Feen Buch 1: Der Weg nach Imanahm

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Feen Buch 1: Der Weg nach Imanahm Page 18

by Peter Singewald


  Ohnfeder hatte sich bereits einige Male Gedanken darüber gemacht, wie wohl die Pilzschabers auf ihre Gäste reagieren würden. Sie waren so scheu und allem Fremden standen sie eher abwehrend gegenüber. Ohnfeder konnte das so gut nachempfinden. Sie wollte auch keine Veränderungen. Aber Shaljel und Streiter waren mit solch großer Macht über ihre kleine, gehütete Eintönigkeit hereingebrochen, dass sie bisher nicht viel Zeit gefunden hatte, darüber nachzudenken, wie verwirrend und furchteinflößend das ganze Chaos, das die beiden verbreiteten, eigentlich war. Nur nachts lag sie manchmal wach und fragte sich, ob sie wirklich das richtige tat. Vielleicht sollte sie ja die beiden ihres Hofes verweisen, vielleicht sollte sie sich wirklich Gedanken um ihren Ruf machen. Vielleicht brachte sie alle in Gefahr.

  Sie wollte Shaljel und Streiter jedoch bei sich behalten.

  Das war ihr bereits nach der ersten Woche klar geworden, als sie ihren Ausflug zu den Pilzschabers sehr kurz hielt und ihnen auch nichts von ihren Besuchern berichtete. Die Wochen danach hatte sie sogar Pilgern Nachrichten mitgegeben, damit die Pilzschabers erfuhren, dass sie nicht kommen würde. Mit der Zeit hatte sie auch aufgehört, den Chuor vor den Handelskarawanen und den Pilgern verstecken zu wollen. Es wäre nach der zweiten Woche sowieso sinnlos gewesen. Alle in der Umgebung wussten von den Besuchern. Nachdem die erste Karavane den Hof verlassen hatte, konnte man sicher sein, dass bald auch alle anderen Enklaven der Aleneshi von Streiter wissen würden. Allerdings gingen besonders die Pilger dabei Ohnfeder immer mehr auf die Nerven, denn sie waren so voller gerechtem Glauben, dass für sie die Verletzung des göttlichen Gebotes der Geheimhaltung ein todeswürdiges Vergehen war. Genaugenommen war diese Sünde wirklich todeswürdig, aber die Aleneshi, die in die Welt hinausgegangen waren, hatten viel von ihren alten Bräuchen in den Höhlen gelassen, unter anderem auch den leichtfertigen Umgang mit dem Leben anderer Aleneshi. Und deshalb war wohl noch niemand, mit Ausnahme der Pilger, auf die Idee gekommen, das Gesetz den Worten nach auszulegen. Außerdem hatte wohl auch Shaljels Anwesenheit etwas damit zu tun, denn sein Ruf reichte weit und oft wurden die besonders Vorlauten sehr kleinlaut, wenn sie erfuhren, mit wem sie gerade sprachen. Es war sehr angenehm, dass er sich darum kümmerte.

  Aber die Pilzschabers waren ihr Problem.

  Deshalb musste sie bald mit ihren Gästen sprechen, denn sie wollte möglichst bald ihre guten, alten Freunde besuchen und würde wohl auch gleich mehrere Tage bei ihnen bleiben, um das Mal, dass sie nicht gekommen war, wieder gut zu machen. Ohnfeder sorgte sich ein wenig, dass die beiden den Hof nicht ohne sie zu bewirtschaften vermochten, oder viel mehr, dass die beiden in ihrer Abwesenheit möglicherweise die undenkbarsten Dummheiten anstellten. Shaljel versicherte ihr jedoch, dass sie einfach so weitermachen würden, wie bisher: Streiter nickte ihr nur aufmunternd zu.

