by Kira Mohn
Was Cayden bei mir erreichen will, dürfte wohl klar sein. So viele Wahlmöglichkeiten hat er ja derzeit nicht. Er ist ein Aufreißer – vielleicht will er einfach nicht aus der Übung kommen?
Wieder muss ich an letzte Nacht denken, an diesen Moment, in dem er meine Hand in seine nahm.
Vielleicht gehört das alles dazu? Vielleicht hat er einfach die Gelegenheit genutzt? Und selbst wenn er alles völlig ernst meinen würde – erstens bedeutet das noch lange nicht, dass er tatsächlich mehr von mir will, und zweitens muss ich ja nichts von ihm wollen, nur weil er das will.
Fast hätte ich jetzt laut geseufzt.
Ich habe das Gefühl, meine Gedanken verknoten sich.
Cayden hat damit begonnen, Porridge zu kochen. Wir haben es schon gestern mangels frischen Obsts mit Rosinen gegessen, und ich finde es gar nicht mal unlecker. Um nicht weiter sinnlos herumzustehen, hole ich meine Isomatte und unsere Schüsseln, und kurz nachdem Cayden den Brei verteilt hat, fragt er: «Wollen wir uns heute den Wabasso Campground ansehen? Dann könnten wir entscheiden, ob wir den als Nächstes ansteuern.»
«Gute Idee.»
«Es gibt dort aber keine Duschen», ruft mir Cayden in Erinnerung.
«Macht nichts. Hier ist das Wasser auch häufiger kalt.»
«Okay. Echte Wanderer müssen ohnehin irgendwann stinken.»
«Was?»
Er zuckt mit den Schultern. «Hat mal einer in einer Dokumentation gesagt. Da ging es um den Appalachian Trail. Fernwanderweg, über dreitausend Meilen. Den könnten wir eigentlich als Nächstes in Angriff nehmen.»
«Bin dabei, lass uns gleich loslaufen. Aber ich werde nicht stinken.»
«Nicht?» Ein Cayden-Grinsen. «Wie willst du das bei einer Wanderung verhindern, bei der man nur alle paar Wochen mal eine Möglichkeit zum Duschen hat?»
«Es wird da ja wohl hin und wieder Flüsse geben. Oder irgendwelche Hütten mit fließendem Wasser.»
«Hütten mit fließendem Wasser mitten in der Wildnis?» Cayden kratzt seine Schüssel leer. «Glaub ich nicht.»
«Zumindest auf dem Wabasso Campingplatz gibt es irgendwo Waschbecken», sage ich. «Und für den Appalachian Trail lasse ich mir bis morgen etwas einfallen.»
«Man braucht Monate, um den abzuwandern – die einzige Option, die ich da sehe, ist, sich vorher sämtliche Schweißdrüsen entfernen zu lassen.»
«Igitt.» Ich stehe auf und nehme Cayden die Schüssel aus der Hand. «In zehn Minuten bin ich wieder da, dann können wir los. Genug Zeit, um noch mal ein Deo zu nutzen, falls du vorsorgen willst.»
«So spricht eine echte Fernwanderin», erwidert Cayden. «Lässt lieber ein paar Mahlzeiten ausfallen, damit im Rucksack genügend Platz für Deo bleibt.»
«Genau. Und sollte irgendwann ein Film über uns gedreht werden, wird er Rae und ihr stinkender Freund heißen.»
Cayden, der gerade dabei ist, den Kocher zu säubern, grinst nur.
Als ich mit den sauberen Schüsseln zu unserem Platz zurückkehre, wartet Cayden bereits neben den Rucksäcken, und kurz darauf machen wir uns auf den Weg.
Während der ersten Kilometer folgen wir dem Icefields Parkway, doch wir nutzen schnell die Möglichkeit, auf einen Wanderweg auszuweichen, der nicht die ganze Zeit an der Straße entlangführt. Caydens Schritt hat sich dem meinen angepasst, und ich hänge meinen Gedanken nach, die sich aktuell einzig und allein um den Mann drehen, der neben mir herläuft. Während ich über verknotete Wurzeln steige und das leise Geräusch unserer Schritte auf dem federnden Waldboden einen fast meditativen Charakter annimmt, habe ich wieder diesen Moment vor Augen, in dem Cayden sich heute Morgen über mich gebeugt hat. Er war mir so nah, nicht nur körperlich. Abgesehen von meinen Eltern gibt es niemanden, der so viel über mich weiß. Nicht einmal Haven. Ich habe befürchtet, er und ich würden uns recht schnell trennen, wenn wir erst einmal hier angekommen wären – eigentlich habe ich fast ein bisschen daran gezweifelt, dass er es wirklich durchziehen würde. Aber seit dieser Nacht bei Cayden und Jackson, seit ich ihn gefragt habe, ob er mitkommen würde, hat sich immer mehr zwischen uns verändert. Und jetzt …
«Rae?»
