Feen Buch 1: Der Weg nach Imanahm

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Feen Buch 1: Der Weg nach Imanahm Page 11

by Peter Singewald


  „Pethen! Was habe ich gerade gesagt? Setz dich sofort hin!“

  Meister Zelon sah eher besorgt aus, obwohl ihre Stimme immer noch die gleiche Wut auszudrücken schien. Sie war die einzige, die immer freundlich und hilfsbereit zu ihm gewesen war, deshalb wollte Pethen sie nicht enttäuschen. Nur mühsam gelang es ihm, sich zu entkrampfen. Zitternd deutete er eine Verbeugung an und drehte sich vorsichtig um. Mit nur drei langen Schritten gelangte er zu seinem Platz und ließ sich niedersinken. Die Schüler nahmen plötzlich wieder eine andere Farbe an. Pethen konnte sie nicht deuten, obwohl es ein bisschen nach blauer Angst aussah, aber viel blasser.

  Erst als er dieselbe Farbe, nur etwas schwächer, bei Meister Zelon sah, fiel ihm ein, dass er seine Augen immer noch geschlossen hielt.

  Entgegen allen Behauptungen, waren die Stühle der Meister nicht wirklich bequemer als die der Schüler. Vielleicht waren sie etwas breiter, besser an eine Person angepasst, aber wie sollte man sich da sicher sein. Pethen wartete geduldig, bis Meister Zelon ihre Tonplatten geordnet hatte. Er war sich nicht sicher, warum sie gerade jetzt Ordnung machen musste, aber vielleicht war sie ja genau so nervös, wie er.

  Der Unterricht war früher zu Ende gewesen als sonst. Kaum jemand hatte sich wirklich zu konzentrieren vermocht. Immer wieder war Pethen das Zentrum der Aufmerksamkeit einzelner Schüler gewesen. Kein Lehrer mochte es, wenn seine Schüler ihn nicht richtig beachteten. Aber Meister Zelon schien es nicht besser als ihren Schülern zu gehen. Daher hatte sie schon nach der Hälfte der Zeit die Anderen entlassen. Nur Pethen hatte sie ausdrücklich ermahnt, noch einmal bei ihr vorbeizusehen, was erneute Blicke von den anderen zur Folge hatte.

  Und jetzt warteten sie beide auf irgendetwas, das ihnen den Anfang eines Gespräches erleichtern würde.

  Schließlich kramte Meister Zelon eine Tonplatte hervor, die sie dem Anschein nach gesucht hatte, und reichte sie Pethen.

  „Lies‘ das.“ Pethen nahm die Platte und begann zu lesen. Es war ein kleiner Aufsatz eines Meisters, von dem er noch nie etwas gehört hatte. Die Schreibweise einiger Wörter und auch die altertümliche Wortwahl ließ Pethen vermuten, dass dieser Aufsatz sehr alt sein musste.

  ‚... Die gängigen Untersuchungen wiesen darauf hin, dass das junge Ding über eine gewisse Gabe für die magischen Künste besaß, so dass ich bereits zu hoffen wagte, eine neue Kommilitonin entdeckt zu haben. Sobald ich sie jedoch zum ersten Mal einen Zauber wirken sah, wusste ich, dass alles an ihr anders war, als unsere Erfahrung es lehrt. Ich konnte ihre Magie nicht einmal als wahre Magie erkennen, selbst während ich die Zauber gesprochen und sich entfalten sah. ...’ Pethen war sich nicht sicher, was er davon halten sollte, dass Meister Zelon ihm diesen Text gegeben hatte. Sie musste wohl einen Zusammenhang zwischen ihm und diesem Mädchen vermuten. Er las weiter, auch wenn die nächsten Sätze nichts weiter enthielten, als gelehrte Abhandlungen über den Fluss der Magie und Vermutungen darüber, wie dieser Fluss vielleicht auf unterschiedliche Weise genutzt werden konnte. Das Mädchen war kurz nach dem Treffen mit dem Meister von Sonne und Schwert aufgegriffen und hingerichtet worden, weswegen keine weiteren Forschungen möglichen gewesen waren.

  Erst bei einer Randnotiz, rechts unten auf der Platte, die so undeutlich hingekritzelt war, dass er sie kaum zu entziffern vermochte, wurde er wirklich stutzig. Entweder der alte Meister hatte es sehr eilig gehabt, oder jemand anderes hatte diese Notiz hinzugefügt. Es war so eine ungeheuerliche Aussage, dass er sie drei Mal lesen musste, um überhaupt zu verstehen, was sie bedeutete.

