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Feen Buch 1: Der Weg nach Imanahm

Page 41

by Peter Singewald


  „Aber im Westen sind die Felllosen und die Wölfe.“

  „Ich hab‘ doch gesagt, Keshik, wir müssen verschwinden. Wir werden uns auch vor ihnen verstecken.“

  „Wie sollen wir das machen? Ihr Jäger könnte das vielleicht, aber die Städter sind das nicht gewöhnt.“

  „Ich weiß es noch nicht. Ich brauch‘ eure Hilfe. Wir müssen das alle zusammen überlegen. Wir leben in der Dunkelheit, wir können auch in Heimlichkeit leben. Aber wir können nicht hier bleiben.“

  Wieder hatten sie genickt, diesmal in dem Bewusstsein, um was es ging. Und so waren sie wenige Nächte später aufgebrochen. Entgegen der Richtung, aus der die Monster sie angegriffen hatten, ohne zu wissen, dass sie ihnen entgegen gingen.

  Aber welche Wahl hatten sie?

  *

  Er war nicht wieder in sein altes Zimmer gezogen.

  Drei Tage waren vergangen. Keine unangenehmen Tage, auch wenn sie nicht aus der Muße bestanden hatten, von der die Bewohner des Hauses annahmen, dass er ihr nachgehen würde. Er war viel in seinem Zimmer geblieben, komfortabler als sein altes, aber weniger günstig gelegen, wenn es darum ging, es zu verlassen und sich auf dem einen oder anderen Weg aus dem Haus zu stehlen. Trotzdem war er nicht wirklich oft dort gewesen. Nach einem Tag hatte er die Routine der Angestellten wie auch der Dame Debnita wieder verinnerlicht gehabt. Es gab immer Abweichungen, damit musste man rechnen, wenn man jedoch die richtigen Geschichten erzählte, gewann man viele Freiheiten. Allerdings hatte er auch etwas dafür tun müssen, etwas, das er früher ohne einen Gedanken daran zu verlieren getan, nun aber lieber vermieden hätte. Wie alles, was mit Debnita zu tun hatte, würde er auch dies nicht seiner Frau erzählen. Ohne Zweifel, es war nicht unangenehm gewesen, der Preis war jedoch, zum ersten Mal seit vielen Jahren, ein schlechtes Gewissen, dass er nur damit beruhigen konnte, dass er tatsächlich sein Ziel erreicht hatte, die Herrin des Hauses seinen anderen Handlungen gegenüber, wenn nicht Blind so doch wenigstens unaufmerksam gemacht zu haben.

  In den verschiedensten Verkleidungen hatte er die letzten Tage den großen Tempel Veshtajoshs erkundet. Als Händler, Bauer und Pilger hatte er den äußeren Bereich beobachtet. Nachts, nachdem er Debnitas Zimmer verlassen hatte, hatte er die inneren Räumlichkeiten erforscht.

  Diesen Abend würde es passieren. Er hatte seine Pläne gemacht und seine Abreise für den kommenden Tag angekündigt. Er war sogar noch auf dem Markt gewesen, um seine Ausrüstung zu komplettieren. Nichts auffälliges, nur zwei Seile, vier Blatt Papier, nicht zu teuer, aber auch nicht das dicke, unhandliche, sowie ein Reiseetui mit Feder und Tinte. Man wusste nie, ob man nicht doch einige Notizen nehmen musste und die Schreibutensilien, die er für seine verschiedenen Verkleidungen verwendete, waren zu unhandlich.