Ich wende mich zu Cayden um und wappne mich. «Was ist?»
«Warum wolltest du diese Wandertour machen?»
«Weil …» Ich mache eine vage Handbewegung, ein letzter automatischer Versuch, Unbeschwertheit vorzutäuschen, den ich mit meinen nächsten Worten direkt selbst wieder zerstöre. «Weil ich Angst hatte, ich könnte durchdrehen. Haven hat mich auf die Idee gebracht, hierherzukommen, und zuerst hielt ich das für verrückt. Ich dachte, sie hat hier gewohnt, ihr ist der Wald auf eine andere Art wichtig als mir, aber dann ist etwas passiert, und danach …» Angestrengt suche ich nach Worten.
«Was ist passiert?»
Genau diese Frage möchte ich eigentlich nicht beantworten. Es ist schrecklich genug, in den Augen anderer die bemitleidenswerte Rae zu sein, die arme, arme Rae … aber möchte ich Rae, das Monster sein? Nein, möchte ich nicht.
Cayden räuspert sich. «Wenn du nicht darüber reden willst …»
«Ich hätte fast jemanden umgebracht.»
Cayden
Ein paar Sekunden lang versuche ich mir einzureden, dass sie diesen Satz im übertragenen Sinne meint, dann gebe ich es auf. Ihr Tonfall macht mehr als deutlich, dass sie es genauso gemeint hat, wie sie es gesagt hat.
«Bist du … ich meine, bist du diesem Typen begegnet, der deine Schwester …»
«Nein, es war jemand ganz anderes. Aber er … er war … er hat … er hat mich angegriffen», beendet sie den Satz schlicht. «Und ich hätte ihm fast den Schädel eingetreten.»
«Aber das hast du nicht getan», erwidere ich genauso schlicht.
«Nein, habe ich nicht», sagt Rae leise. «Aber ich wollte es.»
«Du hast es trotzdem nicht getan.»
«Weil ich mich gerade noch zurückgerissen habe. Aber für einen kurzen Moment habe ich mir wirklich gewünscht …»
«Rae. Du hast es nicht getan. Menschen wünschen sich ständig Dinge, die man besser nicht laut ausspricht.»
«Was wünschst du dir?»
«So einiges.»
«Aber du willst es mir nicht erzählen.» Rae wendet sich von mir ab.
«Na ja, das ist jetzt nicht unüblich bei Dingen, die man nicht besonders gern laut ausspricht.»
Darauf erwidert Rae nichts, und in den nächsten Minuten ringe ich mit mir, bevor ich tief durchatme.
«Ich verstehe mich nicht besonders gut mit meinem Vater.»
So ein simpler, beinahe harmloser Satz. Aber nicht einmal Jackson gegenüber habe ich mich bisher so weit aus dem Fenster gelehnt. Kein Wunder also, dass Rae die Tragweite dieser Aussage nicht mal ansatzweise begreift.
Sie verdreht die Augen. «Cayden, nimm’s mir nicht übel – ich bin sicher, das ist nicht schön, aber es lässt sich nicht wirklich damit vergleichen, dass ich … also dass ich … verflucht, dass ich wirklich einen Augenblick lang gegen den Kopf von diesem Arsch treten wollte, und zwar so fest ich kann, verstehst du? So etwas wünschen sich normale Menschen mit Sicherheit nicht.»
«Mh.»
«Oder hast du dir mal vorgestellt, du würdest deinen Vater umbringen?»
Die Sonnenstrahlen, die vor uns auf den schmalen Pfad fallen, und das unablässige Vogelgezwitscher verleihen unserem Gespräch etwas Surreales. Es wäre passender, sich über unsere Träume zu unterhalten, was wir so erreichen wollen im Leben und welche wunderbaren Pläne wir haben.
