Feen Buch 1: Der Weg nach Imanahm

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Feen Buch 1: Der Weg nach Imanahm Page 15

by Peter Singewald


  Und als er sich endlich selbst besser unter Kontrolle hatte, begannen seine Leiden erst richtig.

  Derzeit bestand seine Hauptaufgabe darin, bei der Wahrheitsfindung behilflich zu sein. Dazu verbrachte er seine Zeit mit zwei Priestern Veshtajoshs in den Kammern der Wahrheit, unterhalb des Tempels. Selbst Owithir konnte nicht verdrängen, dass diese Räumlichkeiten Folterkammern waren. Aber der offizielle Name war leichter zu ertragen. Er hasste diese Arbeit mit aller Kraft seines Herzens, doch wusste er, dass es nur die gerechte Strafe Aemavheas für seinen Unglauben war. Dabei waren die Folterungen, die er gesehen und gespürt hatte, nur ein kleiner Teil der Strafe. Die Schmerzen der Befragten waren dröhnende Hämmer, die an seine mühsam aufgebauten Barrieren schlugen. Und der Ehrgeiz Daminons, des jüngeren der beiden Priester, war wie eine in die Zukunft gerichtete Lanze. Für Owithir waren andere Dinge jedoch viel schlimmer. Der Raum selbst hatte so lange den Schmerz der gefolterten erfahren, dass er inzwischen selbst davon widerhallte und sich wie eine Decke aus Dornen auf Owithirs Geist legte. Es kostete ihn immer wieder aufs Neue eine ungeheure Kraftanstrengung, den Raum überhaupt zu betreten. Zur Mitte der ersten Verhöre war dieser gleichmäßige Schmerz bereits schon so normal, dass er ihn kaum noch wahrnahm. Warthens schmerzen flackerten jedoch immer wieder auf. Warthen, der älteste Priester im Raum, verspürte ein ungeheures Bedauern ob der Dinge, die er sich gezwungen sah zu tun. Er liebte die Menschen und war daher der festen Überzeugung, dass er sie schützen musste, auch diejenigen, die aus seinen Händen die furchtbarsten Schmerzen erfahren hatten. Er war der festen Überzeugung, dass es zu ihrem besten war. Dennoch taten sie ihm leid, und er zuckte unter jedem Schrei der gepeinigten zusammen.

  Am aller schlimmsten waren jedoch die Momente, wenn die beiden Priester ihn baten, die Gedanken der Befragten zu lesen. Sie fragten ihn nicht gerne und auch nur, wenn der Befragte damit einverstanden war. Denn aus irgendeinem Grund war man der Meinung, dass seine, Owithirs, Arbeit schädlicher für die Menschen war, als alles, was Daminon oder Warthen ihnen hätten antun können. Die Furcht, die jeder vor seinen Fähigkeiten zeigte, und die Tatsache, dass sich viele Lieber foltern ließen, als ihm zu erlauben, sie zu befragen, war allen Beweis genug dafür. Heute saß ein Mann mittleren Alters auf dem Stuhl zwischen ihnen. Er war angeklagt, einen Zauber auf seine Kunden gelegt zu haben, damit sie seine minderwertigen Wahren kauften. Sie hatten verschiedene Zeugen dafür, dass seine Macht in seiner Stimme lag, weswegen die drei Priester ihre Ohren mit Tüchern bedeckt hielten, auf denen mächtige heilige Zeichen des Schutzes und der Abwehr geschrieben waren. Daminon hatte dem Mann, er wurde Ardus, der Krämer, genannt, bereits die Instrumente gezeigt und auch schon alles erklärt, was folgen würde. Er hatte ihm sogar die Möglichkeit erklärt, dass er sich für Owithirs Gedankenlesen entscheiden könnte. Allerdings bestand kein Zweifel daran, dass Ardus sich dagegen entscheiden würde, nachdem er Daminons Worte gehört hatte. Es war gewiss nicht die Schuld des Priesters, dass er selbst Angst vor Owithirs Gabe hatte, fürchtete er sie doch Owithir selbst.

