Silver Crown - Forbidden Royals (German Edition)

Home > Other > Silver Crown - Forbidden Royals (German Edition) > Page 21
Silver Crown - Forbidden Royals (German Edition) Page 21

by Johnson, Julie


  Stattdessen führte er mich durch den Flur zu einem riesigen Wandteppich, auf dem sich das Wappen der Lancasters mit dem doppelköpfigen Löwen befand. Er zog einen kunstvoll verzierten Schlüssel aus seiner Tasche, schob den dicken Stoff beiseite und schloss eine schmale Tür auf, von der ich bis dahin nicht mal gewusst hatte, dass sie existierte.

  Glaub mir , sagte er und hielt mir seine Hand hin. Das ist es wert.

  Mit großen Augen legte ich meine Hand in seinen starken, warmen Griff und folgte ihm den düsteren, mit Spinnweben verhangenen Gang hinunter. Wir gingen durch eine weitere Tür, die zu einer stockdunklen Wendeltreppe führte, deren Stufen nach Hunderten von Jahren ganz glatt und ausgetreten waren. Wir stiegen immer höher hinauf. Nur das Licht von Aldens Handy erhellte unseren Weg. Schließlich erreichten wir die Spitze des höchsten Turms des Waterford-Palasts.

  Um ehrlich zu sein, hatte ich nach dreihundert Stufen so langsam Zweifel daran bekommen, dass irgendetwas die brennenden Schmerzen in meinen Oberschenkeln wert sein könnte … Doch sobald wir durch die massive Holztür auf den kleinen runden Turm hinausgetreten waren, vergaß ich meine strapazierten Muskeln auf der Stelle.

  Die Aussicht ist wirklich unglaublich.

  »Ich wusste nicht mal, dass man hier hochkommen kann«, sage ich beeindruckt. »Ich dachte, der Zugang wäre vor Jahren verschlossen worden.«

  »Nicht grundsätzlich. Man hat lediglich versucht … ihn der Öffentlichkeit nicht zugänglich zu machen. Der Turm ist jedenfalls kein Teil der öffentlichen Schlossführung, so viel ist sicher.«

  Ich gehe auf die andere Seite des Turms und behalte den Blick auf den Horizont gerichtet. »Bedeutet das, dass man uns wegen unerlaubten Betretens in den Kerker werfen wird? «

  Er lacht. »Dich? Ganz sicher nicht. Du bist die Prinzessin. Praktisch gehört dir dieser Turm. Mich hingegen …«

  »Keine Sorge. Ich werde meine unermessliche Befehlsgewalt einsetzen, um dich rauszuhauen.«

  »Wie ungeheuer gütig von Ihnen, Eure Königliche Hoheit«, neckt er mich und deutet eine tiefe Verbeugung an, wobei er mit der einen Hand eine perfekt einstudierte Geste vollführt. Seine Bewegungen sind so fließend, dass ich mir das Lächeln nicht verkneifen kann. Es ist ein aufrichtiges Lächeln. Zum ersten Mal seit Wochen.

  Verblüfft stelle ich fest, dass ich tatsächlich Spaß habe. Es tut so gut, mal aus meinem Zimmer rauszukommen und mit einem attraktiven Mann, der ganz und gar nicht kompliziert ist und auch nicht dafür sorgt, dass ich verräterische Gedanken hege oder mein Herz verräterische Gefühle empfindet, auf dem Gipfel der Welt zu stehen. Ich lehne mich gegen den Wind und lasse zu, dass die frische Luft meinen Kopf frei macht. Ich hoffe, dass sie auch die Erinnerung an ein Paar unendlich blaue Augen aus den tiefsten Tiefen meines Gedächtnisses tilgt.

  Nach ein paar Minuten kommt mir ein Gedanke. Ich drehe mich herum und frage: »Wie bist du an einen Schlüssel für den Durchgang gekommen?«

  Und wie bekomme ich einen für mich?

  »Er gehört nicht mir, sondern Henry. Wir kommen ständig hier hoch … Ich meine, wir kamen ständig hier hoch. Es war …« Er bricht mitten im Satz ab, und jeglicher Glanz weicht innerhalb von Sekunden aus seinen Augen.

