Faded Duet 1 - Faded - Dieser eine Moment

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Faded Duet 1 - Faded - Dieser eine Moment Page 10

by Julie Johnson


  Ein Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass der Bus jetzt schon zwanzig Minuten Verspätung hat. Ich würde aufgeben und die knapp zwanzig Kilometer zu Fuß gehen, wenn es nicht so heiß wäre. Zwei Stunden in dieser Hitze würden dafür sorgen, dass ich tot am Straßenrand ende, bevor ich auch nur die Hälfte des Wegs hinter mich gebracht habe. Ich löse meine überkreuzten Füße, die in Sandalen stecken, damit meine Oberschenkel nicht zusammengepresst sind. Dann ziehe ich mein klebriges Sommerkleid von meiner Haut und fächere mir mit dem Stoff Luft zu. Das macht es auch nicht viel besser. Mein Haar, das von der Dusche immer noch feucht ist, fängt langsam an, sich zu kräuseln. Ich sollte es zu einem Knoten zusammenbinden, aber ich will hübsch für sie aussehen.

  Sie hat mich das letzte Mal vor über zwei Jahren gesehen.

  Ein weiterer Schweißtropfen rinnt in meinem Nacken von meinem Haaransatz an meiner Wirbelsäule entlang nach unten. Wenn das so weitergeht, werde ich bei meiner Ankunft aussehen, als bestünde ich aus Kerzenwachs. Ich rutsche unbehaglich auf der harten Bank hin und her und versuche, den Bus mit meiner Willenskraft dazu zu bringen, aus dem Nichts aufzutauchen. Und zum hundertsten Mal wünsche ich mir, dass ich Zugang zu einem Auto hätte. Ich weiß, dass ich Carly wahrscheinlich hätte darum bitten können, mich zu fahren, aber sie muss heute Abend arbeiten, und ich würde nur ungern der Grund dafür sein, dass sie zu spät zu ihrer Schicht kommt, weil das hier länger dauert als erwartet. Mein Besuch ist längst überfällig. Zum Teil weil ich keine Freizeit hatte … aber hauptsächlich weil ich mich davor gedrückt habe, hinzugehen. Ich habe mich in letzter Zeit vor einer Menge Dinge gedrückt.

  Begegnungen mit dunkelhaarigen, teufelszüngigen Musikern eingeschlossen.

  Seit ich Ryder in jener Nacht schlafend im Nightingale vorfand, sind vier Tage vergangen. Und seitdem habe ich es mir nicht gestattet, an seine Augen oder sein Lächeln zu denken und auch nicht daran, wie er meinen Namen aussprach. Zumindest nicht oft.

  Kleine, wiederhole ich in Gedanken wie ein Rettungsanker, wann immer ich in gefährliche Regionen abschweife. Er nannte mich Kleine.

  Normalerweise genügt dieser Gedanke, um mich aus der Besessenheitsspirale zu ziehen. Um mich daran zu erinnern, dass er eindeutig nicht an mir interessiert ist, egal was ich empfinden mag. Kerle, die einem die Zunge in den Hals stecken wollen, nennen einen normalerweise nicht »Kleine«, es sei denn, sie leiden an ernsthaften, nicht diagnostizierten Störungen, um die sich besser ein ausgebildeter Psychiater kümmern sollte. Irgendwie bezweifle ich, dass das hier das Problem ist.

  Er steht einfach nicht auf dich, Felicity.

  Find dich damit ab.

  Ich wünschte, ich könnte ihn komplett aus meinem Kopf verbannen, aber er hat sich zu fest darin eingenistet, als dass ich ihn einfach so abschütteln könnte. Er ist wie ein Teil eines nervigen Hits, den man einmal hört und dann immer wieder singen muss, obwohl man nicht mal den kompletten Text kennt.

  Die Frau, die neben mir auf der Bank wartet, steht auf, als ein Uber an der Bordsteinkante hält.

  »Geben Sie auf?«, frage ich und ziehe die Nase kraus.

  »Ich habe gerade mal in die App für die öffentlichen Verkehrsmittel geschaut – dort steht, dass es technische Probleme gibt«, informiert sie mich und steckt ihr Handy zurück in ihre Handtasche. »Es könnte noch eine weitere Stunde dauern, bis der Bus hier vorbeikommt, und ich habe einen Termin, den ich nicht verpassen darf.«

  »Mist«, fluche ich leise.