  Als Daminon und Warthen sich über ihre Vorgehensweise erneut abgesprochen hatten, auch um Ardus ein weiteres Mal Zeit für seine Entscheidung zu geben, begann der Erfahrenere der beiden, die Finger des Angeklagten auf ein Brett zu spannen. Anschließend legte er vorsichtig die Holzdorne auf den Beistelltisch und suchte sich einen kleinen heraus. Owithir konnte sehen, wie der Angstschweiß auf der Stirn des Angeklagten erschien und er selbst begann sein innerstes vor der Welt zu verschließen, um den anfänglichen Schmerz ausschließen zu können.

  Der Schmerz unter den Fingern war beträchtlich, obwohl Warthen deutlich vorsichtiger Vorging als Damion. Wie viel schlimmer musste es erst für Ardus sein, der sich nicht dagegen verschließen konnte?

  Drei Finger waren glücklicherweise genug für die beiden Priester, die neben dem Angeklagten standen, um zu erkennen, dass sie auf diese Weise nichts aus ihm herausbekommen würden. Sie änderten ihre Strategie. Daminon redete Ardus gut zu. Er versicherte ihm, dass sie dies gar nicht tun wollten. Er bedrängte ihn, doch endlich seine Sünden zu bekennen. Und er versuchte ihn davon zu überzeugen, dass es nur zu seinem besten wäre, wenn er sich von dieser Last befreite. Dazu zog der die Holzdorne vorsichtig heraus, gab Ardus zu trinken und faste ihn freundlich am Arm. Owithir konnte jedoch keine Freundlichkeit spüren und es schien auch keine Wahrheit in den Worten zu stecken. Er hatte immer wieder versucht, sich einzureden, dass dies nur daran liegen würde, dass er seinen Geist gegen die Gefühle in diesem Raum gestählt hatte. Inzwischen, nachdem er die beiden Priester besser kennen gelernt und ihnen bei einigen Unterhaltungen zugehört hatte, wusste jedoch er, dass die Worte Daminons zu einem Spiel gehörten, das den Verdächtigen nur dazu bringen sollte, ihnen zu vertrauen. Und oft gelang es ihnen auch. In dem Wechsel von Schmerz und Fürsorge brach der Verstand oft zusammen. Mit einem Mal betrachteten die Angeklagten ihre Folterer als ihre Freunde, und ihre größte Sünde darin, ihnen die Wahrheit, die sie hören wollten, vorzuenthalten. Manchmal war es ihnen am Ende schließlich gleichgültig, dass sie doch noch hingerichtet wurden, denn sie hatten ihren Freunden endlich gefallen können. Diese ganz besonderen Fälle waren selten und geschahen auch nur nach oft tagelangen Verhören.

  Owithir konnte nicht umhin, die beiden Priester für ihr Geschick zu bewundern, obwohl ihm der Zeitpunkt, an dem sie den Verstand der Angeklagten zerbrachen, immer wieder aufs Neue wie ein Mord vorkam. Denn in seiner Welt der Gefühle hätten sie genauso gut jemandem die Kehle durchschneiden können und er wäre auf die gleiche Weise plötzlich und endgültig aus dieser Welt verschwunden. Er hatte beides in diesen Gewölben kennen gelernt, und es machte für ihn wirklich keinen Unterschied, außer dass in einem Fall etwas anderes erschien.

  Ardus war kein starker Mann und so dauerte es nicht lange, bis er den Priestern ihre Wahrheit sagte. Owithir bedauerte ihn, auch wenn er Glück gehabt hatte und leben würde. Aber er hatte Arduss Schmerz, Verzweiflung und Selbstverachtung gespürt, und dies würde ihn niemals wieder verlassen.

