»

  Konzentriert schenke ich erst Mum, dann mir selbst heißen Tee ein.

  «… und ich habe mir die ganze Zeit überlegt, wie unglaublich es sein muss, dort aufzuwachsen.»

  Okay, Schicksal. Genug jetzt. Du verarschst mich doch.

  «Wo genau hat Haven gewohnt? In der Nähe des Maligne Lake? Ich glaube, diesen See muss ich auch irgendwann noch einmal besuchen. Er strahlt eine solche Ruhe aus.»

  «Haven hat den See ein paar Mal erwähnt. Ich glaube, allzu weit davon entfernt hat sie nicht gelebt.»

  «Vielleicht sollten wir unseren nächsten Urlaub dorthin planen.»

  Mum sagt das so, als hätten wir in den letzten drei Jahren regelmäßig Urlaub gemacht, und daran, wie plötzlich ein Schatten über ihr Gesicht fällt, kann ich erkennen, dass ihr die Absurdität ihrer Aussage ebenfalls bewusst geworden ist.

  «Irgendwann», fügt sie hinzu.

  «Also … weißt du, das ist ein komischer Zufall», setze ich an, greife mit beiden Händen nach meiner Teetasse und nippe an der noch immer viel zu heißen Flüssigkeit. «Genau so einen Urlaub im Jasper National Park plane ich gerade.» Im nächsten Moment verbrenne ich mir die Zunge, weil ich mich hinter der blöden Tasse verschanze, um Mum nicht ansehen zu müssen. Umsonst. Natürlich starrt sie mir geradewegs ins Gesicht, als ich die Tasse wieder absetze.

  «Wie meinst du das?», fragt sie verwirrt. «Was soll das heißen, du planst einen Urlaub im Jasper National Park?»

  «Na ja, einfach Urlaub. Ich dachte mir, ich sehe mir mal an, wovon Haven immer so schwärmt.»

  «Aber … warum?»

  «Weil wir schon ewig nicht mehr weggefahren sind?»

  «Ich weiß gar nicht, ob Dad in den nächsten Monaten Urlaub nehmen kann …»

  «Nein, ich meine: Ich habe vor, Urlaub zu machen. Allein. Ohne euch.»

  «Ohne uns? Du meinst … du willst mit Haven fahren?»

  Hoffnung klingt in ihrer Stimme mit, aber ihrem Gesicht ist anzusehen, dass sie sich bereits aufs Schlimmste vorbereitet.

  «Ich hatte eigentlich vor, ein paar Tage allein zu wandern.» Ein paar Tage. Ich bin ein elender Feigling. «Vielleicht auch ein wenig länger. Einfach um mal rauszukommen und um nachzudenken und …»

  «Rae, ich finde diese Idee an sich gut, aber – allein? Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?»

  Mum ist so aufgewühlt, dass ihr nicht einmal der Widerspruch in ihrer Aussage auffällt. Eine gute Idee. Eine schlechte Idee. «Völlig allein in einem Wald, ohne jede Erfahrung, was solche Wandertouren angeht, und dann gleich für ein paar Tage? Das ist …» Sie sucht nach Worten und rückt dabei das Tablett akkurat in die Mitte des Tischs. «Wir könnten das doch wirklich zusammen planen. Lass uns Dad fragen, wenn er wieder hier ist.»

  Noch immer halte ich die Tasse vor meiner Brust, wie einen winzigen Schild, mit dem ich Mums zunehmende Verzweiflung von mir fernhalte.

  «Ich würde das wirklich gern allein durchziehen», erwidere ich. «Ich glaube, ich brauche so etwas einfach. Kannst du vielleicht versuchen, das zu verstehen?»

  «Natürlich. Natürlich, ich verstehe dich ja.» Mit beiden Händen streicht Mum jetzt über den Tisch, als läge dort eine Decke, die es glatt zu streichen gilt. «Ich verstehe dich, Rae. Aber ganz allein … dieser Nationalpark liegt nicht gerade um die Ecke. Und er ist wirklich enorm riesig. Und … es gibt Bären dort. Grizzlys und Schwarzbären und auch Pumas und … also, ich weiß nicht», unterbricht sie sich selbst, und jetzt liegt auf ihrem Gesicht der Ausdruck, den ich am meisten fürchte. Sie denkt an Leah. «Es wäre mir lieber, wir würden so etwas als Familie planen.»

