002 - Free like the Wind

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by Kira Mohn


  Es gibt hier ein Restaurant, doch ich schätze, ich muss Rae erst gar nicht fragen, ob sie dort etwas essen will.

  Sie ist vor einer Informationstafel stehen geblieben und dreht sich jetzt zu mir um. «Wir könnten diesen Weg zurück nehmen, schau mal.» Sie weist auf eine gestrichelte Linie. «Der ist vielleicht nicht ganz so überlaufen.»

  Ich hätte nichts dagegen, mir die Schlucht noch einmal aus der anderen Richtung kommend anzusehen, zucke jedoch nur mit den Schultern. «Okay.» Letztlich ist es egal.

  Schweigend laufen wir nebeneinander den Pfad entlang, den Rae ausgewählt hat, bis wir Menschen und Autos und Restaurants hinter uns zurückgelassen haben. Die Atmosphäre ist eine andere als vorhin, und ich frage mich, was in Raes Kopf vorgeht. Denkt sie gerade an Leah? An all die Dinge, die sie nicht mehr zusammen unternehmen können?

  Ohne anzuhalten, lässt sie ihren Rucksack von den Schultern gleiten, muss dann jedoch stehen bleiben, um etwas daraus hervorzuholen. Cracker.

  «Möchtest du auch welche?»

  «Wollen wir uns irgendwo hinsetzen und was essen?»

  «Ich würde eigentlich lieber weitergehen.»

  Sie wartet meine Antwort nicht ab, schnürt den Rucksack zu, schwingt ihn sich wieder auf den Rücken und marschiert los, die Crackerschachtel in der Hand.

  «Rae?»

  Sie sieht mich an, und in ihrem Blick liegt ein deutliches Wag es bloß nicht. «Was?»

  «Egal. Nicht wichtig.»

  Sie hat ja recht. Warum sollte sie mit mir über ihre Schwester sprechen wollen? Ausgerechnet mit mir? Wir sind nicht mal so was wie Freunde.

  «Welche Tütensuppe machen wir uns später?» Sie lächelt, während sie mich das fragt, doch in ihren Augen ist immer noch Schmerz zu erkennen.

  Einen Moment lang möchte ich sie an den Schultern packen. Echt jetzt? Du bringst das Gespräch auf bescheuerte Tütensuppen, um nicht über deine Schwester reden zu müssen?

  Dann verfliegt dieser Impuls.

  Ist ja nicht so, dass ich sie nicht verstehen würde.

  13.

  Rae

  Am Abend unseres zweiten Tages auf dem Wapiti Campground gibt es Reis à la Thai und am nächsten Morgen leider keine Timbits, sondern Haferflocken mit angerührtem Milchpulver und Instantkaffee. Alles schmeckt in erster Linie deshalb, weil Cayden und ich dabei auf den Athabasca River blicken können. Nach nur zwei Tagen fühle ich mich bereits, als sei ich irgendwie angekommen, doch als ich das unvorsichtigerweise Cayden während unseres Ausflugs zum Valley of the Five Lakes erzähle, lacht er nur. Selbst schuld. Egal wie anders ich mich hier fühle, Cayden ist immer noch der Alte.

  In den nächsten Minuten laufen wir schweigend vor uns hin. Wir haben gerade einen der Holzstege betreten, die angelegt wurden, um Wanderer sicher über die halbüberschwemmte Moorlandschaft zu führen, in der wir uns gerade bewegen, als Cayden das Thema noch einmal aufgreift. Ein Stimmungswechsel entgeht ihm erstaunlicherweise nur selten.

  «Okay, erklär mir, was du mit angekommen meinst.»

  «Das lässt sich nicht erklären.»

  «Wieso nicht? Irgendwas muss das doch auslösen. Du hast dein ganzes bisheriges Leben in Städten verbracht und …»

  «In nur zwei Städten», betone ich, weil Caydens Worte irgendwie nach Weltreise klingen.

  «… und dann läufst du einen Tag lang in einem Wald herum und sagst, du würdest dich fühlen, als seiest du angekommen.»

  «Ich hab schon mal versucht, dir das zu erklären, du hörst nicht zu.»

  «Wann hast du das versucht?»

  «An unserem ersten Tag hier.»

  «Vorgestern? Du meinst das mit dem anders Atmen und so und dass du hier so sein kannst, wie du bist?»

  Ich nicke nur. So wie Cayden es ausspricht, klingt es irgendwie nach naivem Selbsterfahrungstrip, und das gefällt mir nicht.