  Owithir blieb jedoch nicht viel Zeit, sich über Ardus Gedanken zu machen, denn sobald er nach draußen gebracht worden war, kam der nächste Gefangene herein. Es war ein junger Mann, von dem es hieß, dass er ein Versteck der Teufelsanbeter aufgesucht hatte. Owithir konnte sich vorstellen, wieso dieser Mann, Imne genannt, hier saß. Irgendjemand im Dorf, der ihn nicht besonders mochte, hatte ihn bei dem Priester vor Ort angeschwärzt. Vielleicht war es nur aus einer Laune geschehen, ohne dass sich derjenige Gedanken über die Konsequenzen gemacht hätte. Aber jetzt saß Imne hier und man würde ihm die Wahrheit entlocken.

  Diesmal war Daminon an der Reihe, mit der Folter zu beginnen, nachdem Imne sich auch nach dem Zeigen der Geräte unwillig gezeigt hatte, auch nur ein Wort zu sagen. Kurzzeitig musste Owithir denken, dass er vielleicht stumm sei, aber die Flüche, die er ausstieß, sobald die ersten Dorne unter seine Nägel gestochen wurden, belehrten den jungen Priester eines Besseren. Mit einer gewissen Genugtuung bemerkte er daher, dass Imne tatsächlich eher störrisch war, als dass er nichts preiszugeben hätte. Owithir war sehr erleichtert, denn allzu oft wussten die Befragten einfach nichts, was sie hätten verraten können. Imne jedoch wusste etwas. Nur was es war, würden sie wohl erst aus ihm herauslocken müssen.

  Daminon und Warthen spielten ihr gewohntes Spiel. Warthen war besser in seiner Sorge als Daminon, aber dennoch kamen sie nicht so recht voran. Selbst als Owithir unter den Schmerzen Imnes zusammenzuzucken begann fluchte dieser nur und verhöhnte die ehrwürdigen Priester. Sie hatten den größten Teil der Instrumente, die ihnen zur Verfügung stand bereits verwendet und der Körper des Angeklagten war bereits geschunden und verkrüppelt. Oft hatte sich Owithir abgewandt, weil er es wenigstens nicht sehen wollte, was er spüren musste. Doch entkommen konnte er der Folter nicht.

  Erneut berieten sich die beiden älteren. Owithir ging, gegen seine Gewohnheit zu dem schlaffen Körper des Angeklagten und betrachtete ihn.

  „Lasst mich euch helfen.“

  Imne konnte sich kaum bewegen, aber aus seinen schmerzverzerrten Gedanken schlug Owithir nu
r Hass und Verachtung entgegen.

  „Ihr müsst die Folter nicht ertragen, ich kann es einfach aus euren Gedanken lesen.“ Er wusste wie albern dieses Angebot klang, aber er machte es wohl auch mehr für sich selbst, damit er diese Schmerzen nicht weiter ertragen musste.

  Warthen fasste ihn von hinten an der Schulter. Sie waren mit ihrem Gespräch zu ende.

  „Wir werden es schon aus ihm herausbekommen. Warte nur ab.“

  Aber auch nach einer weiteren Stunde hatten sie noch immer nicht ihr Ziel erreicht. Schließlich mussten sie abbrechen. Der menschliche Körper kann nicht beliebig lange gefoltert werden und sie befürchteten, dass Imne den Schmerz bald nicht mehr aushalten können würde. Der geschundene Körper wurde von zwei Wärtern herausgetragen und in eine Zelle gebracht. Die Wärter würden ihn waschen, verbinden und Füttern, damit er wieder zu Kräften kam.