  »Tut mir leid«, murmle ich. »Ich weiß, dass ihr beide euch nahesteht.«

  In seinen grünbraunen Augen blitzen Emotionen auf, die ich nicht deuten kann. »So ist es. Es ist … recht schwierig gewesen. «

  »Es ist nicht das Gleiche, aber … Vor zwei Jahren habe ich ziemlich plötzlich meine Mutter verloren. Ich konnte mich nicht von ihr verabschieden, weil ich selbst an diesem letzten Tag nicht glauben wollte, dass es tatsächlich passierte. Es konnte nicht sein. Sie konnte einfach nicht sterben.« Ich schlucke den Kloß hinunter, der sich in meinem Hals gebildet hat. »Ich will damit nur sagen, dass ich verstehe, wie schwer es sein kann – das, was du gerade durchmachst. Mir ist schon klar, dass wir einander nicht besonders gut kennen, aber wenn du jemals jemanden zum Reden brauchst …« Ich deute um mich herum. »Mein Turm steht dir immer offen.«

  Sein Lächeln kehrt zurück. Er macht ein paar Schritte auf mich zu und lässt den grünbraunen Blick die ganze Zeit über auf mir ruhen. »Danke, Emilia. Ich werde definitiv auf dein Angebot zurückkommen. Schon bald .«

  Er greift nach meiner Hand. Nach kurzem Zögern lege ich meine Hand in seine. Mein Herz flattert ein wenig, als er unsere Finger miteinander verschränkt. Und es fühlt sich … zweifellos angenehm an.

  Nicht so, als könnte mein Herz in meiner Brust explodieren, weil es ihm nicht gelingt, all meine Empfindungen gleichzeitig in Schach zu halten. Nicht so, als bestünde das Risiko, dass die bloße Nähe zu ihm bei mir einen Schlaganfall auslöst. Nicht so, als würde meine Lunge nicht richtig funktionieren, weil ich in seiner Gegenwart das Atmen vergesse.

  Unaufgeregt.

  Einfach.

  Unkompliziert.

  Ungefährlich.

  »Sollen wir wieder nach unten gehen?«, fragt er. Aus der Nähe betrachtet weisen seine Augen kleine goldene und grüne Flecken auf. Sie sind umwerfend .

  Also warum wünsche ich mir die ganze Zeit über, dass sie blau wären?

  Ich nicke und lächle strahlend. »Klar. Lass uns gehen.«

  Alden verhält sich wie ein mustergültiger Gentleman, während er mich zurück zu meinem Zimmer im Nordflügel begleitet. Wir unterhalten uns ungezwungen und reden über die bevorstehende Krönung. Als wir den großen Salon durchqueren, herrscht um uns herum hektische Aktivität. Mindestens ein Dutzend Hausangestellte stauben die Kronleuchter ab und bohnern die Fußböden.

  »Hier ist schon lange kein Ball mehr abgehalten worden«, murmelt Alden, als wir durch den Durchgang in den Thronsaal gehen. Der Raum erinnert mich an eine Kirche mit Buntglasfenstern, wo immer eine düster-feierliche Atmosphäre herrscht. »Nicht seit der Feier, die König Leopold und Königin Abigail zu Henrys Geburt veranstaltet haben.«

  »Da musst du noch sehr jung gewesen sein.«

  »Gerade dem Kleinkindalter entwachsen.« Er grinst kurz. »Ich erinnere mich nicht an viel. Ava war damals noch nicht mal geboren. Und du auch nicht, wenn ich so darüber nachdenke.«

  »Ist das normal? Dass so wenige Bälle abgehalten werden?«

  »König Leopold hielt nicht viel von ausschweifenden Gelagen.« Seine Augen nehmen wieder einen traurigen Ausdruck an. »Im Gegensatz zu seinem Sohn. Henry liebte Partys. Wenn er gekrönt worden wäre … wäre seine Krönung ein Spektakel geworden, wie Caerleon es noch nicht erlebt hat.«

  Ich schweige, als wir die große Treppe in den ersten Stock hinaufsteigen, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. Wann immer er von Henry spricht, komme ich mir wie eine totale Hochstaplerin vor – ein ungewollter Wechselbalg, der gegen den rechtmäßigen Erben ausgetauscht wurde .

  Alden scheint zu merken, dass wir uns auf unangenehmes Terrain begeben haben, denn er drückt plötzlich meine Hand und schlägt einen fröhlicheren Tonfall an. »Siehst du diese Rüstungen?«

  Ich schaue auf die Reihe der mittelalterlich anmutenden Ritterrüstungen, die den Flur säumen.