  »Viel Glück!« Sie zieht die Tür des Autos auf und steigt ein. Ein Schwall kühler Luft von der Klimaanlage bläst mir entgegen. Ich stöhne beinahe. Die Kühle hat ein Ende, als sich die Tür schließt, und die kurze Erleichterung, die ich verspürt habe, wird mir von der erdrückenden Hitze genommen.

  Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalten kann.

  Wenn ich ein Handy hätte, hätte ich ebenfalls bereits ein Uber bestellt. Da ich jedoch auf primitivere Optionen beschränkt bin, beäuge ich das Münztelefon an der Ecke. Ich bin kurz davor, einzuknicken und etwas von dem schwer verdienten Geld zu benutzen, das ich in meiner Tasche verstaut habe, um ein Taxi zu rufen, als ein weißer Kleintransporter an der Bordsteinkante vor meiner Bank anhält. Er sieht wie etwas aus einem schlechten Film aus, mit dem man die Öffentlichkeit auf die Gefahr von Kindesentführungen aufmerksam machen will.

  Die Scheiben sind dunkel getönt, also kann ich nicht hindurchsehen. Aber auf der Seite befindet sich ein mir unbekanntes Logo: ein Baum im Inneren einer Glühbirne. Die mit einer Schablone gemalten Großbuchstaben, die darunterstehen, bilden die Worte WOODS ELEKTRIK. Ich sehe auf, als das Beifahrerfenster heruntergelassen wird. Ich weiß nicht, wen ich am Steuer erwarte, aber es ist ganz sicher nicht Ryder.

  Herrgott, der Mann taucht immer da auf, wo ich am wenigsten mit ihm rechne.

  Ich vermute, dass das Teil seines Charmes ist.

  »Hey!«, ruft er und lehnt sich über die Mittelkonsole.

  »Ich glaube, dein Text lautet eher: ›Willst du was Süßes, Kleine?‹« Ich schüttle den Kopf. »Netter Versuch, gruseliger Typ im Kleintransporter.«

  Ich sehe, wie im Halbdunkel der Fahrerkabine sein Grinsen aufblitzt. »Kann ich dich irgendwohin mitnehmen?«

  »Nein.«

  »Komm schon, du siehst aus, als würdest du da draußen gegrillt werden.«

  »Es geht mir gut.« Ich wische mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Der Bus wird jede Minute hier sein.«

  »Wie du willst.« Er lässt ganz leicht den Motor aufheulen. »Aber du solltest wissen … dass ich eine Klimaanlage habe. Und eine Tüte mit frischen Donuts.«

  Ich recke stur das Kinn vor, auch wenn mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Ich hatte seit Ewigkeiten nichts Süßes mehr.

  Ryder hebt die Tüte hoch und schüttelt sie verlockend.

  »Was für Donuts?«, frage ich, bevor ich mich davon abhalten kann.

  »Steig einfach ein, Felicity.«

  »Du weißt doch noch nicht mal, wo ich hinwill«, argumentiere ich.

  »Befindet sich dein Ziel innerhalb der Staatsgrenze?«

  Ich zögere kurz. Dann nicke ich.

  »Gut. Dann steig ein.«

  Meine Willenskraft knickt vollkommen ein. Angesichts von Donuts und kalter Luft bin ich machtlos. Ich beuge mich vor, hebe meine Gitarre auf, ziehe die Schiebetür des Transporters auf und hieve den Koffer hinein. Der hintere Teil des Transporters ist mit allerlei Ausrüstungsgegenständen gefüllt – Kabel und Drähte und technische Geräte, die mir nichts sagen.

  »Wirf deine Gitarre einfach irgendwohin«, sagt Ryder, der sich halb herumgedreht hat, um mich zu beobachten.

  Ich sichere den Gitarrenkoffer zwischen zwei Behältern mit Ausrüstungsgegenständen. Dann klettere ich auf den Beifahrersitz. Sobald die Tür zuschlägt, lehne ich mich gegen den kühlen Sitz, schließe die Augen und seufze tief. Ich fühle mich fiebriger als damals in meinem ersten Jahr auf der Highschool, als ich mit einer Halsentzündung im Krankenhaus landete. Meine Körpertemperatur muss mittlerweile kritische Werte erreicht haben.