  Auch die drei Priester verließen jetzt den Raum und überließen einigen Novizen das Saubermachen. Es war ein langer Tag gewesen und keiner von ihnen war glücklich mit der langwierigen und vor allem erfolglosen Befragung. Owithir begab sich ohne ein weiteres Wort zu verlieren, in seine eigene Kammer. Die beiden älteren Priester hatten es inzwischen aufgegeben, mit ihm Gespräche zu führen. Er blieb einfach immer zu zurückhaltend, fast schon abweisend und die wenigen Worte, die er erwiderte waren von ausnehmender Belanglosigkeit. Sie konnten nicht wissen, dass er, seitdem seine Gabe ihr volles Ausmaß erreicht hatte, kaum die Gegenwart von Menschen ertragen konnte, wenn er es nicht unbedingt musste, und schon gar nicht die Gegenwart von Menschen, denen er den ganzen Tag dabei zugesehen hatte, wie sie andere Menschen quälten.

  In seinem Zimmer angelangt entledigte er sich zu allererst seiner Überkleidung. Sie war voller Schweiß und roch nach Rauch, Muff und Angst. Danach kniete er sich halb nackt auf die raue Meditationsmatte auf dem Boden. Sehr bewusst streckte er seinen Oberkörper und ließ seine Arme schlaff herunter hängen. Er kämpfte die Gedanken an den Tag nieder und überzeugte mühsam seinen Körper davon wenigstens einen Teil der Verkrampfungen zu lösen. Nachdem ihn langsam die Gedanken an den Kerker verließen konzentrierte er sie auf das linke vordere Bein des kleinen Tisches in seinem Zimmer. Er hätte nicht sagen können, warum er sich immer darauf konzentrierte, aber auch wenn er in anderen Räumen das Bedürfnis verspürte sich auf einen festen Punkt zu konzentrieren, war es immer das linke vordere Bein eines Tisches, das er fixierte. Dies ging so weit, dass er für einige Augenblicke hilflos da stand, wenn kein Tisch vorhanden war, auf den er sich hätte konzentrieren können.

  Sobald er mit geschlossenen Augen das Gefühl hatte, das Bein tatsächlich zu sehen, beendete er seine Meditation, legte sich auf seine Pritsche, deckte sich mit der Wolldecke zu und schlief sofort ein.

  Er konnte noch nicht lange geschlafen haben, als ihn die Unruhe auf dem Flur weckte. Etwas musste vorgefallen sein, dass mitten in der Nacht solch ein Aufruhr aufkam. Owithir zwang seine Gedanken, bei ihm zu bleiben, um nicht in Versuchung zu geraten, an Dingen teilzuhaben, die ihn nichts angingen. Er versuchte die Welt um sich herum auszugrenzen und wäre sicher auch bald wieder eingeschlafen, wenn nicht plötzlich jemand an seine Tür geklopft und nach ihm gerufen hätte.

  Er sprang auf und warf sich seine schmutzige Kleidung über. Im Nu war er an der Tür und riss sie auf. Ein junger Novize stand vor ihm. Er war vollkommen außer Atem und es war ihm sichtlich unwohl dabei, mit Owithir zu sprechen. Einige andere Türen waren ebenfalls aufgegangen und mehrere Priester sahen in den von Fackeln schwach beleuchteten Gang hinaus.

  „Meister, der Meister Kerkerer lässt nach euch schicken. Es ist wegen des Gefangenen von heute.“

  „Ich komme.“

  Und während sie noch liefen stieß der Novize bröckchenweise Informationen hervor. Man hatte den Gefangenen gefunden. Den, bei dem die Befragung noch nicht abgeschlossen war. Die Wächter hatten ihn gut versorgt. Er war angekettet worden. Trotzdem lag er jetzt im Sterben.

  Als sie den Kerker erreichten wartete dort schon Warthen. Er war nervös. Seine Sorge um den Gefangenen strahlte Owithir entgegen. Größer noch war jedoch seine Sorge um die Informationen, die ihnen entgehen würden, wenn er tatsächlich starb. Aus der Zelle spürte Owithir nur noch das nachebben von Leben, denn Imne war bereits gestorben. Und er spürte die Hoffnung Warthens, dass er, Owithir, trotzdem noch an das Wissen Imnes gelangen könnte.