  Sein Zimmer verließ er durch das Fenster, seine Ausrüstung in einer Umhängetasche, wie er sie auf der Straße ohne Aufsehen zu erregen, tragen konnte. In einer Seitengasse änderte er seine Verkleidung, indem er sich ein Tuch um den Kopf wickelte, die Kleidung wechselte und ein wenig Ruß ins Gesicht schmierte. Ungesehen gelangte er auf die Straße, wo die letzten Tavernenbesucher auf dem Weg nach Hause waren. Er ging seinen Weg offen, bis er zu einer Herberge in der Nähe des Tempels gelangte, wo er sich in einem unbeobachteten Moment in eine weitere Gasse stahl und erneut sein Aussehen verändert. Die Jacke, die er trug, brauchte er nur umzudrehen, die Hose war bereits dunkel. Das Tuch behielt er auf, band sich aber ein weiteres um den Mund, nachdem er die Augenpartie noch dunkler geschwärzt hatte. Als letztes zog er sich dunkle Handschuhe an. Sie waren nicht besonders praktisch, deckten aber den letzten hellen Teil seines Körpers ab. Von hier an galt es nicht mehr, nicht aufzufallen, sondern nicht mehr gesehen zu werden. Trotzdem erreichte er den Tempel ohne Probleme oder größere Verzögerungen. Mit den Wachen hatte er Glück. Um sie komplett auszukundschaften, hatte er nicht ausreichend Zeit gehabt, aber einmal hatte er ihre Tour beobachtet und hatte daher eine gute Ahnung davon, wie sie sich verhielten. Er war ihnen in eine Seitengasse gefolgt, als sie bereits um die Ecke am anderen Ende gingen. Das gab ihm ausreichend Zeit, eines seiner Seile auszupacken. Seinen treuen Kletterhaken hatte er bereits daran befestigt, zwei Haken aus gutem Stahl, der so selten war, dass Enk ihn immer wieder befreite, manchmal dafür sogar gefährliche Umwege in Kauf nahm. Zwei Haken verfingen sich nicht so gut wie drei, aber er hatte ausreichend Übung, um nur in den seltensten Fällen mehr als zwei Versuche zu benötigen. Diesmal gelang es ihm mit nur einem, was gut war. Selbst mit den umwickelten Enden machte er Geräusche.

  Wenig später befand er sich auf dem Balkon, der den Klostertrakt des Tempels umgab. Ein überdachter Säulengang, der wohl einst dazu gedacht gewesen war, auf die Stadt hinauszublicken, inzwischen aber nur noch auf die Fassaden anderer Häuser sah. Er schlenderte den Gang entlang. Es gab keinen Grund, sich zu hetzen. Niemand würde ihn hier oben sehen, wenn er sich an der Wand hielt und vermied, Geräusche zu machen. Als er die Tür erreichte, die ihn in das Gebäude führen sollte, prüfte er vorsichtig den Knauf und ertastete das Schloss. Er war fast dankbar für diese Mode, die sich in den Städten durchgesetzt hatte. Ein Schloss an dieser Stelle machte so viel weniger Sinn als ein Riegel von der Innenseite, wenn es darum ging, einen Eindringling draußen zu halten. Ein ordentlicher Riegel oder vielleicht sogar Balken hätte Enk das Öffnen der Tür sehr schwer, wenn nicht sogar unmöglich gemacht.

  Enk nahm seine Dietriche aus einem Gürtelbeutel, ein kleines Mäppchen, das einmal einem Gildenmeister dieser Stadt gehört hatte. Normalerweise behielt er keine Andenken an Aufträge, aber er erkannte gutes Werkzeug, wenn er es sah. Diese eine Abweichung von dem Pfad seiner Professionalität hätte ihn am anschließenden Tag teuer zu stehen kommen können, auf lange Sicht, hatte es sich jedoch bezahlt gemacht.

  Er probierte blind verschiedene kleine Metallstifte aus, hatte dann das Schloss jedoch schnell auf, nachdem er die passenden gefunden hatte. Das schnappen des Riegels ließ sich leider nicht vermeiden. Er horchte in alle Richtungen, bevor er die Tür öffnete. Er blickte durch den Schlitz, der sich auftat und tastete sich vorsichtig in den Aufgang hinaus, der ihn hinunterführen würde.

  Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, war er von Finsternis eingeschlossen, die die Dunkelheit, in der er sich zuvor bewegt hatte, wie einen Sonnenaufgang wirken ließ. Aber eine Treppe im Dunkeln hinunterzugehen war keine Herausforderung. Kinder konnten das. So wie die Klöster im Allgemeinen angelegt waren, würde die Treppe auch nicht weiter als bis ins Erdgeschoss reichen. Er erreichte ohne Problem die untere Tür und lauschte erneut. Sie war dick und stabil, ließ dennoch durch Ritzen schwaches Licht von der anderen Seite hindurch.

  Als Enk sich so sicher war, wie er nur werden würde, dass sich niemand auf der anderen Seite bewegte, wagte er einen Blick hinaus. Er hatte Glück und huschte unentdeckt in den Gang.

  Wenn dieser Tempelkomplex nur annähernd so aufgebaut war, wie diejenigen, in denen er bereits gearbeitet hatte, dann würde sich das Archiv recht Zentral in einem glasgedeckten Raum befinden, was diese Räume zu den wertvollsten Zimmern in der Stadt machte. Was selbst für den reichsten Patrizier ruinös gewesen wäre, war für die Priester eine vernachlässigbare Anschaffung, denn die Gesamtheit der einzelnen Orden teilte sich das Monopol auf die Glasherstellung.