«Cayden?»
«Sagen wir es so: Ich habe mir schon häufiger gewünscht, er würde gar nicht existieren.» Obwohl ich stur geradeaus sehe, spüre ich ihren Blick auf mir.
«Du hast es dir also wirklich schon gewünscht.» Rae macht ein seltsames Geräusch, halb Lachen, halb Seufzen. «Vielleicht ist es das, was wir gemeinsam haben. Wir sind verhinderte Killer.»
«Nette Gemeinsamkeit.»
«Jetzt müssen wir nur noch aufpassen, dass wir nicht wie Mallory und Mickey enden.»
«Mallory und Mickey?»
«Natural Born Killers. Der Film? Kennst du den etwa nicht?»
«Doch, klar. Aber ich hab vergessen, wie die Figuren hießen. Wie enden die beiden noch mal?»
«Sie … landen im Gefängnis.»
«Wirklich? Haben sie nicht …»
«Ja, okay, das war nicht das Ende. Den Rest hatte ich vergessen.»
Rae läuft ein wenig schneller, und obwohl die ganze Situation eigentlich alles andere als lustig ist, muss ich grinsen. Wenn ich mich richtig erinnere, leben Mickey und Mallory am Ende des Films in einem Wohnmobil und haben zwei Kinder.
Vielleicht weil es heute kühler ist, trägt Rae ihre Haare offen. Dicht und schwer fallen sie ihr über den Rücken, so leuchtend blau inmitten des uns umgebenden Grüns. Wieso habe ich eigentlich irgendwann mal gedacht, bis auf ihre grüngrauen Augen sei Rae ziemlich durchschnittlich? Ihre alles andere als durchschnittlichen Haare jedenfalls würde ich in dieser Sekunde gern berühren, eine Strähne durch meine Finger gleiten lassen, und sie würde sich lachend umdrehen, um sich zu befreien, und dann …
So etwas in der Art habe ich bereits heute Morgen gedacht, als sie neben mir im Schlafsack lag.
Es sollte mir vielleicht zu denken geben, solche Dinge ständig zu denken. Das hat doch nichts mehr mit Sex zu tun.
Also, natürlich hat es schon etwas mit Sex zu tun, aber wenn ich an … Kaylee gedacht habe oder an Vic oder an irgendeine andere Frau, dann habe ich mir selten vorgestellt, sie zu küssen, sondern eher …
«Guck mal!»
Rae bleibt so abrupt stehen, und ich bin derart in meine Gedanken vertieft, dass ich fast in sie hineinlaufe.
«Was denn?»
«Da vorn. Siehst du?» Sie spricht leise und zeigt in eine Richtung, in der zwischen den Bäumen ein Tier mit Geweih aufmerksam zu uns hinüberschaut.
«Ein Wapiti, oder?», flüstert Rae. «Oh. Oh, guck!» Sie greift nach meinem Arm.
Ein zweites Tier tritt aus dem Unterholz, kleiner als das erste, ein Weibchen, würde ich tippen. Wie auch der Wapitibulle blickt es in unsere Richtung. Dann senkt der Bulle den Kopf, als würde er seiner Gefährtin etwas zuflüstern, und Augenblicke später sind sie wieder im Gehölz verschwunden.
Rae dreht sich zu mir um, ein glückliches Lächeln im Gesicht.
Und ich beuge mich vor und küsse sie.
Zu viele widersprüchliche Gedanken in meinem Kopf. In der Sekunde, in der meine Lippen auf ihre treffen, sehe ich, wie ihre Augen sich weiten, doch sie weicht nicht zurück, sondern erwidert den sanften Druck.
Was tue ich denn? Verflucht.
Ihre Lippen sind weich, nachgiebig, und ich schließe die Augen. Nur kurz. Nur ganz kurz will ich denken, dass es in Ordnung ist, will ich spüren, wie zart es sich anfühlt, wie vorsichtig dieser Kuss ist, anders als andere Küsse.
Es ist Rae, die ihn unterbricht, die den Kopf ein wenig senkt und ihre Stirn gegen meine Schulter lehnt. Sie schaut nach unten, sieht mich nicht an. «Cayden … wenn du jetzt gerade Kilgrave bist, werde ich dich hassen.»
Bin ich nicht. Oder? Bin ich doch nicht.