  Schon am Mittag des folgenden Tages machte sich Ohnfeder auf. Sie wäre gerne bereits früher gegangen, doch eine kleine Karavane wollte am Morgen noch ein letztes Mal versorgt werden. Jeder, der schon einmal eine Reisegesellschaft am frühen Morgen auf den Weg bringen wollte, wird wissen, dass immer zu den ungelegensten Zeiten diese Gesellschaften einfach nicht vom Fleck kamen.

  Als Gastgeschenk für ihre Zurückgebliebenen nahm sie, wie immer, einen großen Vorrat an Nahrungsmitteln mit, nur dass sie diesmal nicht einen, sondern drei große Säcke zu schleppen hatte. Als Shaljel sie unter dieser Last ächzen sah, schüttelte er nur missbilligend den Kopf. Er rief kurz nach Streiter. Der Wolfsmensch kam und nahm auf Shaljels Anweisungen hin die drei Säcke leicht in die Hände. Danach begleiteten die beiden Ohnfeder gegen ihre vehementen Proteste den Pilgerpfad entlang bis kurz vor den Höhleneingang. Der Weg war nicht sehr weit, dennoch war Ohnfeder vollkommen außer Atem, als sie sich schließlich trennten, während bei ihren Begleitern nicht einmal der Atem schwerer geworden war. Normalerweise ging sie in aller Ruhe den Pfad hinauf, alleine, für sich, ohne ein Wort zu verlieren. Diesmal aber hatte sie sich die größte Mühe geben müssen, um überhaupt nur Schritt halten zu können. Dazu kam noch das Gespräch, dass sie führten und welches ihr den letzten Atem zu nehmen drohte.

  Zuletzt musste sie die beiden jedoch zurückschicken. Sie wollte alleine gehen, so wie sie es immer getan hatte. Also ließ sie sich die Säcke von Streiter auf den Rücken legen und machte sich mühsam auf das letzte Stück des Wegs. Es war nicht mehr weit, aber der schmale Pfad wandte sich durch dichtes Gebüsch und war überall überwachsen. Sie war dankbar für den Schatten, denn ihr war immer noch sehr warm von dem hastigen Aufstieg. Einmal winkte sie noch zurück, ohne sich jedoch dabei umzudrehen, zu schwer waren die Säcke. Ein Fuß fiel vor den anderen, bis sich schließlich der Klang der Schritte änderte und Ohnfeder wusste, dass sie in der Eingangshöhle angelangt war. Die Höhle war sehr alt und die Füße der Pilger hatten über die vielen, vielen Jahre den Boden glatt poliert. Die Zurückgebliebenen hatten immer wieder versucht, die Höhle so zu verändern, dass sie aussah, als wenn sie verlassen wäre, aber im vorderen Bereich hatten sie es irgendwann aufgegeben. Deswegen war es hier noch leicht, voranzukommen. Aber weiter hinten, wo die Runenmeister die Steine hatten wachsen lassen, musste sie durch die zunehmende Dunkelheit klettern. Was die Pilzschabers damit gemeint hatten, als sie sagten, dass die Runenmeister Steine wachsen lassen könnten, wusste Ohnfeder allerdings nicht. Wurmfängers Erklärungsversuch war für Ohnfeder leider unverständlich geblieben.

  Sie passierte den Schrein zu Ehren Emaofhias, der als Tarnung am Ende des glatten Pfades aufgestellt war und ließ erst einmal die drei Säcke von ihrem Rücken sinken. Sie würde wohl besser die Säcke das letzte Stück einzeln tragen. Nach ein wenig gekraksel über den unwegsamen Pfad, der hinter dem Schrein verborgen war, legte sie schließlich den ersten Sack vor die Stelle, an der sich hinter einem Moosvorhang die geheime Felsentür öffnen würde. Als sie mit dem zweiten Sack zurückkam beugte sich auch bereits einer der Zurückgebliebenen über den Sack, blickte jedoch auf, als er sie kommen hörte. Er lächelte sie an. In dem grünen Licht, dass von seiner Mooslampe ausging, wirkte das Lächeln jedoch nicht besonders vertrauenerweckend. Ohnfeder wusste, dass sie ihn schon öfter an der Tür getroffen hatte, konnte sich aber nicht mehr an seinen Namen erinnern, zu selten hatte sie wirklich mit ihm gesprochen. Er war jedoch ein netter Kerl und hatte ihr bereits öfter etwas von seinem Essen angeboten. Er mochte vielleicht in ihrem Alter sein und Ohnfeder glaubte, dass dies vermutlich ein Annäherungsversuch war. Als er sah, dass Ohnfeder den Weg noch einmal zurückgehen wollte, hielt er sie auf und holte selbst den letzten Sack, ließ sie dabei jedoch im Dunkeln stehen.