  «Wieso kannst du nicht in Edmonton die sein, die du bist?»

  «Weil … man sich dort immer irgendwie auf andere Menschen einstellen muss.» Diese Antwort wird Cayden kaum zufriedenstellen. Unwahrscheinlich, dass er es für nötig hält, sich auf jemanden einzustellen.

  «Auf wen?», fragt er dann auch erwartungsgemäß.

  «Na ja – stellt man sich nicht auf jeden ein wenig ein?»

  «Sollten einen Menschen nicht so nehmen, wie man ist?»

  «Klar, aber man nimmt doch trotzdem Rücksicht, oder nicht?»

  Cayden schweigt. Lange. Wir erreichen den ersten der fünf Seen, als er doch noch antwortet.

  «Ich nicht», stellt er klar. «Ich bin der, der ich bin. Wenn du das rücksichtslos nennst, bin ich eben rücksichtslos.»

  «Du tust und sagst also immer genau das, was du tun und sagen willst.»

  «Yep.»

  «Okay, was war dann das bei meiner Mutter? Da warst du ja wohl nicht der, der du normalerweise bist.»

  «Wieso nicht?»

  «Du warst nett. Geradezu unglaublich nett.»

  Cayden rollt genervt mit den Augen. «Erstens: Ich kann durchaus nett sein. Wieso tust du immer so, als sei ich im Normalzustand eine Art Superschurke? Und zweitens: Bei deiner Mutter wollte ich so sein. Ich wollte, dass sie ein gutes Gefühl hat, was mich betrifft, damit du diese ganze Geschichte hier überhaupt machen kannst. Aber ich bin nie so, wie ich gar nicht sein will.»

  Jetzt bin ich es, die nachdenklich neben Cayden hermarschiert. Seine Worte beschäftigen mich so sehr, dass ich mich nicht einmal mehr auf die Umgebung konzentrieren kann.

  Ich bin selten die, die ich wirklich bin, fürchte ich. Meinen Eltern gegenüber bin ich die Rae, die halbwegs klarkommt, abgesehen von der Tatsache, dass ich es zu nicht mehr als zu einem unspektakulären Job im Kino gebracht habe. Die selbstbewusste Rae, die widerstandsfähige Rae, die, die sich nur für ein paar Wochen in ihr Bett verkrochen hat, bevor sie ihr Leben wieder aufnahm.

  Haven gegenüber bin ich die umgängliche Rae, die ihre Freundin unterstützt, wenn die mal wieder nicht mitbekommt, dass Leute wie Cayden sich über sie lustig machen, und mit der sie über alles reden kann, was sie beschäftigt. Umgekehrt bin ich allerdings nicht ganz so offen.

  Und Leute wie Jackson oder Maverick und Philippe sind gar nicht erst nah genug an mir dran. Für die bin ich nur die Freundin von Jacksons Freundin oder eben eine zuverlässige Mitarbeiterin.

  Aber wer bin ich überhaupt wirklich? Das sind doch alles nur Teile von mir. Noch vor ein paar Tagen hätte ich behauptet, ich sei einfach die, die alle in mir sehen – warum fühle ich mich hier also plötzlich so, als sei ich eine andere?

  Und was ist überhaupt mit Cayden? Bin ich Cayden gegenüber die, die ich bin? Cayden, der angeblich nie so ist, wie er nicht sein möchte?

  «Willst du gar keine Bilder machen?»

  Mit gesenktem Kopf bin ich seit geraumer Zeit den Wanderweg entlanggelaufen, doch jetzt sehe ich auf und taste unmittelbar darauf in meiner Jackentasche nach dem Telefon. Die ersten beiden Seen schimmerten in einer Mischung aus Grün und Blau, der dritte See allerdings leuchtet inmitten seiner grasbewachsenen Ufer wie ein polierter Edelstein. Enten ziehen gemächlich ihre Runden, und wenn sie kopfüber eintauchen, kann man sie im kristallklaren Wasser auf der Suche nach Nahrung umherschwimmen sehen. Das sonnenbeschienene Dunkelblau des vierten Sees kurz darauf lässt ihn sehr viel tiefer als die drei anderen Seen wirken, und als wir schließlich den fünften See erreichen, macht Cayden mich auf zwei Ruderboote aufmerksam, die am Ufer dümpeln.

  «Ob wir uns eines davon mal ausleihen dürfen?»