  Ich höre, wie Ryder an den Knöpfen der Klimaanlage herumhantiert und sie auf die maximale Einstellung für Kühlung dreht. Ich genieße den Schwall aus kalter Luft, als etwas auf meinem Schoß landet.

  »Iss einen davon. Das wird dir neues Leben einhauchen.«

  Ich öffne die Augen einen Spaltbreit. Gierig ziehe ich einen Donut aus der Tüte und beiße hinein. Die Honigglasur trifft auf meine Zunge und ist so süß, dass ich sofort in ein diabetisches Koma fallen könnte. Wenn ich ehrlich bin, schmeckt dieser Donut nach Wochen voller Müsliriegel und kalter Sandwiches aus dem Gemischtwarenladen so unfassbar gut, dass er das Koma wert wäre.

  »Oh mein Gott«, sage ich mit vollem Mund. »Das ist unglaublich.«

  Ryder lacht leise und legt den Gang ein. Wir fahren einen halben Block weit, bevor wir an einer roten Ampel anhalten müssen. Er schaut zu mir, während ich den letzten Bissen verputze und mein Magen zufrieden grummelt.


  »Nur zu«, sagt er leichthin, als er mich dabei erwischt, wie ich erneut die Papiertüte beäuge.

  »Nein, ist schon gut. Ein Donut genügt mir.«

  Er zieht die Augenbrauen hoch.

  »Okay, zwei genügen mir. Aber ich werde dir nicht all deine Donuts wegessen.«

  »Am nächsten Tag schmecken sie ohnehin nicht mehr so gut.« Er zuckt mit den Schultern. »Ich teile gern.«

  Ich nehme mir einen zweiten und grinse verlegen. »Danke.«

  »Also, wo geht es hin?«

  »Etwa zwanzig Kilometer über die Route 65 in Richtung Süden«, sage ich kauend. »Elmwood Estates.«

  Er wirkt neugierig, stellt aber keine Fragen, während er unser Ziel in sein Navi eintippt. An der nächsten Kreuzung wenden wir und folgen den Schildern in Richtung Fernstraße.

  »Mir gefällt übrigens dein Kleid«, sagt er beiläufig. »Ich habe dich bislang immer nur in deiner Arbeitskleidung vom Nightingale gesehen.«

  »Ich habe vergessen, wie schön es sich anfühlt, ein Kleidungsstück zu tragen, das nicht meinen kompletten Bauch entblößt und das man unter keinen Umständen als Hotpants bezeichnen kann.«

  Er lacht.

  »Da wir gerade von Arbeitskleidung sprechen …« Ich mustere das weiße Logo von WOODS ELEKTRIK, das auf sein schwarzes Polohemd gestickt ist. »Was hat es mit dem Transporter auf sich?«

  »Oh, das hier? Das ist nur mein glamouröser regulärer Job.« Seine Worte klingen unbeschwert, aber in den Falten um seine Augen herum liegt ein Anflug von Verbitterung.

  »Ich störe dich doch nicht etwa bei der Arbeit, oder?«, frage ich plötzlich besorgt.

  »Nein. Ich habe für den Rest des Nachmittags keine Termine. Größtenteils teile ich mir meine Arbeitszeit selbst ein.«

  »Du musst einen sehr verständnisvollen Chef haben.«

  »Das ist der Vorteil, wenn man für das Familienunternehmen arbeitet.« Er tippt mit einem Finger auf das Logo auf seiner Brust. »Mein Dad ist Tontechniker für viele der örtlichen Bars, Restaurants und Clubs. Nachdem ich letzten Sommer meinen Abschluss an der Vandy gemacht hatte, fing ich an, ihm auszuhelfen.«

  »Du warst auf der Vanderbuilt University?«

  Er wirft mir einen Blick zu. »Wenn du noch ein wenig überraschter klingen würdest, wäre ich beleidigt.«

  »Ich dachte nur, dass du durch und durch Musiker wärst. Du kommst mir nicht wie der Collegetyp vor.«

  »Ehrlich gesagt bin ich auch nicht der Tontechnikertyp, aber versuch mal, das meinem Vater zu erklären. Er würde nichts lieber sehen, als dass ich in ein paar Jahren die Firma übernehme, damit er und meine Mutter sich in einem Golfclub für Eltern mit erwachsenen Kindern zur Ruhe setzen können.«

  »Und ich schätze, dass du diesen Plan nicht so toll findest.«

  »Das könnte man so sagen.« Er schüttelt den Kopf. »Ich habe großen Respekt vor meinem Vater. Er arbeitet verflucht hart, hat meine Collegeausbildung bezahlt und sich diese Firma aus dem Nichts aufgebaut … Aber ich wollte nie sein Leben haben.«

  »Du willst auf der Bühne stehen«, murmle ich.