  Aleneshi haben keine Angst vor der Dunkelheit und sie vermögen noch erstaunlich viel bei sehr wenig Licht zu sehen. Aber sie lieben die Dunkelheit nicht und um etwas sehen zu können, benötigten auch sie wenigstens eine winzig kleine Lichtquelle. So wartete Ohnfeder also auf die Rückkehr des Wächters und blickte immer wieder nach dem im Gang schimmernden Moos und einem anderen grünlichen Schimmer auf der anderen Seite der Tür. Schließlich kam der Wächter zurück und reichte ihr ihren dritten Sack. Nun war es nicht mehr weit bis zur Unterkunft der Pilzschabers. Auf dem Weg dorthin begegnete sie noch einigen geschäftig aussehenden Zurückgebliebenen, die sie freundlich mit dem alten Gruß willkommen hießen. "Muge Emaofhia vüere die ins Liecht." Sie fühlte sich immer etwas schlecht, wenn sie selbst diesen Gruß aussprach, weil sie sich schon ins Licht geführt fühlte, wie alle Aleneshi, die vor so langer Zeit die Höhlen verlassen hatten. Aber das seltsamste war, dass auch die Zurückgebliebenen sich nicht mehr auf diesen alten Gruß berufen sollten, denn ihre Vorfahren hatten es damals abgelehnt, den Weisungen Emaofhias zu folgen und an die Oberfläche zu gehen. Die Legenden und Lieder aus dieser Zeit sprachen viel von den unendlichen Qualen, die das Volk der Aleneshi erlitten hatte, als sich Geschwister voneinander getrennt, Eltern sich von ihren Kindern verabschiedet und Freunde sich für immer aus den Augen verloren hatten. Denn ein Teil des Volkes hatte den Prophezeiungen ins Licht folgen wollen. Ihr Glaube hatte sie vorangetrieben und sie hatten endlich das verheißene Licht außerhalb der Höhlen erreichen wollen. Aber für den anderen Teil
waren die Höhlen zu sehr ihre Heimat gewesen oder die große Angst vor der Weite hatte sie überkommen, wie sie immer noch, nach Jahrtausenden, einige der Aleneshi, die im Licht lebten, überkam.

  Ohnfeder war so sehr in Gedanken versunken, dass sie leise das stabgereimte Ernennungsepos vor sich hinsang, grad die Stelle, als Emaofhia nach langer Zeit zum ersten Mal zum Volk sprach und den Aufbruch verkündete. Das Epos folgte einer langsamen, aufrüttelnden Melodie, so dass sie tatsächlich nur einen Vers gesungen hatte, als sie bei den Pilzschabers angelangt war. Hätte sie darauf geachtet, wäre ihr aufgefallen, dass sie die Zurückgebliebenen, denen sie in den Gängen begegnete, mit Verwunderung und Ehrfurcht begegneten, denn sie hatte eine sehr ausdrucksvolle Stimme und das Lied hatte eine alte, vertraute Melodie.