  ‚Feen behaupten: gibt 2 Magien. Eine Geist. Eine Körper. Erschaffer der Ildralshoi konnten beide.’

  Er sah Meister Zelon fragend an. Sie hielt einen kurzen Moment lang den Augenkontakt. Dann wandte sie den Blick ab und stand auf. Das kleine Zimmer bot nicht viel Platz, um auf und ab zu gehen. Dennoch machte sie ein paar Schritte hin und her.

  „Keiner von uns ist sich wirklich sicher, was Meister Dalthariu damals entdeckt zu haben glaubte. Wir hielten es immer für einen Hinweis darauf, dass die alten Meister einige Formen der Magie nicht kannten, wie zum Beispiel die Feuermagie, die erst einer meiner Lehrer für uns zugänglich gemacht hat.“ Sie machte eine kurze Pause, um Pethen die Tonplatte aus der Hand zu nehmen und noch einmal einen Blick darauf zu werfen.

  „Die Randnotiz konnten wir jedoch nie wirklich entschlüsseln. Warum nur 2 Arten der Magie? Und wer hat diese Notiz geschrieben? Wer sind die Ildralshoi? Und wer ihre Erschaffer?“

  Pethen sah sie neugierig an.

  „Du hast auch schon vermutet, dass die Notiz nicht von derselben Person stammt, oder?“ Er nickte.

  „Meister Anún, der Meister, der dich hierher gebracht hat, ersann speziell für dieses Problem einen Zauber, um feststellen zu können, wer was geschrieben hat. Wir wissen zwar jetzt, dass die Schriften wirklich von zwei verschiedenen Personen stammen, aber nicht, wer die zweite Person war.“ Wieder schwieg sie für einen Augenblick, als würde sie darauf warten, dass Pethen etwas sagen würde.

  „Als du hierher kamst, haben wir lange über dich gesprochen.“

  „Aber ...“

  „Ja?“

  „Mhm, ich wollte eigentlich sagen, dass ich doch noch gar nichts angestellt hatte.“ Pethen sah verschämt auf den Boden, hörte aber zu seinem Erstaunen ein leises lachen.

  „Nein, du hattest noch nichts angestellt. Aber als Meister Anún in dein Dorf kam, hat er zu aller erst einen Blick mit einem Zauber auf dich geworfen, der ihm dein Talent offenbart hat.“

  „Deshalb war er sich auch immer so sicher, dass ich tatsächlich zaubern könnte.“

  „Das stimmt. Wir bringen niemanden hierher, den wir nicht vorher getestet haben. Anún hatte jedoch gleich bemerkt, dass dein Talent anders war, als alles, was er jemals zuvor gesehen hatte.“ Als wenn sie jetzt zu einer gewaltigen Offenbarung kommen würde, wurde die Stimme von Meister Zelon immer eindringlicher und aufgeregter.

  „Er kannte ja die Tonplatte und vermutete sofort, dass du einer von denen wärst, der ein Talent für die zweite Magie besitzt. Er versuchte uns davon zu überzeugen, aber ich war die einzige, die seine Interpretation der Schrift für möglich hielt. Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass Meister Enkan einer seiner engstirnigsten Gegner in dieser Sache war.“ Obwohl sie lächelt, spürte Pethen, dass sie genau so wenig erheitert über diese Tatsache war, wie er.

  „Ich habe es jedoch auch nie wirklich geglaubt. Zumal mir immer noch nicht klar war, was die Randnotiz nun eigentlich zu bedeuten hatte.“ Pethen war sich später nie sicher, ob Meister Zelon bewusst eine dramatische Pause machte, oder ob sie sich einfach noch einmal sammeln wollte.

  „Jetzt weiß ich, dass deine Magie tatsächlich anders ist. Du bist der erste, bei dem wir wirklich das Wirken der zweiten Magie beobachten können.“

  Ihm war nicht klar, ob er erleichtert sein sollte, oder nicht. Dass er anders war, wusste er ja schon lange. Sein Talent hatte ihn immer von den Nachbarn im Dorf abgehoben und ihn zum Ausgestoßenen gemacht. Und in der Zuflucht der Magier war es nicht wirklich besser geworden, obwohl er hier eher durch seinen Mangel an Talent aufgefallen war. Nun aber sollte er ein anderes Talent besitzen als die anderen. Würde ihn das nicht noch mehr von seinen Mitschülern entfernen?