  Dafür sparten sie an Öl, Kerzen und Fackeln, was ihm entgegen kam. Wenn überhaupt brannte vor einem kleinen Schrein eine einsame Kerze, deren Licht ihm eher half als ihn hinderte, denn so konnte er sich leichter fortbewegen und auch die Schatten anderer wahrnehmen, da er auf sie achtete, im Gegensatz zu den Bewohnern dieses Hauses. Da der letzte Gottesdienst bereits vor Stunden abgehalten worden war, musste er nur einmal ein paar Schritte in einen dunkleren Schatten zurückweichen, als ein älterer Priester mit Darmproblemen durch die Gänge hastete. Er konnte ihn wenig später aus dem Abort hören.

  Sein Weg führte ihn nicht an den Türen der Mönchszellen vorbei, da diese weiter hinten im Gebäude untergebracht waren. Stattdessen entdeckte er neben der Küche auch den Speisesaal, ein paar Schulzimmer, die Wäscherei, Brauerei und eben den Abort. Als er die Tür zum Scri
ptorum fand, wunderte er sich für einen Augenblick, warum es gerade in der Nachbarschaft all dieser Räume untergebracht war, fand aber im inneren schnell heraus, dass er durch einen Hintereingang hereingelangt war.

  Nun begann der schwierigste und vielleicht gefährlichste Teil seines Einbruchs, denn er musste die Berichte finden, was bedeutete, dass er Licht benötigte. Er zog seine kleine Abblendlampe hervor, die nur wenig Licht in eine Richtung ausstrahlte und machte sich an die Arbeit.

  Wie Enk aus anderen Tempeln wusste, waren die Schriftrollen der Berichte chronologisch geordnet. Die Berichte, die er gelesen hatte, waren ebenfalls datiert gewesen, doch war er sich nicht sicher, ob es das Datum der Befragung oder dass der Abschrift gewesen war. Er entschied sich, ersteres anzunehmen und näherte sich mit Stichproben dem Zeitraum. Er arbeitete effektiv und sicher, trotzdem benötigte er über drei Stunden, um an sein Ziel zu gelangen, denn er war darauf bedacht, so wenige Spuren wie möglich zu hinterlassen.

  Jedes Mal, wenn er einen Bericht fand, legte er an die Stelle einen der Stäbe, die neben den Regalen genau für diesen Zweck aufgehängt waren. Anschließend ging er zu einem der Buchständer, um sie unbeschädigt ausrollen zu können.

  Er war kein schlechter Leser, dennoch bereitete ihm das Altdrachische, welches die Priester in ihren offiziellen Dokumenten verwandten, gewisse Schwierigkeiten. Mühsam entzifferte er Zeichen für Zeichen jeden einzelnen Text. Seine Ausbeute war jedoch ernüchternd. So viel die Abschriften versprochen hatten, so wenig hielten die Originale. Eines der neusten Protokolle ließ ihn jedoch Hoffnung schöpfen. Ein Waldbauer hatte beschrieben, wie er und seine Familie von einem alten Freund besucht worden waren, allem Anschein nach ein Magier, der durch die Welt wanderte und ihnen zu einem Kind verholfen hatte. Er hatte ihn Estron genannt, ein Name, den Enk kannte. Aber was bedeutete ein Name, wenn man jemanden suchte, der seine Gestalt wechseln konnte. Der Bericht wäre jedoch nur halb so interessant gewesen, wenn am Ende nicht auch vermerkt gewesen wäre, dass der Bauer mit Namen Lanei noch bis zu seiner Hinrichtung in den Verliesen untergebracht war.

  Enk machte sich einige Notizen zu diesem Lanei bevor er die Rolle wieder wegräumte. Zwei weitere Protokolle arbeitete er noch ab, womit er seine Arbeit im Scriptorum beendete. Bevor er jedoch die Räumlichkeiten verließ, löschte er seine Lampe und überlegte sich, was weiter zu tun sein würde. Seine ursprüngliche Planung hatte nur bis hierher und dem Weg aus dem Gebäude zurück in sein eigenes Zimmer gereicht. Der Besuch im Kerker war nicht vorgesehen gewesen. Dank Bruder Jufem hatte er jedoch eine sehr genaue Vorstellung, wo er sich befand und war sich sicher, dass er ihn betreten und wieder verlassen konnte. Nur für ein Verhör würde nicht mehr ausreichend Zeit bleiben, da die Priester bald zu ihren Morgengebeten aufstehen würden.

  Was waren die Alternativen?

  Er könnte ein zweites Mal einbrechen, und sich die Nacht über mit dem Gefangenen beschäftigen. Außerdem bestände die Möglichkeit, ihn zu befreien und mit ihm die Stadt zu verlassen, um sich einen stillen, abgeschiedenen Ort zu suchen, wo er alles nötige in Erfahrung bringen könnte.