  Glimmerstein, das zweite Kind der Pilzschabers, fegte gerade den Weg vor der Wohnhöhle, als Ohnfeder dort angelangte. Sie ließ den Besen fallen und schrie vor Freude laut auf. Nach wenigen Augenblicken wurde der Eingangsvorhang der Höhle zur Seite geschoben und Erdenmoos mit der kleinen Kieselherz an den Rockschößen kam hervor. Als sie Ohnfeder sah, lächelte sie und nahm ihre jüngere Tochter auf den Arm. So standen sie sich gegenüber, bis Ohnfeder ihre Last herabsinken ließ, auf sie zuging und sie herzlich an den Schultern fasste. Näher kamen sich Aleneshi nicht, es sei denn, sie hatten sich erklärt. Wortlos winkte Erdenmoos ihren Gast herein. Sie staunte etwas, als sie die drei Säcke sah. Bevor sie jedoch selber hineinging, hieß sie Glimmerstein noch den Weg weiterzufegen. Glimmerstein war ihr Unmut anzusehen, wie wohl allen jungen Aleneshi in ihrem Alter, wenn sie etwas tun sollten, das sie nicht tun wollten.

  Die Wohnhöhle war nicht besonders geräumig. Es gab eine Ecke, in der Essen zubereitet und gegessen wurde, es gab eine Ecke, in der gearbeitet und geschlafen wurde. Und es gab eine kleine Höhle, in der die Eltern von ihren Kindern getrennt schlafen konnten. So etwas war wichtig. Gewaschen und das Geschäft wurden in einer anderen Höhle gemacht, die von allen benutzt wurde. Nicht dass sie sich oder ihre Kleidung oft wuschen.

  "Endecliche, dû bist widder hie." Erdenmoos lächelte Ohnfeder an. Es war jedoch etwas Fragendes in ihren Augen.

  "Ja, ich bin auch froh, hier zu sein. Ich hoffe, es ist euch recht, wenn ich länger bleibe." Dabei deutete Ohnfeder auf die Säcke voller Essen und zeigte sieben Finger. Jetzt begann wieder die Zeit des Hoffens, denn sie konnte sich nie sicher sein, ob Erdenmoos sie verstand. Vor allem, weil Ohnfeder selbst nie sicher sein konnte, ob sie ihrerseits Erdenmoos verstand. Ihre Gastgeberin setzte jedoch ihre kleine Tochter auf die Erde und half ihr die Säcke in die Essecke zu bringen. Danach räumten sie zusammen die Sachen aus und Erdenmoos legte die persönlichen Utensilien Ohnfeders in die Schlafecke zu ihren eigenen. Als sie damit fertig waren, bemerkte Ohnfeder, dass Erdenmoos sie immer wieder fragend anblickte. Ohnfeder wusste nicht genau, was sie davon halten sollte, aber sie vermutete, dass ihre Freundin endlich genaueres über die Gründe ihres Fortbleibens hören wollte. Vielleicht hatte sie sogar bereits etwas von ihren Gästen gehört. Warum sollte sich eine solche Nachricht nur unter den Aleneshi außerhalb der Höhlen wie ein Lauffeuer verbreiten?

  "Es tut mir wirklich leid, dass ich euch so lange nicht besucht habe." Sie machte eine Pause, um nach den Zeichen des Verstehens in Erdenmoos Gesicht zu suchen.

  "Du hast vielleicht schon gehört, dass ich selbst Gäste habe. Ungewöhnliche Gäste." Erdenmoos nickte:

  "Jâ, gaste"

  "Ich konnte sie nicht allein lassen. Das heißt nicht, dass ich euch nicht gerne besucht hätte." Ohnfeder merkte, wie unangenehm es ihr eigentlich war, sich jetzt für ihr Ausbleiben zu rechtfertigen. Eigentlich hatte sie gedacht, dass es etwas wäre, was die Pilzschabers sicher verstehen würden und dass sie sich deshalb gar nicht erst zu rechtfertigen bräuchte. Aber der Drang, es ihren Freunden verständlich zu machen, war wohl auch ein Drang, sich zu rechtfertigen. Erdenmoos sah sie weiter fragend und mit einem Funken Verständnis an.