  „Ich denke, dass dadurch, dass wir jetzt wissen, dass wir dich nicht auf die alt hergebrachte Weise lehren können, vieles leichter für dich werden wird, meinst du nicht auch?“

  Er sah sie nur groß an. Irgendwie hatte er daran Zweifel.

  „Allerdings weiß ich natürlich nicht, welche Magie nun deine ist, die des Geistes, oder die des Körpers. Und es stellt sich auch die Frage, was wir dir überhaupt beibringen können. Keiner von uns versteht ja wirklich, wie du die Dinge tust, die du tust. Deshalb wissen wir auch nicht, was wir dir überhaupt beibringen können.“ Pethen überraschte sich selbst, als die Antwort aus ihm heraussprudelte.

  „Ich will lernen, nicht mehr die Gefühle anderer zu spüren.“

  *

  Kam-ma und Tro-ky waren sichtlich älter geworden. Das war das Los der Keinhäuser. Jeder Sturm hinterließ Spuren auf der Haut, kein Winter v
erging, ohne neue Falten eingegraben zu haben. Doch der Sommer war auch nicht freundlicher zum Gesicht, verbrannte die ungeschützten Stellen und machte die Haut alt. Die Natur gab ihnen viele Mittel, um den Körper und seine Hülle zu schützen oder auch zu heilen. Aber am Ende nahm sich die Natur, was sie bekommen konnte und führte einem die eigene Vergänglichkeit immer wieder aufs Neue vor Augen.

  Für Kam-ma war es wohl am härtesten gewesen. Sie war ein Kind von Bauern, deshalb an Arbeit und Unbillen gewöhnt. Doch das Leben ohne ein Dach über dem Kopf war noch härter. Estron hatte sie eines Tages weinend an einem kleinen Teich gefunden. Zuerst wollte sie ihm nicht offenbaren, warum sie so niedergeschlagen war, bis sie ihm schließlich die grauen Haare und die kleinen Falten gezeigt hatte. Er hatte dies alles schon früher bemerkt, stach das grau doch aus ihrem glatten, braunen Haar hervor. Selbst wenn sie es zu einem praktischen Dutt auf ihrem Kopf geknotet hatte, waren sie immer noch zu sehen. Und die Falten hatte er schon so oft des Nachts liebkost, dass er im Schlaf dem Verlauf jeder einzelnen hätte folgen können.

  Estron hatte schließlich ihren Kopf in die Hände genommen und an seine Brust gedrückt. Ihm waren keine tröstenden Worte eingefallen, und so hatte er sie mit taten getröstet.

  Seitdem hatte Kam-ma nie wieder wegen ihres Aussehens geweint. Und ihre Falten akzeptierte sie, musste sie akzeptieren, konnte sie doch nichts dagegen unternehmen. Aber die grauen Haare riss sie sich regelmäßig aus und sah ihren Meister immer herausfordernd dabei an. Schließlich wusste sie, dass Estron die von der Natur gegebenen Dinge befürwortete, so wie sie es auch lernen wollte. Doch es gab für alles eine Grenze.

  Für Estron bedeutete dies, dass er erneut etwas von anderen gelernt hatte. Man konnte niemanden etwas lehren, was er nicht wissen wollte und es gab keine Regel, die nicht unter bestimmten Bedingungen von jedem noch so Treuen gebrochen werden würde.

  Anfänglich hatte Estron viele Bedenken wegen seiner Schüler gehabt. Vor allem war ihm die Verantwortung, die er für diese beiden übernehmen musste, zu groß. Manchmal wusste er für sich selbst schon nicht ein noch aus. Wie sollte es werden, wenn er auch noch für andere Entscheidungen treffen sollte. Mit den beiden Feenlingen war es etwas anderes gewesen. Da waren sie zusammen gereist, als Gleichwertige und Partner.

  Tro-ky und Kam-ma waren jedoch nicht bereit, ihn als gleichwertig zu betrachten. Für sie musste er der Meister sein, eine Bezeichnung, die Estron zu tiefst zuwider war. Es war so eine unsinnige Bezeichnung, wenn er es mit sich in Verbindung brachte. Er hatte nichts gemeistert und er wollte der Herr über niemanden sein, denn er wollte auch keinen Herrn über sich haben, mit Ausnahme der Natur, die jeder akzeptieren musste, der nur ein bisschen Verstand besaß.