  „Er ist tot, Meister Warthen, ich kann doch nicht die Gedanken eines Toten lesen.“

  Entsetzt sah Warthen ihn an, sodass Owithir sich genötigt sah, hinzuzufügen: „Um zu wissen, was ihr von mir erwartet, muss ich eure Gedanken nicht lesen.“ Das war zwar gelogen, aber es beruhigte den Priester fürs erste.

  „Bitte, versucht es trotzdem. Ein Versuch. Wir müssen wissen, was er wusste.“

  Nur einen kurzen Augenblick lang zögerte Owithir noch, denn er war sich nicht sicher, was ihn tatsächlich erwarten würde und er hatte große Angst davor. Aber wenn er es nicht bald versuchen würde, würde jede Mühe vergeblich sein.

  Er betrat die Zelle und nahm den geschundenen Kopf in beide Hände. Wenig achtete er darauf, wie die Kette um die Kehle gehängt war und wie geschickt Imne sich tatsächlich damit erhängt hatte, so dass sein eigenes Gewicht ihn schließlich tötete.

  Owithir brauchte nicht erst mit seinen Gedanken herauszugreifen, denn sie schwebten sowieso schon die ganze Zeit vor ihm her, seit er hier angelangt war. Vorsichtig tastete er nach dem toten Verstand, fand aber keinen mehr. Er blickte sich nach Warthen um, der ihm einen flehenden Blick zuwarf. Warthens Vorgesetzte konnten sehr wütend werden, wenn so etwas geschah. Und Owithir hatte bestimmt etwas gut bei ihm, wenn er ihm jetzt aus der Patsche half. Er hatte nicht so viele Freunde, als dass er eine solche Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen konnte.

  Er versuchte es erneut. Diesmal ging er tiefer. In den Jahren, in denen er im Kerker die Gedanken anderen hatte lesen müssen, war ihm irgendwann einmal bewusst geworden, dass nicht allein der Verstand für die Erinnerung verantwortlich war. Darunter lag noch etwas anderes, dem er keinen Namen gegeben hatte. Vielleicht konnte er dort noch etwas finden?

  Owithir kam erst zurück, als Warthen ihn schüttelte. Er spürte, dass ihm Tränen über das Gesicht liefen. Er hatte viel gefunden, auch Teile von dem, was er gesucht hatte. Aber er hatte noch viel mehr von dem Gefunden, dass er nicht gesucht hatte. Er hatte Imne gefunden und weinte deshalb um ihn wie um einen guten Freund.

  *

  Das Gebiet, in dem Hyleis Bande ihre Besorgungen erledigte und von dem sie sich selbst sagten, dass sie es kontrollierten, war groß, denn es war eines der äußeren Gebiete. Die Stadt hatte inzwischen so viele Banden, dass sie die einzelnen Gebiete in mehreren Kreisen um das eigentliche Zentrum herum verteilt hatten. Hylei hatte sich bereitwillig eines der Gebiete genommen, die am weitesten außen lagen, denn hier war die Gefahr am größten. Hinzu kam, dass sie es auf diese Weise beliebig ausdehnen und in für sie unerforschte Gegenden gelangen konnten. Aber manchmal wünschte sie, es würde nicht 10 Tage dauern, um wieder in die Stadt zu kommen. Besonders in Momenten, in denen sie ihre Rüge vom Rat gerne bereits hinter sich gehabt hätte.

  Zwei Tage waren seit ihrem missglückten Diebstahl vergangen. Inzwischen waren sie etwas ruhiger geworden. Durch den Wald konnte ihnen niemand folgen und zu große Hast machte nur unvorsichtig. Die letzten Abende waren jedoch sehr still gewesen. Die Enttäuschung, versagt zu haben, war bei allen spürbar und gerade bei den beiden jüngsten konnte man sie deutlich im Gesicht lesen. Hylei hatte sich keine Mühe gegeben, sie aufzuheitern, wenn man von ihrer kurzen Ansprache am ersten Abend absah.