  "Es gab nur die ganze Zeit Schwierigkeiten. Du musst verstehen, der eine, Shaljel, gehört nicht zu uns. Und der andere ist ein Chuor, ein Wolfsmensch ... du weißt schon, ein großer Wolf, der auf den Hinterbeinen geht ..." In Erdenmoos Gesicht hatten sich Falten des Unverständnisses gebildet. Ohnfeder kam sich sehr dumm vor. Sie brabbelte nur so heraus, ohne nachzudenken. Woher sollte Erdenmoos Wölfe kennen. Sie selbst hatte noch nie einen zu Gesicht bekommen und kannte sie nur von Zeichnungen und dem, was sie von Shaljel gehört hatte. Und wieso hatte sie gesagt, dass Shaljel nicht zu ihnen gehörte. Natürlich war er anders, fremd. Aber er war doch ein Aleneshi. Aber wahrscheinlich war es genau das. Ohnfeder war sich nämlich nie sicher, ob er wirklich ein Aleneshi war, so fremd kam er ihr zuweilen vor. Und dieses Gefühl hatten wohl auch andere, denn er blieb, gleichgültig, wie gut er sich und andere unterhielt, immer ein Außenseiter. Auch auf den Handelsfahrten, die er als Bewacher begleitete. Und diejenigen, die ihn hatten Kämpfen sehen, waren sich anschließend sicher, dass er irgendetwas anderes sein musste. Erdenmoos wartete weiter auf eine Erklärung.

  "Oje, da habe ich jetzt aber viel Unsinn erzählt. Also, Shaljel ist ein alter Freund, er ist ein Aleneshi, wie wir ..."

  "Jâ, wir wizzen Shaljel Githon. Vile alte maere kunden von imo unde er kumest manige zit hir hera. Daz haben mir vriunte gesaget, diu guot wizzen einic Prestar“, fiel ihr Erdenmoos ins Wort.

  Nun war es an Ohnfeder, an ihrem Verständnis zu zweifeln. Und wie, als wenn sie ihren Gast in noch tiefere Verwirrung stürzen wollte, fügte Erdenmoos flüsternd hinzu: "Ez heizzet, er si der erste Prophete."

  Ohnfeder konnte es nicht glauben. Hatte ihre Freundin "Maere" gesagt? Sie war sich ziemlich sicher, dass Erdenmoos damit nicht eine Geschichte, sondern viel mehr eine Legende gemeint hatte. Aber wie konnte das sein? Ohnfeder verband Legenden mit Dingen, die bereits geschehen waren, lange bevor ihre Urgroßeltern überhaupt geboren worden waren.

  "Sagtest du Legenden?"

  "Jâ, in vilen alten. Ebenliche in der maere von dem zuc der tuncel-vloehenen." Und damit meinte Erdenmoos die Legende von dem Aufbruch der Aleneshi, die dem Wort Emaofhias gefolgt waren. Ohnfeder schwieg. So etwas musste sie erst einmal verdauen. Sie hatte jedoch keine Gelegenheit mehr dazu, denn in diesem Augenblick kam Wurmfänger herein, dicht gefolgt von seinem Sohn Wurmsucher. Als sie Ohnfeder sahen, lächelten sie sie an, waren jedoch nicht überrascht sie zu sehen.

  "Schone, dû bist hie. Wir haben schon in den Gangen gehoret, dû sîst hie."

  Ohnfeder stand auf und sie gingen aufeinander zu, um sich an den Schultern zu fassen. Es fiel ihr noch sichtlich schwer, wieder unbefangen zu lächeln, so sehr hing sie noch dem Gedanken an Shaljels Legende nach.

  "Ich war gerade dabei, Erdenmoos zu erklären, warum ich so lange nicht gekommen bin und da ..."