  Andere Bedenken waren ihm gekommen, als das Verhältnis zwischen ihnen dreien enger geworden war. Estron hatte von vielen Feenvölkern und Tieren, aber auch von einigen Völkern der Menschen erfahren, dass viel innerhalb einer Gruppe durch Sex geregelt werden konnte. Rangordnungen mussten nicht durch einen Kampf festgelegt werden, wenn sie auch durch den Beischlaf geregelt werden konnten. Streitigkeiten konnte man so beilegen und auch Bindungen schaffen. Der Sex musste nicht nur der Fortpflanzung dienen oder der Befriedigung von Gelüsten.

  Aber seine beiden Gefährten stammten aus einer Gruppe von Menschen, bei der der Sex fast etwas Dreckiges zu sein schien. Man sprach nicht darüber und tat es nur im Geheimen. Estron respektierte dies, denn in seinem Dorf war es genauso gewesen. Inzwischen kannte er jedoch sein Fleisch und seine Gelüste. Kam-ma war eine herbe, aber gut aussehende Frau, Tro-ky ein ansehnlicher junger Mann. Letzteres war noch so ein Problem. Er hatte gelernt, dass man jeden lieben konnte und auch jeden begehren, denn was war schon ein Geschlecht, wenn man es mit anderen Rassen zu tun bekam, deren Aussehen und auch Verhalten so weit von dem für Estron normalen abwichen, dass menschliche Männer und Frauen sich nur allzu ähnlich wurden.

  Tro-ky hatte diese Erfahrungen jedoch nicht. Kam-ma war nach den langen Wanderungen mehr als bereit gewesen, das Lager mit Estron zu teilen. Sie hatte sogar begonnen, ihn zu umgarnen. Die kalten Nächte, in denen sie sich eng aneinander schmiegten, um sich gegenseitig Wärme zu spenden, taten ein weiteres. Estron war niemand, der zur Selbstkasteiung neigte, auch wenn andere sein Leben schon als solche ansehen mochten. Der beständige Duft Kam-mas und die Nähe ihres Körpers hatten schließlich ihr übriges getan.

  Am nächsten Morgen war Tro-ky sehr traurig und abweisend gewesen. Es hatte einiger Mühen und Überzeugungskünste bedurft, bis er seine Gefühle der Einsamkeit und Vernachlässigung preisgegeben hatte. Und noch viel länger hatte es gedauert, ihn mit in ihr Spiel einzubeziehen, vor allem, weil Kam-ma ihre Scheu überwinden musste. Schließlich waren sie Schwesterkinder, und auch wenn solche Verbindungen in ihrer Heimat vorkamen, wurden sie doch nach Möglichkeit vermieden.

  Inzwischen war der Reiz verflogen und sie lagen nur noch selten beieinander. Aber das Problem, vor dem sich Estron immer gefürchtet hatte, blieb. Denn eine Beziehung, wie sie sie hatten, konnte nur mit sehr viel Glück gut gehen. Sie waren alle drei einfach zu sehr an die Verbindung von zweien gewöhnt, als das ein dritter sich nicht irgendwann als schwierig erweisen würde. Es konnte immer wieder zu Neid kommen.

  Die drei hatten in den vergangenen drei Jahren viele Völker besucht. Estron wusste nicht, was seine beiden Gefährten erwartet hatten, von ihm zu lernen und wie sie es lernen würden. Aber sie schienen ursprünglich immer auf Lehrstunden gewartet zu haben. Aber das war nicht seine Art. Nur selten setzte er sich mit ihnen hin und zeigte ihnen etwas von dem, was er sich selbst mühsam angeeignet hatte. Es waren fast immer solche Dinge, die einen oder alle drei in große Schwierigkeiten oder sogar in den Tod geführt hätten, wenn sie falsch verrichtet worden wären. Wie zum Beispiel damals, als sie kurz davor standen aus einer Unachtsamkeit heraus von einem Galong zertrampelt zu werden. Tro-ky hatte sich zu schnell bewegt und der Ansturm des Galong hätte neben einigen Bäumen fast auch sie in den Boden gestampft.

  Aber woher hätte er es auch wissen sollen. Es wäre Estrons Schuld gewesen, wenn ihnen etwas geschehen wäre, denn er hatte damals ihre Unerfahrenheit nicht bedacht. Deshalb hatte er sich mit ihnen zusammengesetzt, um darüber zu sprechen, dass sie ihn mehr Fragen musste, wenn sie etwas nicht kannten oder ihm ihre Ängste mitteilen sollten, damit er wusste, wann er vorsichtiger sein musste.