  Im Gegensatz zu gestern sind uns heute nur wenige Wanderer begegnet, und in diesem Moment sind wir sogar ganz allein. Bei den Booten angekommen, müssen wir feststellen, dass sie angekettet sind.

  «Kann man wahrscheinlich bei irgendjemandem mieten.» Cayden streckt den Rücken durch, dann hält er plötzlich in der Bewegung inne. «Schau mal dort drüben.»

  Ein Elch ist auf der gegenüberliegenden Seite zwischen den hohen Bäumen am Ufer hervorgetreten. Aufmerksam sieht er sich um, dann geht er einige Schritte ins Wasser hinein und beginnt zu trinken.

  Vor lauter Anspannung fällt mir mein Smartphone
ins Gras, und eine Schrecksekunde lang befürchte ich, das Tier durch die plötzliche Bewegung zu verjagen. Doch ohne von uns Notiz zu nehmen, richtet der Elch sich wieder auf, schlurft ein kleines Stück weiter und senkt erneut den Hals.

  Ich zoome ihn so nah heran wie möglich, und als er ein zweites Mal aufsieht, gelingt mir ein Bild, auf dem jeder Wassertropfen zu erkennen ist, der von seiner überhängenden Oberlippe fällt.

  Zu meinem Erstaunen hält Cayden ebenfalls sein Smartphone in der Hand. «Für Jackson», erklärt er, als er meinen Blick bemerkt.

  «Sehr niedlich, dass dein erstes Foto ein trinkender Elch ist», bemerke ich grinsend.

  Eine Weile noch beobachten wir den Elch, bis das Tier sich schließlich umdreht und wieder im Wald verschwindet. Ich kann verstehen, warum sogar Cayden das Bedürfnis hatte, diesen Moment festzuhalten. Obwohl ich Elche natürlich von Bildern her kenne und obwohl man sie in einem Zoo aus größerer Nähe beobachten kann, ist es etwas völlig anderes, hier zu stehen und dabei zuzusehen, wie selbstverständlich er sich bewegt, in seiner Welt, in die er einfach hineingehört.

  Im Gegensatz zu mir.

  Was habe ich Cayden vorhin erzählt? Ich würde mich fühlen, als sei ich angekommen? Er hat gelacht, und eigentlich ist es auch lächerlich, denn im Gegensatz zu diesem Elch bin ich hier nur Gast. Einer, der zum Bärenspray greift, sobald er einen der eigentlichen Waldbewohner hört.

  Aber es stimmt, wenn ich sage, dass ich hier so sein kann, wie ich bin. Abgesehen davon, dass ich nicht wirklich in Worte fassen kann, wie oder wer ich bin. Auf jeden Fall versuche ich nicht, mich auf Cayden einzustellen. Oder? Oder tue ich das schon dadurch, dass ich mir Mühe gebe, mit seinen Sprüchen mitzuhalten?

  Verflucht.

  Elch müsste man sein. Der ist wirklich der, der er ist, und obendrein macht er sich null Gedanken darüber.

  «Ich hab dir doch mal erzählt, ich würde diesen einen Song so gut finden, den aus The Greatest Showman», sage ich plötzlich, weil mir genau das in diesem Moment durch den Kopf schießt.

  «Welchen Song?», gibt Cayden zurück, und falls er sich darüber wundert, wie ich jetzt auf dieses Thema komme, ist ihm selbstverständlich nichts davon anzumerken.

  «This is me.» Langsam gehen wir den Wanderweg weiter, der den fünften See nicht umrundet, sondern zum vierten See zurückführt. «Für mich war der Song immer eine Art … Bestätigung. Dass es in Ordnung ist, so zu sein, wie man ist, selbst wenn man eben so ist wie ich.»

  Das ist toll. Ich teile meine innersten Gedanken mit Cayden, nur weil der gerade neben mir läuft. Vorhin hat er mich deshalb ausgelacht. Ich hätte lieber mit Haven hierherkommen sollen.

  «Wie bist du denn?»

  Cayden wiederholt seine Frage nicht, als ich nicht antworte. Während wir auf der anderen Seite des vierten Sees zurück zu unserem Ausgangspunkt laufen, denke ich darüber nach.

  Wie bin ich denn? Wenn ich das wüsste. Früher hätte ich das beantworten können. Als Leah noch da war. Jetzt ist sie fort, und etwas hat sie von mir mitgenommen, und ohne dieses fehlende Teil kann ich nie wieder die sein, die ich bin. Oder zumindest nicht mehr die, die ich war.