  »Da gibt es eine lustige Geschichte …« Er schmunzelt. »Einmal, das ist jetzt vielleicht fünf Jahre her, sind wir nach ein paar Drinks zu viel alle durchs Schloss getorkelt …«

  Als wir um die Ecke zu meiner Suite biegen, lache ich lauthals, als er mir die Geschichte erzählt, wie er, Chloe, Carter und Henry sich in betrunkenem Zustand antike Ritterrüstungen angezogen haben und darin um Mitternacht durch die Flure gerannt sind, um mit ihrem Kampfgebrüll das ganze Schloss aufzuwecken.

  »Dann fiel Chloe hin und konnte nicht wieder aufstehen. Die Rüstung war so schwer, dass wir alle drei mit anpacken mussten, um sie wieder aufzurichten.«

  Ich werfe den Kopf in den Nacken und lache erneut laut auf. »Oh mein Gott, bitte sag mir, dass es Fotos davon gibt.«

  Alden schüttelt grinsend den Kopf. »Leider nicht. Kannst du dir vorstellen, was passiert wäre, wenn das je an die Presse durchgesickert wäre? Man hätte uns verprügelt.«

  »Ich könnte mir vorstellen, dass Simms selbst den Prügel in die Hand genommen hat, als er dahinte
rkam.«

  Er lacht. »Genau so war es.«

  Als wir an meiner Tür ankommen, bleibe ich zögernd im Flur stehen. »Alden … danke.«

  »Wofür?«, fragt er und drückt meine Hand.

  »Dafür dass du mich für eine Weile auf andere Gedanken gebracht hast.« Ich zucke mit den Schultern. »Ich habe schon lange nicht mehr so gelacht. «

  »Das sollte bestraft werden.« Er tritt näher und lässt seine perfekten Zähne aufblitzen. Auf seinem tadellos gescheitelten platinblonden Haupt tanzt nicht ein Haar aus der Reihe. »Du hast ein wundervolles Lachen, Emilia.«

  Er ist nicht ganz eins fünfundachtzig groß, doch ist der Abstand zwischen unseren Gesichtern nicht mehr allzu groß, als er sich zu mir herunterbeugt. Ich spüre, wie mein Mund trocken wird, und beobachte, wie er näher kommt.

  Wird er mich küssen?

  Werde ich es zulassen?

  Ich werde nie eine Antwort auf meine Fragen bekommen – denn links von uns ertönt ein Knall, der laut genug ist, um mir einen ordentlichen Schreck einzujagen und mich einen Satz nach hinten machen zu lassen. Alden und ich drehen beide den Kopf, um nach der Ursache Ausschau zu halten. Der Auslöser des Lärms steht in der Tür zu seiner Suite, die Hand noch an der Türklinke, und schaut düster in unsere Richtung.

  Carter.

  Sein bloßer Anblick genügt, um mein Herz in einen wilden Galopp zu versetzen – auch wenn er mich anstarrt, als wollte er mir den Hals umdrehen. Ich bin mir nicht sicher, was für eine Miene sich auf meinem Gesicht spiegelt, aber was auch immer er sieht, als er mich und Alden betrachtet, sorgt dafür, dass er verächtlich die Lippen verzieht.

  »Carter«, sagt Alden leichthin, aber ich bemerke, wie angespannt seine Schultern sind. »Schön, dich zu sehen, Kumpel.«

  Carter schaut zu Alden und dann auf unsere Hände, die immer noch miteinander verschränkt sind. In seiner Wange zuckt ein Muskel.

  »Alden. Was machst du hier … Kumpel? «

  Die Worte sind freundlich – die Stimme, mit der er sie ausspricht, ist alles andere als das. Ich ziehe meine Hand so ruckartig aus Aldens Griff, dass er die Augenbrauen hochzieht.

  »Ich lerne lediglich unsere Prinzessin ein wenig besser kennen.« Alden verschränkt die Arme vor der Brust. »Wie es scheint, ist sie in den letzten paar Wochen sträflich vernachlässigt worden.«

  Ich habe das Gefühl, Carters Kopf könnte tatsächlich explodieren, als er das hört. Er zieht die Augen zu himmelblauen Stecknadelköpfen zusammen, wobei er es sorgfältig vermeidet, mich anzuschauen.

  »Ist das so?«

  Ich schlucke nervös, als Alden sein Körpergewicht nach vorn verlagert. »Sie ist deine neue Schwester – du solltest dich wirklich besser um sie kümmern.«

  »Sieht so aus, als hättest du das schon ganz gut im Griff.«

  Ich wünschte, der Boden würde sich auftun und mich verschlingen.