  Am Ende verschob er seine Entscheidung, da er es für angebracht hielt, sich erst einmal einen Überblick über den Kerker zu verschaffen.

  Mit der gebotenen Vorsicht verließ er den Raum und erreichte den Gang, der ihn zum Verließ führen würde. Ein kurzer Blick um die Ecke entschied sein weiteres Vorgehen. Vor der Tür stand ein Wächter, was nicht weiter schlimm war, denn er war zuversichtlich, dass er mit den Passwörtern, die er von Jufem erhalten hatte, auch an ihm vorbei gelangen würde. Allerdings würde der Wächter vermutlich am nächsten Morgen von seinem Kommen berichten. Aus diesem Grund war an eine Wiederholung dieses Unterfangens nicht zu denken, wenn er jetzt das Verließ aufsuchte. Noch konnte er abbrechen, aber die Vorstellung, noch einen Tag in jenem Haus zu verbringen und erneut gezwungen zu sein, seine Frau betrügen zu müssen, gab letztlich den Ausschlag.

  Er lauschte ein letztes Mal und straffte sich. Anschließend holte er den schwersten Gegenstand, den er für den Notfall eingepackt hatte, aus seinem Beutel, eine alte Kutte, die ihm schon gute Dienste geleistet hatte. Sie entsprach nicht mehr ganz der Mode der Priester, sie hatte aber den Vorteil, dass sie eine Kapuze besaß. Bei den Lichtverhältnissen in diesen Gängen konnte er den Wächter vermutlich lange genug täuschen, bis er dicht an ihn herangekommen war, um ihn unschädlich zu machen. Seinen Beutel ließ er hinter der Ecke liegen und nahm nur das Tuch, welches er vor dem Mund getragen hatte in die rechte und ein Stückchen Seil mit einem dicken Knoten an einem Ende in die linke Hand. So näherte er sich dem Mann, mit gesenktem Kopf und gemächlichen Schritten.

  Unter dem Kapuzenrand hervor konnte er sehen, wie sich der Wächter aufrichtete und ihn bereits in angespannter Haltung erwartete. Als Enk sich auf 10 Schritte genähert hatte, rief der Wächter: „Halt, Bruder, was sucht ihr hier zu so später Sunde? Nennt das Passierwort!“

  „‘Die Dunkelheit widersteht, obsiegt jedoch nicht‘.“ Ein angemessenes Passierwort für einen Ort, an dem alles ans Licht gezerrt werden sollte, zumindest wenn man bedachte, dass sich die Priester vermutlich über ihre ach so geistreiche Anspielung amüsiert hatten. Enk kannte die Schrift, aus der diese Stelle stammte und sie hatte nichts mit Folter zu tun.

  „Tut mir Leid, Bruder, aber das ist ein altes Passierwort.“ Während der Wächter noch Sprach, hatte Enk seinen Weg fortgesetzt. Nun stand er nur noch zwei Schritte von ihm entfernt.

  „Ach, wie schusselig von mir“, nur noch ein Schritt. Der Wächter nahm seinen Spieß vor die Brust, um den seltsamen Bruder im Zweifelsfall abwehren zu können. „Wartete. Ich habe es gleich.“ Ein plötzlicher Sprung, die Hand mit dem Tusch schoss hervor und versenkte es im Mund des Mannes. Anschließend flog das Seil in einem Bogen mit dem Knoten voran um den Hals herum und Enk zog es so fest zu, wie er nur konnte. Dabei drückte sein Ansturm den Wächter seitlich gegen die Wand, was ihn ins Straucheln und schließlich zu Fall brachte. Ein riskantes Manöver, aber Enk hatte es lange geübt und schon oft angewandt. Jemanden von hinten zu erdrosseln war zwar einfacher und viel ungefährlicher. Aber manchmal hatte man diesen Luxus nicht und er wollte Blutvergießen vermeiden. Nicht, weil er diesen Ort auf irgendeine Art für geweiht hielt. Sollte er jemals eine Heiligkeit besessen haben, dann hatte seiner Meinung nach die Anwesenheit der Priester schon lange dafür gesorgt, dass er geschändet worden war.

  Der Wächter versuchte noch nach seinem Dolch zu greifen, aber Enk hockte sich auf ihn und kontrollierte bald die Arme seines Gegners mit seinen Beinen. Es ging schnell vorbei und Enk holte tief Luft, bevor er sich erneut in alle Richtungen umhorchte. Anschließend setzte er den toten Wächter an die Wand, gerade so, als wäre er im Dienst eingeschlafen. Das würde die Entdeckung zwar nicht verhindern, aber vielleicht um ein paar wertvolle Herzschläge verzögern. Zuletzt holte er seine Tasche und öffnet schließlich die große, schwere Tür zum Verließ mit einem Schlüssel vom Schlüsselbund, den er dem Wächter abgenommen hatte.