  Ich will aber unbedingt wieder so sein.

  «Du solltest darüber reden.»

  «Was?»

  «Du solltest über deine Schwester reden.»

  «Mit wem? Mit dir?» Ich lache auf. «Lass mal.»

  Cayden mustert mich, und wüsste ich in diesem Moment nicht, dass er absolut in der Lage ist, sich auf jeden einzustellen, wenn er es gerade will, würde ich es vielleicht sogar tun. Einfach losreden, irgendwo anfangen, ohne jede Ahnung, wo genau das enden würde. Denn in seinem Gesicht steht das Verständnis geschrieben, das auch schon meine Mutter dazu gebracht hat, ihm gegenüber Leah zu erwähnen.

  Worüber ich jetzt wütend werde, weiß ich selbst nicht so genau. Vielleicht auf Mum, die auf Cayden reingefallen ist, vielleicht auf Cayden, weil er diese Kilgrave-Nummer jetzt bei mir abzieht. Vielleicht auf mich selbst, weil ich es nicht geschafft habe, dieses positive Gefühl festzuhalten, das ich seit dem ersten Tag im Jasper National Park hatte. Ganz kurz schien es, als würde sich hier so vieles einfach in Wohlgefallen auflösen, als könne ich wieder frei sein … aber es war eine Täuschung. Und ich bekomme nicht einmal zu fassen, warum eigentlich. Denn es hat sich doch zuerst so angefühlt, verdammt!

  Den ganzen Rückweg über begleitet uns ein unangenehmes Schweigen, doch keiner von uns ist in der Stimmung, etwas dagegen zu tun. Als wir den Campingplatz erreichen, würde ich am liebsten einfach in meinem Zelt verschwinden, wenn ich nicht Hunger hätte. Wir waren fast sechs Stunden unterwegs, die Haferflocken liegen eine ganze Weile zurück, und die beiden Energieriegel, die jeder von uns eingepackt hatte, ersetzen auch nicht wirklich eine Mahlzeit.

  Mir ist es ganz recht, mich jetzt für einen Moment dieser unbehaglichen Stimmung zwischen Cayden und mir zu entziehen, auch wenn ich weiß, dass ich das nur für eine begrenzte Zeit tun kann. Vielleicht reicht eine kurze Unterbrechung ja schon. Mit einer dahingemurmelten Bemerkung in Richtung Cayden, der sich ans Flussufer gesetzt hat, mache ich mich auf den Weg zu den Bärenlockern, um mir dort zu überlegen, was ich kochen will. Die Auswahl ist nicht gerade riesig. Linsen, verfeinert mit Tütensuppenaroma? Es gäbe auch Kartoffelpüreepulver. Beides hätte ich vermutlich auch beim Reis und den Nudeln in Caydens Rucksack lassen können, denn es riecht nach nichts und stachelt meinen Appetit nicht gerade an.

  Ich sehe vom Locker auf, als ich Schritte höre.

  «Hi.» Steven, der Typ vom Check-in-Häuschen, der netterweise unsere Smartphones wieder auflädt.

  «Hi», erwidere ich, greife nach den Linsen und irgendeiner Tütensuppe und schließe den Locker wieder.

  «Und, wie gefällt es euch bisher?» Steven ist stehen geblieben, offensichtlich zu einem Gespräch aufgelegt.

  «Gut.» Drei sparsame Buchstaben statt atemberaubend oder unfassbar schön – das wird allem, was ich seit Freitag hier gesehen habe, nicht gerecht, und deshalb füge ich hinzu: «Es ist wirklich großartig.» Großartig. Warum nicht gleich Es ist toll oder Wirklich super? Irgendwie finde ich selten die passenden Worte für meine Gefühle.

  «Hör mal, was mir gerade einfällt – ich hab vorgestern gesehen, dass ihr mitten aus dem Wald gekommen seid. Ihr solltet besser auf den offiziellen Wegen bleiben. Querfeldeingehen ist nicht erlaubt, weißt du?»

  «Ich dachte, das seien offizielle Wege – es gibt da eine App, die …»

  «Ah, diese App.» Steven knurrt es fast. «Ich weiß, wer die gemacht hat, und halb Jasper regt sich darüber auf – hoffentlich wird die bald gelöscht. Die Leute marschieren mitten durch Bärengebiete und kriegen es nicht mit, weil es dort keine Warntafeln oder Absperrungen gibt. Ich würde euch wirklich raten, die App nicht zu benutzen. Gerade jetzt im Frühling nicht.»