  Er wirft mir einen Blick zu. »Ich wette, du findest das dämlich, was?«

  »Nein! Natürlich nicht.«

  »Das überrascht mich, wenn man bedenkt, wie sehr du darauf beharrst, niemals ein eigenes Album aufnehmen zu wollen.«

  Ich schnaube leise. »Lass meinen Lebenswandel da raus.«

  »Wenn du mir erklären würdest, warum du dich so sehr gegen musikalische Darbietungen sträubst, könnte ich dich vielleicht verstehen. Vielleicht würde ich dann sogar aufhören, dich deswegen zu nerven.«

  »Das bezweifle ich.«

  »Versuch’s doch mal.«

  »Vielleicht habe ich Lampenfieber«, erwidere ich ausweichend.

  »Du? Mit deiner frechen Einstellung?« Er lacht. »Das glaube ich nicht.«

  »Vielleicht kennst du mich nicht so gut, wie du denkst.«

  »Wenn du mal über dich reden würdest, würde ich dich besser kennen.«

  »Nur Narzissten reden ständig über sich selbst.«

  »Ich habe nicht ›ständig‹ gesagt. Ich habe ›mal‹ gesagt.«

  »Okay, dann bin ich eben kein offenes Buch.«

  »Felicity, du bist ein verschlossenes Buch. Ein Buch, das mit einem Vorhängeschloss versehen ist. Und in Geheimschrift verfasst ist, damit man, nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass es doch mal jemandem gelingt, das Schloss zu knacken, einen Entschlüsselungscode braucht, um den Inhalt zu verstehen.«

  Ich verdrehe die Augen. »Was willst du von mir? Eine Runde mit zwanzig Fragen?«

  »Nein – zwei oder drei sollten genügen.« Er hält inne. »Fürs Erste.«

  »Ich bereue das jetzt schon.«

  »Zu spät. Du hast zugestimmt. Jetzt kannst du keinen Rückzieher mehr machen, und lügen darfst du auch nicht.«

  »Meinetwegen.«

  »Erste Frage – und die ist eine echt harte Nuss, also mach dich bereit …« Er trommelt mit den Händen theatralisch auf dem Lenkrad herum.

  »Die Spannung wurde bestmöglich aufgebaut«, sage ich ungeduldig.

  »Drei Lieblingsdinge – Cocktail, Farbe und Stellung.« Seine Augen funkeln schelmisch. »Damit meine ich natürlich die Schlafstellung.«

  Ich laufe rot an. »Von all den Dingen, die du mich fragen könntest, willst du ausgerechnet das wissen?«

  »Ich bleibe bei meiner Frage.«

  »Schön.« Ich werfe die Hände in die Luft. »Ich habe keinen Lieblingscocktail, weil ich keinen Alkohol trinke. Das habe ich noch nie getan, und ich habe auch nicht vor, es in Zukunft zu tun.«

  »Interessant …«

  »Psst.« Ich starre ihn böse an. »Meine Lieblingsfarbe hat keine Bezeichnung, oder falls doch, dann kenne ich sie nicht. Aber es ist die Farbe, die der Himmel kurz vor einem großen Sturm annimmt, wenn alles trüb und dunkel ist. Nicht schwarz oder grün oder blau oder lila, sondern irgendwie alles zusammen.« Ich lege den Kopf schief. »Oh, und meine liebste Schlafstellung ist auf der Seite, vorzugsweise mit eingeschaltetem Licht und verbarrikadierter Tür.«

  In seinen Augen blitzt etwas Scharfes auf, und ich weiß, dass er versucht herauszufinden, ob ich scherze. Ich scherze nicht, aber ich habe nicht vor, ihn das wissen zu lassen.