  Trotz seines geringeren Alters war Tro-ky der klügere und einsichtigere seiner beiden Gefährten und er war auch bereiter, sein altes Denken aufzugeben. Kam-ma hatte einen viel größeren Eigenwillen. Man konnte es fast Sturheit nennen. Aber schließlich war es dieser Eigensinn gewesen, weshalb sie ihm damals überhaupt in sein Lager gefolgt waren, um ihn zu begleiten. Und, auch wenn sich Estrons Gedanken immer wieder darum rankten, wie schwierig doch alles mit seinen Begleitern geworden war, genoss er es auch, nicht mehr allein auf der Straße zu sein. Viele Wege waren sehr einsam gewesen und seit dem Tod von Unie und Lesigo hatte er auch nicht mehr gewusst, dass die Pfade der Welt, gemeinsam gegangen, viel einfacher zu bewältigen waren.

  Der neue Weg, den Sie derzeit nahmen, führte sie an einen Ort, von dem sich der Keinhäuser Großes versprach. Er wusste, dass es noch viele, viele Rassen und Völker in der Welt gab, die er noch nicht besucht hatte und die er vermutlich auch nicht alle besuchen können würde. Das Herz blutete ihm bei dem Gedanken, wie viele Weisheiten er nicht erfahren würde. Aber sein Leben würde eines Tages enden und er konnte froh sein, dass er trotz der Feindschaft von Sonne und Schwert bereits so alt geworden war, wie er es jetzt war.

  Immer wieder hatten ihn seine beiden Gefährten gefragt, wohin es denn diesmal gehen würde. Er hatte es ihnen jedoch nicht sagen können. Selbst wenn er es gewusst hätte, wäre es ihm nicht erlaubt gewesen, es irgendjemandem mitzuteilen. Er wusste, was das Ziel war, aber nicht, wo es lag. Das Volk, welches sie besuchen wollten, liebte seine Verstecke und seine Heimlichkeit. Es wollte nicht, dass man es fand. Und es war ein großer Zufall gewesen, der Estron mit einem von Ihnen zusammengebracht hatte, ohne dass seine Gefährten dabei gewesen waren. Zumindest sollte die Begegnung damals wohl den Ei
ndruck erwecken, dass es sich um einen Zufall handelte.

  Aber Estron glaubte nicht an Zufälle. Er glaubte nicht an so etwas wie Glück. So etwas konnte es nur geben, wenn es keine Vorsehung gab. Und Estron hatte zu oft Vorhersagen wahr werden sehen. Aber in diesem Fall war er sich sogar ziemlich sicher, dass nicht einmal die Vorhersehung verantwortlich gemacht werden konnte, insoweit man ihr am Ende nicht alles irgendwie zuschreiben musste. Der Moment war zu gut gewählt gewesen, der Zeitpunkt einfach ideal und er war wohl der einzige Mensch, der ohne weiteres auf ein solches Angebot eingegangen wäre, ohne dabei gefährliche Hintergedanken zu haben.

  Und dann war da noch das Gefühl, dass er denjenigen kannte, dem er vor wenigen Wochen auf der Lichtung begegnet war.

  Es war ein rauer Sommertag gewesen. Der Wald war voll erblüht aber ein kalter Wind hatte durch die Äste geweht. Wie jeden Morgen hatte er sich einen kleinen Moment der einsamen Meditation gegönnt. Er genoss es, die laute Stille des Waldes zu hören, wenn kein denkendes Wesen Geräusche verursachte und nur die Tiere ihre Laute ausstießen. Seine Sinne waren inzwischen so sehr geschärft, dass er die Umgebung zu spüren meinte. Wenn seine Meditation vollkommen war, hatte er das Gefühl, Kam-ma und Tro-ky im Lager zu spüren, die Vögel in der Luft und in den Bäumen genau ausmachen zu können und jedes Tier, das sich näherte genau zu erkennen.

  Deswegen konnte ihn die kleine Gestalt, die sich seinem Platz näherte, auch nicht überraschen. Bis zu diesem Tag war sich Estron über die Weise, wie sich das Wesen genähert hatte, nicht im Klaren. Es war zuerst nur an den Rand seiner Wahrnehmung geraten, um anschließend für einen Moment daraus zu verschwinden. Dann war es ein paar Schritte genau auf ihn zugekommen, um anschließend nach rechts abzubiegen und um ein paar Büsche und Bäume herumzulaufen. Nach einem Sprung, der das Wesen wieder von Estron wegführte hatte sich dieses Spiel noch eine Weile fortgesetzt, bis es schließlich für einen kurzen Moment aus seiner „Sicht“ verschwunden war, um anschließend zwischen zwei Bäumen unweit von Estron zu erscheinen.

 

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