  "Ich will niemanden dabei erleben", hatte sie gesagt, "dass er irgendjemandem die Schuld gibt. Es war Pech, dass dieser Mensch direkt auf uns zukam. Und vor‘m Rat übernehme ich die Verantwortung." Damit war für Hylei alles gesagt, was es zu sagen gab und ihre Bande wusste es besser, als ihr gegenüber das Thema noch einmal anzuschneiden. Sie konnte aber spüren, dass sich einige Selbstvorwürfe machten, vor allem Atensul. Warum gerade er jedoch solche Gedanken mit sich herumschleppte, würde Hylei immer ein Geheimnis bleiben. Schließli
ch hatte er nicht die Verantwortung für die Bande, sondern sie. Und Hylei sah keinen Grund, irgendjemandem die Schuld für die Blase eines Menschen zu geben (mit Ausnahme des Menschen - natürlich).

  Der zweite Abend war etwas besser gewesen, denn immerhin hatten sie wieder begonnen zu trainieren. Der Missmut war jedoch geblieben und es wurde nur wenig gesprochen. Was vielleicht auch zu dem Unmut der Bande beitrug, war die Tatsache, dass sie seit 6 Tagen nichts Warmes mehr gegessen hatten. Besonders am Morgen, wenn die Knochen von der Nacht durchgekühlt waren, wünschten sich eigentlich alle einen Schluck Kräuteraufguss. Aber auch abends wäre ihnen das trockene Fleisch warm allemal lieber gewesen. Aber so gab es nur kaltes Wasser und zähes Fleisch. Und es würde noch weitere zwei Tage dauern, bis sie es wieder wagen würden, ein Feuer zu machen. Noch waren sie zu dicht an den Siedlungen dran und die Gefahr irgendeinem Jäger, Holzfäller oder Sammler zu begegnen, war zu groß. Die Aussicht auf ein Feuer trieb sie voran. Aber ihr Misserfolg und ihre Müdigkeit hielt sie zurück. Eine gefährliche Mischung, wie Hylei wusste. Die Eile machte unvorsichtig und die Müdigkeit ließ einen mehr übersehen, als gut war. Deshalb hielt sie ihre Bande zurück und verdoppelte ihre eigene wie auch die Wachsamkeit der anderen.

  Dennoch war es eher irgendeinem der vielen Götter zu verdanken, dass sie am dritten Tag die Patrouille der Priester entdeckten, bevor sie von ihr entdeckt wurden.

  Für Hylei war es das erste Mal, dass sie so dicht an eine Patrouille herankam, weswegen sie auch zum ersten Mal seit langer Zeit die vornehmen Gewänder der Priester bewundern konnte. Die wenigen Jahre, die sie in der Stadt und mit ihrer Bande gelebt hatte, hatten noch nicht vollständig ihre Ehrfurcht vor der Pracht ausgelöscht. Wie ein kleines Kind starrte sie den Prunk an, der sich auf den Roben der beiden Anführer widerspiegelte. Sie wusste, wie albern und unpassend solche Kleidung im Wald war, aber die vernünftige Stimme in ihr, die normalerweise alles kritisierte, war angesichts dieser Bilder für ein paar Augenblicke wie gelähmt, bis sie sich schließlich abwenden konnte und zum Rest der Bande zurückkroch. Atensul, der die wenigen Schritte mitgekommen war, die sie unentdeckt noch näher hatten kriechen können, musterte sie unverhohlen, weswegen Hylei es vermied, ihn direkt anzusehen. Noch unangenehmer war es ihr, dass alle auf Anweisungen warteten, sie jedoch immer noch dabei war, ihre Gedanken zu ordnen. Ihr fehlte die Konzentration. Die Anspannung der letzten Tage machte sich jetzt bemerkbar. Die anderen hatten sich, sobald sie die Patrouille bemerkt hatten, zurückgezogen und warteten jetzt schweigend außerhalb der Hörweite der Menschen.

 

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