  Als Restfamilie, denke ich.

  «Und wenn du lieber nicht mit uns verreisen möchtest, was spricht denn dagegen, zumindest zusammen mit einer Freundin zu wandern? Und vielleicht erst einmal irgendwo hier in der Nähe? An einem Wochenende? Dad oder ich könnten euch fahren und auch wieder abholen, dann müsstet ihr nicht das Gepäck für die Übernachtung mitschleppen …»

  «Mum», sage ich.

  «… und wenn ihr erst einmal etwas Erfahrung habt …»

  «Mum!»

  Meine Mutter atmet einmal tief durch. «Es tut mir leid, Rae. Ich weiß, das ist nicht das, was du dir vorstellst, aber … ich kann das einfach nicht gutheißen. Ich kann es nicht. Ich kann dich auch nicht davon abhalten, aber ich wünschte, du würdest es nicht tun.»

  Langsam setze ich die Tasse ab, ohne sie loszulassen. «Es ist mir wichtig.»

  «Aber wieso? Wieso muss es so etwas sein? Ich weiß, dass du nach etwas suchst, um … um alles zu verarbeiten, Rae, aber … wir könnten deine Therapeutin anrufen und sie fragen, was sie davon hält. Ob sie vielleicht eine andere Idee hat.»

  «Ich bin seit fast einem Jahr nicht mehr bei ihr gewesen.»

  Darauf erwidert Mum nichts, und ich frage mich plötzlich, ob sie dort in den
letzten Monaten hin und wieder angerufen hat, um sich einen Rat zu meinem Verhalten abzuholen.

  «Was, wenn ich dir verspreche, jeden Morgen und jeden Abend anzurufen?»

  «Rae …»

  «Und ich bleibe nur auf den öffentlichen Wegen und übernachte auf den öffentlichen Campingplätzen.»

  «Rae …» Die Stimme meiner Mutter klingt zunehmend gequält.

  «Ich lasse mir einen verdammten Mikrochip einpflanzen, mit dem du mich orten kannst!»

  Mum zuckt zusammen, und ich schließe schuldbewusst die Augen. Kein Grund, sie so anzufahren. Ich weiß doch, worum es hier geht. Sie wird es mir nie erlauben, ganz einfach.

  «Könntest du …» Sie räuspert sich und setzt neu an. «Könntest du nicht vielleicht doch zusammen mit einer Freundin fahren? Oder mit einem Freund? Damit einer von euch Hilfe rufen kann, sollte irgendetwas passieren?»

  In meinem Kopf hämmert es, während ich ihren Blick erwidere. Ich habe keine Freunde mehr, Mum, bis auf Haven und vielleicht Jackson. Und die beiden planen ab übernächster Woche eine vierwöchige Rundreise durch die USA, mit New York und den Niagarafällen und was weiß ich noch alles, und Haven könnte frühestens Anfang Juli mit nach Jasper kommen. Das wären noch über sechs Wochen. So lange wollte ich eigentlich nicht mehr warten. Aber wenn das Mums Bedingung ist …

  «Dann wärst du einverstanden? Wenn ich nicht allein fahren würde?»

  Mum senkt den Blick. Trotzdem kann ich spüren, wie sie mit sich kämpft. Als sie wieder aufsieht, liegt so viel Angst in ihren Augen, dass ich die Lippen zusammenpresse und ihr versprechen möchte, sie niemals zu verlassen. Vielleicht ist es einfach noch zu früh.

  «Dann wäre ich einverstanden», sagt sie.

  Ihre Finger sind eiskalt, als ich nach ihnen greife, aber sie umschließt meine Hand so fest wie ich ihre.

  Cayden

  Obwohl ich mir eigentlich vorgenommen hatte, Sonntagabend noch einmal einen Abstecher ins Knox zu machen, bleibe ich an einer Serie kleben, mit der ich am frühen Nachmittag starte, und als ich irgendwann im Morgengrauen auf dem Sofa einschlafe, habe ich bereits die ersten zwei Staffeln gesehen. Ich werde wach, weil Jackson mich fragt, ob ich auch einen Kaffee will, lehne ab und verziehe mich in mein Zimmer, wo ich einmal mehr durch Jackson geweckt werde, der plötzlich neben meinem Bett steht.

 

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