  Ich wünschte, ein Meteor würde ins Schloss einschlagen.

  Ich wünschte, Chloe würde um die Ecke kommen.

  Meinetwegen könnte buchstäblich alles passieren, solange es mir einen Ausweg aus dieser Situation bietet.

  »Unser letztes Treffen ist eine Weile her«, sagt Alden im Plauderton.

  Carter reagiert darauf lediglich mit einem Schulterzucken.

  Alden zieht die Augenbrauen hoch. »Was hast du so getrieben?«

  »Oh, ich war damit beschäftigt, verlorenen Boden wettzumachen.« Sein Tonfall ist gefährlich sanft – wie Donnergrollen, das den ersten Hinweis auf einen bevorstehenden Sturm liefert. »Nach einer Woche der Isolation auf dem Lockwood-Anwesen, wo die Köchin Patricia mit ihren fünfzig Jahren die attraktivste potenzielle Partnerin war, hat sich in mir eine Menge …« Er hält inne. »Energie angestaut …« Er schmunzelt. »Ich musste ein wenig Dampf ablassen. Zum Glück waren die drei schwedischen Models, die ich gestern Abend kennenlernte, mehr als bereit, mir in dieser Hinsicht entgegenzukommen.«

  Ich zucke zusammen.

  Alden lacht, als würde er ihn nur zu gut verstehen. »Ah. Ich bin mir sicher, dass die Frauen von Vasgaard erfreut sind, dass du wieder voll funktionstüchtig bist.«

  »Mmm.« Carter lässt den Blick zu mir wandern und sieht mich an. »Vielleicht bringe ich die Models zur Krönung mit. Mal sehen, ob es mir damit gelingt, dass Octavia vor Wut an die Decke geht.«

  »Du verspürst wohl so etwas wie Todessehnsucht.«

  »Schon möglich.« Er hat den Blick immer noch auf mich gerichtet, und zwar so intensiv, dass er mich wie in Ketten gefangen hält. Ich starre ihn an – mein Puls hämmert, und mein Atem stockt. Ich wünsche mir sehnlichst, dass das Gefühl, das durch meinen Körper rauscht, auch nur annähernd der Gleichgültigkeit ähneln würde, die ich mir aufs Gesicht zwinge.

  Würde es dir etwas ausmachen, kleine Schwester? , scheinen seine Augen zu fragen. Mich mit jemand anders zu sehen?

  Bevor ich etwas Dummes tun kann, wie zum Bespiel in Tränen auszubrechen, reiße ich den Blick von ihm los und wende mich an Alden. Meine Stimme klingt so aufgesetzt fröhlich, dass ich sie kaum als meine eigene erkenne.

  »Es war mir ein Vergnügen, aber ich sollte mich jetzt wirklich wieder an die Arbeit setzen – der Essay über soziale Kognition wird sich nicht von selbst schreiben. Danke für die Ablenkung, Alden. Wir sehen uns in ein paar Tagen bei der Krönung. «

  »Oh …« Er zieht die Augenbrauen überrascht nach oben angesichts meiner plötzlichen Verabschiedung. »Reservierst du mir einen Tanz, Prinzessin?«

  »Natürlich. Allerdings kann ich nicht versprechen, dass ich dir dabei nicht auf die Füße treten werde.«

  Bevor er noch etwas sagen kann, stelle ich mich auf die Zehenspitzen und gebe ihm einen hastigen Kuss auf die Wange. Dann drehe ich mich herum und schlüpfe in mein Zimmer, ohne mich noch einmal nach dem Mann umzuschauen, der ein Stück weiter den Flur hinunter steht und mich mit seinem messerscharfen Blick im Visier hat. Vermutlich ist es unhöflich, Alden die Tür vor der Nase zuzuschlagen, nachdem er so nett zu mir gewesen ist, aber mir bleibt kaum etwas anderes übrig – es sei denn, ich möchte, dass jemand den emotionalen Zusammenbruch miterlebt, den ich jeden Moment erleiden werde.

  Zitternd vor Wut und Demütigung und, ja , einer heftigen Dosis ungestillten Verlangens sinke ich auf den Boden und presse mir die Hände auf die Augen, um meine Tränen zurückzuhalten. Sie quellen trotzdem zwischen meinen Fingern hervor und laufen heiß und zornig über meine Wangen.