  »Siehst du, das ist das Problem mit dir«, murmelt er. »Ich denke, dass ich dich ein wenig besser durchschauen kann, indem ich dir Fragen stelle, aber nun habe ich bloß noch mehr Fragen.«

  »Das ist nicht meine Schuld.«

  »Deine Lieblingsfarbe ist … Düsternis?« Er schüttelt den Kopf. »Herrgott.«

  Ich versuche ein Lachen zu unterdrücken, doch es gelingt mir nicht. »Was ist denn deine Lieblingsfarbe? Oh, ist es etwas Klischeehaftes wie die Farbe des letzten Höschens, das eine Frau in deiner Wohnung zurückgelassen hat?«

  Er schnaubt. »Freut mich zu hören, dass du eine so hohe Meinung von mir hast, aber eigentlich ist meine Lieblingsfarbe Schwarz.«

  »Wie deine Seele?«

  »Nein, wie deine.«

  Ich lache erneut. »Touché.«

  »Nächste Frage.« Er räuspert sich. »Um wen geht es in dem Lied, das du letztens gesungen hast?«

  Das Lachen bleibt mir sofort im Hals stecken. Ich schaue aus dem Fenster. »Um meine Eltern.«

  Im Transporter ist es vollkommen still.

  »Frag mich etwas anderes«, flehe ich nach einem Moment.

  »Okay.« Seine Stimme ist sanft. »Wenn dir morgen jemand einen Plattenvertrag über eine Million Dollar anbieten würde, würdest du ihn annehmen?«

  »Fällt es dir so schwer zu glauben, dass ich einfach keinerlei Ambitionen habe, ein Star zu werden?«

  »Mit einer Stimme wie deiner? Ja.« Er legt den Kopf schief und betrachtet mich. »Es fällt mir leichter zu glauben, dass du wenigstens einen guten Grund dafür hast, der Welt dein Talent vorzuenthalten.«

  »Was genau geht denn in Ry
der Woods’ Regelbuch als ›guter Grund‹ durch?«

  »Keine Ahnung.« Seine Stimme wird ernst, als er die Spur wechselt und ein Auto überholt, das im Schneckentempo fährt. »Vielleicht musst du dich ja unauffällig verhalten. Vielleicht versteckst du dich vor etwas oder jemandem. Ich vermute, dass das ziemlich schwierig wäre, wenn dein Name überall in Leuchtschrift stehen würde.«

  Ich spüre, wie mir bei seinen Worten sämtliches Blut aus dem Gesicht weicht. Ich weiß nicht, ob er einfach gut geraten hat oder ob es reine Intuition gewesen ist, aber plötzlich ist mir ein bisschen schwindelig.

  »Nichts annähernd so Dramatisches«, sage ich scherzhaft und versuche eine gleichgültige Miene aufzusetzen. Doch ich bin mir beinahe sicher, dass er sie mühelos durchschaut. »Ich bin einfach der klassische introvertierte Typ. Meine Gitarre, ein Stift und ein leeres Blatt Papier sind mir jederzeit lieber als eine Arena voller kreischender Fans. Ich bin glücklicher, wenn ich Lieder schreibe, als ich es je sein könnte, wenn ich sie für Fremde spielen würde.«

  »Hast du es einmal versucht?«

  »Was versucht?«

  »Für Fremde zu spielen.« Er schaut mich an. »Auf der Bühne zu stehen – das ist ein Rausch, den du dir nicht vorstellen kannst.«

  Ich schweige.

  »Ich schätze, das ist meine Antwort.« Er zieht die Augenbrauen zusammen. »Wie kannst du beschließen, dass du niemals in der Öffentlichkeit singen wirst, wenn du es nie versucht hast? Das ist, als würdest du sagen, dass du Weltraumfahrten oder Pinkeln im Stehen hasst. Du kannst erst dann eine richtige Entscheidung treffen, wenn du es versucht hast.«

  »Wie sind wir überhaupt auf dieses Thema gekommen?«, schnauze ich. »Wir haben doch über deine musikalischen Ambitionen geredet, nicht über meine.«

  »Und …?«

  »Ich bin nicht sicher, ob es dir aufgefallen ist, Ryder, aber du und ich, wir sind sehr unterschiedliche Menschen.«

 

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