Ich umfasse ihr Gesicht mit beiden Händen, und sie sieht auf.
Der zweite Kuss ist weniger behutsam, weniger zurückhaltend. Als Raes Hände unter mein Shirt wandern, öffne ich leicht meinen Mund, taste mich vor und erschauere, weil sie mir über die Hüften streicht und sanft meinen Rücken hinaufgleitet.
Diesmal gelingt es mir beinahe, jeden Zweifel zurückzudrängen, jedes drohende Gefühl von Gefahr, und dennoch bin ich es, der den Kuss unterbricht, gerade weil ich ihn nicht unterbrechen möchte.
Rae sieht mich an, versucht in meinem Gesicht zu lesen, und es würde mich sehr überraschen, sollte sie das, was in mir gerade vorgeht, tatsächlich darin entdecken. Falls sie es tut, könnte sie es mir ja verraten, denn ich habe keine Ahnung.
Wie sie so vor mir steht, mit diesem fragenden Ausdruck in ihren Augen, möchte ich ihr versichern, dass das gerade völlig okay war, und gleichzeitig ist mir danach, irgendeinen lockeren Spruch abzulassen, der unseren Kuss ins Lächerliche zieht. Es kostet mich einiges, mir die blöde Bemerkung, die mir bereits auf den Lippen liegt, zu verkneifen.
Ich möchte Rae noch einmal küssen.
Nein. Das geht auch nicht.
Möchte Daddy’s little boy lieber weglaufen?
Ganz kurz wird mir übel, und ich habe das Gefühl zu schwanken.
«Cayden?» Eine Berührung an meiner Hand. Rae, in deren Blick jetzt Sorge steht. «Alles okay?»
Nur weil Rae vorsichtig darüberstreicht, wird mir bewusst, dass ich die Hände zu Fäusten geballt habe, so fest, dass es fast schmerzt, sie wieder zu lösen.
«Alles okay», bringe ich endlich hervor und klinge sogar völlig normal dabei. «Mir war gerade nur etwas schwindelig.» Um ein Haar füge ich irgendwas in Richtung die Hitze hinzu, eine Bemerkung, die ausgerechnet heute, am kältesten Tag, seit wir hier angekommen sind, einigermaßen blöd wäre.
«War das etwa dein erster Kuss?», scherzt Rae und bringt mich dadurch zum Grinsen.
«So schrecklich, ja?», gehe ich auf ihr Geplänkel ein und erstarre, als Rae mir plötzlich über die Wange streicht, langsam die Fingerspitzen über meinen Hals gleiten lässt und ihre Hand schließlich in meinen Nacken legt.
«Nein, nicht wirklich …», beginnt sie und zieht mich ein Stück zu sich, «… nicht wirklich schrecklich.»
Die letzten Worte flüstert sie gegen meinen Mund, bevor sie mit der Zunge zart über meine Unterlippe gleitet, nur ganz kurz, und es erschüttert mich, dass diese Berührung schon ausreicht, um nicht nur meine seltsame Starre zu überwinden, sondern auch um das Gefühl zurückzudrängen, dass es keine gute Idee gewesen ist, Rae zu küssen. Ich sollte aufhören, doch diesmal schaffe ich es nicht.
Rae tritt einen Schritt zurück. «Okay, lass uns gucken gehen, wo wir es demnächst ohne Duschen aushalten müssen.» Ein wenig zaghaft verschränkt sie ihre Finger mit meinen.
Irgendwas an Rae lässt mich von meinem gewohnten Fahrplan abweichen, trotz der Stimme in meinem Kopf, die mir zuflüstert, Frauen seien ein netter Zeitvertreib, aber sie sollten niemals mehr sein als das.
Mein Vater hat meine Mutter geheiratet, weil es Zeit spart, wie er mir mal erklärt hat. Er habe Besseres zu tun, als sich um wechselnde Liebschaften zu bemühen. Meine Mutter stand ihm als Ehefrau zur Verfügung – sowohl als attraktive, gesellschaftliche Begleitung als auch im Bett. Und davon abgesehen, wollte er mich. Einen Sohn. Hätte sich stattdessen ein Mädchen angekündigt, ich bin sicher, mein Vater hätte meine Mutter zu einer Abtreibung gezwungen.
Er hat ziemlich viel dafür getan, um mich zu dem Menschen zu machen, der ich heute bin, und es spielte niemals eine Rolle, ob mir dieser Mensch gefiel oder nicht.