  Wie krank ist das denn , schelte ich mich, während ein Schluchzer meine Brust erbeben lässt. Du hattest gerade ein perfektes erstes Date mit einem perfekten Mann … und doch sitzt du jetzt hier und bist emotional am Boden zerstört, weil du dir zwei Sekunden lang mit deinem gemeinen Stiefbruder einen Schlagabtausch liefern musstest?

  Vergiss Carter Thorne.

  Du willst ihn nur, weil du weißt, dass du ihn nicht haben kannst.

  Aber selbst meine Lügen vermögen mich nicht zu trösten. Weil ich tief im Inneren weiß, dass ich ihn schon wollte, bevor mir klar war, dass wir einen Haushalt, eine Vaterfigur und eine Schlafzimmerwand teilen würden. Genau wie ich weiß, dass ich ihn auch weiterhin wollen werde, trotz der allzu triftigen Gründe, warum ich ihn nicht wollen sollte, bis mir die Zeit irgendwann meine Erinnerungen nimmt.

  Es ist spät.

  Ich liege in meinem dunklen Zimmer unter der Bettdecke und tue mein Bestes, um einzuschlafen. Doch mein Verstand weigert sich abzuschalten, egal wie oft ich meine vom Weinen verquollenen Augen zukneife. Die Geräusche von der anderen Seite der Wand sind da auch nicht gerade hilfreich. Die leise Musik, seine Schritte auf dem Parkettboden, das Rauschen des Wassers, als er duscht. Ich versuche, ihn mir nicht unter dem Wasserstrahl vorzustellen mit seinem gemeißelten Körper, während der Dampf die gläsernen Duschwände beschlägt …

  Ich versage.

  Jämmerlich.

  Ich rolle mich zum zwanzigsten Mal auf die andere Seite und schlage auf mein Kissen ein, um ihm eine bequemere Form zu verpassen. Es ist paradox – als er fort war, hat es mir nicht gefallen, aber ich glaube, nun, da er wieder da ist, gefällt es mir sogar noch weniger, nur durch eine unbedeu
tende Wand von ihm getrennt zu sein.

  Ich frage mich, ob er mich auch hören kann.

  Ob er mein Schluchzen gehört hat.

  Ob er meine Trauer gespürt hat.

  Ob ich ihn so sehr in den Wahnsinn treibe wie er mich.

  Hinter der Wand wird es still, und ich weiß, dass er endlich schlafen gegangen ist. Es ist unmöglich, mir nicht vorzustellen, wie er nur wenige Meter von mir entfernt in der Dunkelheit liegt und an die Decke starrt.

  Stellt er sich vor, wie ich hier liege, die Beine in die Laken verwickelt, und an ihn denke? Oder verliert er sich stattdessen in Fantasien über seine Abenteuer mit den drei schwedischen Models, von denen er mir so bereitwillig erzählt hat?

  Das leise Signal der Deckenlautsprecher, die sich mit einem neuen Bluetooth-Gerät verbinden, sorgt dafür, dass ich mich senkrecht im Bett aufsetze und die Augen bis zum Haaransatz hochziehe. Eine Sekunde steigert sich meine Verwirrung um ein Vielfaches, als Musik durch das dunkle Zimmer schallt – eine eindringliche, melancholische Melodie.

  Was zum Teufel ist denn jetzt los?

  Das Lied selbst ist mir nicht fremd. Ich erkenne sofort die vertrauten Klänge. Seltsam ist nur die Tatsache, dass ich nicht diejenige bin, die den Song abspielt.

  Vollkommen verwirrt schnappe ich mir mein Tablet vom Nachttisch. Der Bildschirm ist dunkel und zeigt keine Lieder in der Warteschleife an. Das Gleiche gilt für mein Handy. Erst als der Text einsetzt und ich den Titel des Lieds erinnere – »Don’t You Cry For Me« von Cobi –, begreife ich endlich, was hier los ist. Ich weiß ganz genau, was hier vorgeht.

  Das ist Carter.

  Er steckt dahinter.

  Er spielt mir ein Lied vor.

  Irgendwie hat er sein Handy mit meinen Lautsprechern verbunden. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie er das angestellt hat, aber während die Worte über mich hinwegspülen – oh, don’t you cry for me –, beschäftigt mich eine andere Frage sehr viel mehr.

  Warum?

  Warum sollte er das tun?

  Um mich zu trösten? Um mich zu quälen?

  Um mich wissen zu lassen, dass er meine Tränen durch die Wand gehört hat und sie etwas in ihm ausgelöst haben?

 

‹ Prev