  Mein Lächeln fällt mit Sicherheit schuldbewusst aus, und ich fühle mich wie die leichtsinnige Städterin, die ich in Stevens Augen garantiert bin. «Okay. Sorry.»

  «Schon okay, konntet ihr ja nicht wissen», sagt Steven in einem Ton, aus dem ich ein nachsichtiges Ihr armen Trottel heraushöre.

  «In den nächsten Tagen soll es übrigens einen Wetterumschwung geben, ich hoffe, ihr habt dafür passende Kleidung dabei.»

  «Ja, klar.» Denke ich zumindest. Was heißt Wetterumschwung? Seit unserer Ankunft hier war es angenehm warm, beim Wandern sind wir so ins Schwitzen gekommen, dass wir uns die Jacken häufig nur umgebunden haben. Ich will Steven jetzt nicht danach fragen, er hält mich ohnehin schon für unerfahren genug. Die Wettervorhersage werde ich mir gleich einmal genauer ansehen, wenn ich wieder beim Zelt bin.

  «Okay, dann – viel Spaß noch.» Steven nickt mir noch einmal zu, dann geht er weiter.

  «Danke», murmele ich. Bären und Wetterumschwünge. Ein paar Sekunden lang denke ich noch darüber nach, dann mache ich mich auf den Weg zurück zu unserem Platz. Wenn ich bereits beim Gedanken an nicht ganz so optimale Bedingungen für eine Wandertour die Panik kriege, wäre ich wohl besser zu Hause geblieben.

  Von Cayden ist nichts zu sehen, als ich unsere Feuerstelle erre
iche.

  «Cayden?»

  Der Eingang zu seinem Zelt ist verschlossen, doch ich erhalte keine Antwort. Ich überlege nur kurz, bevor ich ein kleines Stück des Reißverschlusses aufziehe und einen Blick auf einen leeren Schlafsack und Caydens Rucksack werfe. Der zumindest ist also noch da. Ich ziehe den Reißverschluss wieder zu. Wo auch immer Cayden hingegangen ist, sicher wird er gleich zurückkommen. Wahrscheinlich ist er nur bei den Toiletten.

  Was jetzt? Unschlüssig sehe ich mich um. Ob ich schon einmal aus den Linsen und dem Kartoffelpüree ein Abendessen kochen soll? Dummerweise habe ich nicht wirklich aufgepasst, als Cayden an den letzten beiden Abenden den Kocher benutzt hat, doch so kompliziert wird die Handhabung dieses Dings nicht sein.

  Ich setze mich auf den Stein, auf dem vorhin noch Cayden saß, ziehe mein Smartphone hervor und öffne die Wetter-App. Zwanzig Grad, einundzwanzig Grad, noch mal einundzwanzig Grad und am Mittwoch dann plötzlich nur noch zwölf. Okay, das ist ein Unterschied. Aber wenn ich das richtig sehe, hält es nur zwei Tage an, dann steigen die Temperaturen schon wieder. Sollte auszuhalten sein. Die angezeigte Windgeschwindigkeit beeindruckt mich schon eher. Eigentlich wollte ich Cayden vorschlagen, morgen den nächsten Campingplatz anzusteuern, doch unter diesen Umständen warten wir vielleicht lieber noch ein paar Tage – ich könnte mir vorstellen, dass wir bei diesen Temperaturen für die halbwegs warmen Duschen dankbar sein werden.

  Bevor ich das Telefon wieder einpacke, schreibe ich Mum eine Nachricht, dann stehe ich auf und sehe mich um. Noch immer keine Spur von Cayden. Ob ich mir den Kocher holen darf? Es widerstrebt mir, einfach sein Zelt zu betreten, aber ich habe das Teil direkt neben seinem Rucksack stehen sehen.

  Es wird schon in Ordnung sein.

  Ohne einen genaueren Blick auf die herumliegenden anderen Sachen zu werfen, greife ich nach dem Kocher und dem Brennstoff, der beim Zurückrobben mit einem leisen Klirren gegen Glas stößt. Halb vergraben unter einem Handtuch ragt der Hals einer Ginflasche hervor. Sie ist noch fast voll, trotzdem habe ich ein unbehagliches Gefühl, während ich sie jetzt aufhebe. Ein Gedanke drängt in meinem Kopf nach vorn, noch bekomme ich ihn nicht zu greifen, doch er hat etwas mit dem Gin zu tun … eine Erinnerung …

 

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