  "Verzihe mir, Ohnfeder, daz ich dir din wort neme. Ih welle mih nû gernde mit dir nider-setzen unde mit dir sprekan, aber ein Prestar hat mich ouf dem Wege hierhinner angesprokene. Er wird balde hir sin. Sie wellen, daz dû vor den Reshan kummest." Wurmfängers Worte waren drängend und sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. Auch wenn die Gesetze nicht mehr so streng waren, wie zu der Zeit, als alle Aleneshi noch in den Höhlen lebten, war der Ruf vor den Reshan nie ohne Probleme. Und selbst wenn es nicht mit Schwierigkeiten behaftet gewesen wäre, so vermochten doch wenige einer Begegnung mit Gott ohne Furcht entgegenzusehen. Denn in den Reshanen wohnte Emaofhia. Aus ihnen sprach er zu den Zurückgebliebenen, und nur zu ihnen, denn die großen, roten Kristalle waren nur unter der Erde zu finden. Die Orte, an denen sie standen, waren nicht nur Orte der Verehrung und der Weisungsempfängnis, sondern auch des Rechts, denn Emaofhia wachte selbst über die Gesetze, die er seinen Gläubigen verkündet hatte. Und Ohnfeder kannte die Strafe für die Beherbergung Fremder.

  Sie schwieg, erstarrt von der Nachricht. Die Pilzschabers schwiegen mit ihr. Beide, Wurmfänger und Erdenmoos suchten dabei in Ohnfeders Gesicht und in ihrer Haltung einen Hinweis auf ihre Gefühle zu finden. In diese Stille hinein war vom Gang her ein fragendes "Kek?" zu hören. Jemand stand vor dem Eingang und rief den Ruf des Einlasses. Alle Anw
esenden blickten plötzlich zur Tür. Sie hatten gehofft, dass sie noch einen Moment länger Zeit gehabt hätten. Aber wer, außer dem Priester, den Wurmfänger und Wurmsucher getroffen hatten, wäre jetzt zu Besuch gekommen?

  Wurmfänger ging zum Vorhang und hob ihn zur Seite. Ein dienender Priester in seiner dunkelbraunen Kleidung mit dem dunkelblauen Kragen und der schwarzen Kappe auf dem Kopf stand vor der Tür. Er grüßte Wurmfänger und blickte forschend in den Raum. Sie wechselten ein paar kurze Worte und blickten anschließend zu Ohnfeder.

  "Ich stüre iuwich ungernde, Weibe Ohnfeder." Und damit deutete er ihr, aus dem Raum herauszukommen und ihm zu folgen. Die Gesten und seine knappen Worte waren wenig höflich, aber die dienenden Priester waren nicht dafür bekannt, besonders höflich zu sein. Es hieß sogar, dass sie einst die Scharfrichter unter der Aleneshi in den Höhlen gewesen wären. Ein ganz besonders düsteres Gerücht sagte, dass sie auf Geheiß Emaofhias unwürdige oder auch unbequeme Aleneshi in die tiefen Schluchten am Rande der Siedlungen gestürzt hätten. Ein Gerücht, das man nur hinter vorgehaltener Hand zu hören bekam, denn solche Blasphemien sollte man eigentlich nicht verbreiten. Solche grauenvollen Dinge geschahen natürlich heutzutage nicht mehr, aber dennoch waren alle Zurückgebliebenen sehr vorsichtig, wenn sie einem dienenden Priester begegneten. Selbst die kleinsten Kinder. Und auch Ohnfeder hatte sich in den Jahren, die sie jetzt schon die Pelzschabers besuchte, einen gesunden Respekt vor den Dienenden angeeignet. Deshalb folgte sie der Aufforderung augenblicklich. Sie ließ ihre Sachen liegen und sah sich noch einmal nach Erdenmoos um, die dem Blick nicht standhalten konnte und die Augen senkte. Dabei schmiegte sich Kieselherz noch fester an sie.

 

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