Jetzt und hier laufe ich neben Rae und will mehr von ihr, als sie nur flachzulegen, doch je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer werde ich, dass ich es nicht zulassen kann. Nicht weil ich tatsächlich denken würde, Rae sei es nicht wert – fuck you, Dad –, ich bin es nicht wert.
Fick dich gleich noch mal, du Arsch, weil du mir deine gönnerhafte Verachtung allem und jedem gegenüber eingepflanzt hast, einschließlich gegenüber mir selbst.
Ich bin jemand, mit dem man hervorragend Spaß haben kann, solange man sich nicht emotional reinhängt, zu mehr bin ich nicht in der Lage. Früher oder später würde ich Rae verletzen.
Notbremse.
Kurz drücke ich ihre Finger, bevor ich loslasse und meine Rucksackträger lockere, und sie wirft mir zwar einen Blick zu, als ich ihre Hand nicht wieder ergreife, sagt jedoch nichts.
Ich hätte sie nicht küssen dürfen, ich Idiot.
16.
Rae
Als wir den Wabasso Campground erreichen, habe ich noch immer keine Antwort auf die Frage gefunden, was genau das jetzt gerade gewesen ist.
Er hat mich geküsst, und eine Sekunde lang war ich vollkommen überrumpelt. Dann war es, als müsse es geschehen, als hätte ich schon Ewigkeiten darauf gewartet – und jetzt verhält er sich seit geraumer Zeit so, als sei überhaupt nichts passiert.
Hallo?
Ich weiß, dass die Arschlöcher unter den Typen mitunter so tun, als könnten sie sich nicht m
ehr an dich erinnern, nachdem sie dich abgeschleppt haben, aber doch nicht schon nach dem allerersten Kuss!
Caydens plötzlicher Gedächtnisverlust erstreckt sich immerhin nicht auf meine Person als Ganzes, doch das, was vor einer Stunde zwischen uns geschehen ist, scheint keine Rolle mehr zu spielen. Seit wir einen älteren Mann namens Aaron in einem blassgrünen Kassenhäuschen gefragt haben, ob wir uns ein wenig umsehen dürfen, hat er ein paar Kommentare zum Campingplatz abgelassen und dass ich nichts darauf erwidert habe, einfach ignoriert. Aaron meinte, ähnlich wie Steven, zwei kleine Zelte bekäme er immer irgendwo untergebracht, und auch hier hätten wir die Möglichkeit, in der Nähe des Flusses ein Lager aufzuschlagen.
Es gibt ein Toilettenhaus, in dem sich recht sauber aussehende metallene Kabinen und Waschbecken befinden, und ansonsten die gleichen Picknicktische und -bänke neben den Feuerstellen wie beim Wapiti Campground auch.
«Hier hat Jackson letztes Jahr gecampt», teilt Cayden mir mit. «Irgendwo im Umkreis von etwa einer Stunde steht das Haus, in dem Havens Vater wohnt.»
Haven. Ich möchte Haven anrufen und ihr alles erzählen, was in den letzten Tagen passiert ist, mit einem besonderen Schwerpunkt auf der letzten Stunde. Was würde sie mir raten? Stünde Cayden in diesem Moment nicht neben mir und würde sich Haven nicht gerade auf ihrem Trip mit Jackson irgendwo in der Nähe der Niagarafälle befinden, ich würde wohl sofort zum Handy greifen.
«Und, was sagst du?» Cayden, der gerade noch am Flussufer auf die Wellen des Athabasca River gesehen hat, dreht sich zu mir um.
«Ist okay», erwidere ich statt: Was genau ziehst du hier eigentlich ab? Erst muss ich meine Verwirrung ansatzweise sortiert kriegen. Und selbst danach werde ich mir genau überlegen, ob ich mir die Blöße gebe, einem Typen wie Cayden zu verraten, dass ich mich gerade total bescheuert fühle.
Auf dem Rückweg allerdings setzt sich mehr und mehr etwas in mir durch, das ich wohl am ehesten Enttäuschung nennen würde, und als Cayden sich zum wiederholten Mal nach mir umdreht, weil ich immer langsamer werde, platzt es irgendwann aus mir heraus.
«Was? Du musst nicht auf mich warten! Geh doch einfach schon mal vor!»