  Sein Vorgehen ließ ein wenig die Eleganz fehlen, aber in Ermangelung eines guten Plans oder ausreichend Vorbereitungszeit musste er improvisieren und etwas hastiger vorgehen. Trotzdem schlich er die Treppe tastend hinunter, ohne seine Laterne erneut zu bemühen. Die Tür am Ende der Treppe spürte er jedoch weniger mit den Händen als mit dem ganzen Körper. Er ihr so nahe, dass er sie bereits roch und meinte, sie mit den Haaren Nasenhaaren spüren zu können. Er bremste den Schritt ab, den er gerade machen wollte und suchte die Tür nach dem Schloss ab. Auch hier passte einer der Schlüssel des Wächters. Dahinter fand er sich zwei weiteren Türen gegenüber, die jedoch keine Schlösser besaßen. Eine kleine Kerze brannte zwischen den Türen unter einem Bild der Sonne. Vermutlich verbeugten sich die Priester vor dem Symbol ihres Gottes, bevor sie sich für eine der beiden Türen entschieden. Aller Wahrscheinlichkeit und Erfahrung nach führte die rechte Tür zu den Zellen der Gefangenen, die linke hingegen zu den Befragungsräumen. Vielleicht waren dort auch noch ein oder zwei Kammern für die Folterknechte angelegt. Es war also durchaus möglich, dass sich hier unten noch mehr Leute befanden, obwohl a
nzunehmen war, dass sie den Schlaf der Gewissenlosen schliefen.

  Enk lauschte an beiden Türen, bevor er sich für die rechte entschied und sie leise öffnete. Auch hier brannte eine einsame Kerze, was jedoch nicht ausreichte, um dem Raum Helligkeit zu schenken. Eine Kerze genügte nicht für 20 Zellen in zwei sich gegenüber liegenden Reihen. Die in der Mitte hatten Glück, aber Enk bezweifelte, dass diese Zellen zuerst belegt wurden. Er hatte eine gute Vorstellung von der Auswirkung der Dunkelheit und der flackernden Schatten auf die Angst der Gefangenen und erwartete, dass auch die Priester sich darüber ihre Gedanken gemacht hatten.

  Er löste die Kerze aus ihrer Halterung und begann systematisch in jede Zelle zu leuchten. Nur fünf waren besetzt, davon drei mit Frauen. Alle schliefen. Er überlegte, ob die Berichte irgendwelche körperlichen Merkmale genannt hatten, die ihm helfen konnten, aber bis auf die angewandten Befragungsmethoden wurde das körperliche von den Schreibern vernachlässigt. Die Male, die zwangsläufig übrig bleiben mussten, konnte er jedoch nicht in der Dunkelheit erkennen, ohne die Männer genau zu untersuchen.

  Er schloss die erste Zelle auf und hockte sich neben den Mann, der zusammengerollt auf einem stinkenden Strohlager lag. Er war verschwitzt, blutig und eingenässt, Enk hatte jedoch nichts anderes erwartet. Er war außerdem auch sehr Jung, noch nicht einmal 20, wenn er es richtig einschätzte. Lanei war Vater zweier Kinder und ein freier Bauer, der angeblich lange mit seiner Frau keine Kinder bekommen hatte. Natürlich war es möglich, dass der Mann vor ihm Lanei war, aber wahrscheinlich war es nicht. Enk verließ die Zelle, verschloss sie wieder und öffnete die Zelle des anderen Mannes. Dieser entsprach im Alter schon eher Enks Vermutungen, wenn er sich auch sonst in dieser Dunkelheit kaum von dem anderen Mann unterschied.

  „Lanei? Aufwachen. Du musst mitkommen.“

  Der Mann zuckte nur in seinem Schlaf. Enk setzte seine Bemühungen fort, indem er ihn leicht rüttelte und ihn immer wieder ansprach. Der gedungene Mörder merkte, wie er immer nervöser wurde. Es dauerte alles zu lange. Seinen Schätzungen nach, hatte er vielleicht noch eine Stunde, bevor die Priester die Leiche am Eingang entdecken würden. Er wurde vehementer und wünschte sich gleichzeitig, er hätte einen Wasserschlauch mitgenommen. Er hätte vielleicht einen bei den Folterknechten gefunden, aber das Risiko war ihm zu groß.

 

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