Was auch immer geschieht 02 - Feeling close to you

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Was auch immer geschieht 02 - Feeling close to you Page 36

by Iosivoni, Bianca


  Und jetzt stand ich hier. Vor der Tür zu Parkers WG. Kopfschüttelnd sah ich an mir hinunter, von dem Kleid bis zu den Boots, die ich sogar beim sonnigsten Wetter Floridas anzog. Einmal atmete ich noch tief durch, dann hob ich die Hand und klopfte an.

  Mein Magen kribbelte vor nervöser Aufregung, aber auch vor Freude. Es hatte eine Weile gedauert, bis Parker und ich uns wieder angenähert hatten. Bis ich zugelassen hatte, dass er mir wieder näher kommen durfte. Erst nur über Textnachrichten und jetzt … jetzt auch bei diesem Date.

  Schritte waren aus dem Inneren zu hören. Mein Herzschlag beschleunigte sich, und ich wischte mir die Hände erneut am Kleid ab. Mittlerweile bereute ich fast, es angezogen zu haben, weil es so ungewohnt und untypisch für mich war. Das änderte sich jedoch in der Sekunde, in der die Tür aufging und ich Parkers Gesichtsausdruck bemerkte.

  Ihm gefiel eindeutig, was er sah. Seine blauen Augen leuchteten, und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

  Statt einer Begrüßung nahm er meine Hand in seine und zog mich in die Wohnung.

  »Hi«, sagte er und drückte die Tür hinter mir zu, ohne meine Hand loszulassen.

  Ich ließ den Blick kurz durch den Flur wandern, ehe ich Parker wieder ansah. »Wo sind die anderen?«

  »Weg«, erwiderte er nur und zuckte lässig mit den Schultern. »Wir haben die Wohnung für ein paar Stunden ganz für uns allein. Und ich hab eine kleine Überraschung für dich.«

  »Ja?«, fragte ich mit hämmerndem Herzen.

  Er nickte und zog leicht an meiner Hand. »Komm mit.«

  Mit diesen Worten führte er mich ins Wohnzimmer, das von den letzten Sonnenstrahlen des Tages erhellt wurde. Auf dem Couchtisch waren mehrere Sachen ausgebreitet. Auf der einen Seite lagen ein paar Blurays – eine wilde Mischung aus den aktuellsten Blockbustern, Klassikern und mindestens zwei Titeln, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Daneben Energydrinks, Cola, Nachos und Schokolade. Auf der anderen Seite entdeckte ich zwei Controller, eine Flasche Wein und zwei Gläser. Und den neuesten Teil der The-Dark-Pictures-Anthologie. Ein Game, dem ich seit Monaten entgegenfieberte – genau wie Parker selbst.

  »Was willst du zuerst machen?«, fragte er mit einem bemüht neutralen Gesichtsausdruck. »Wie wär’s, wenn wir erst einen der Filme schauen und dann …«

  »Bist du irre?«, unterbrach ich ihn, ließ seine Hand los und klammerte mich so fest an die Spielhülle, als würde mein Leben davon abhängen. Tat es auch. Irgendwie zumindest. »Wir müssen das spielen. Jetzt sofort!«

  Seine Mundwinkel zuckten verdächtig. »Sicher, dass du nicht doch lieber vorher etwas entspannen und einen Film schauen willst? Der erste Avengers ist wirklich nach wie vor – «

  Ich lachte auf. »Du bist so ein Idiot.«

  In seinen Augen funkelte es herausfordernd. Ohne Vorwarnung griff er erneut nach meiner Hand und zog mich an sich. Gerade so weit, dass wir uns in die Augen sehen konnten. »Ich bin dein Idiot. Wenn du mich lässt.«

  Und da war es wieder: das Kribbeln in meinem Bauch, das ich schon gespürt hatte, als ich das allererste Mal seine Stimme gehört hatte. Noch mehr, als ich ihn zum allerersten Mal gesehen und umarmt hatte. Und am allermeisten jetzt. In genau diesem Moment.

  »Versprochen?«, hakte ich leise nach.

  »Versprochen.« Parker nickte und wurde wieder etwas ernster. »Ich werde dich nie mehr ausschließen und Sachen für mich behalten. Und falls doch, darfst du dir meine Playstation, XBox und den PC krallen und all meine Spielstände zerstören.«

  Das brachte mich wieder zum Lachen. »Wow. Du meinst das wirklich ernst, oder?«

  Er lehnte sich etwas zu mir hinunter, bis ich seinen Atem auf meinen Lippen spüren konnte und mein Herzschlag sich beschleunigte. »Warum findest du es nicht selbst heraus?«

  Statt einer Antwort packte ich ihn am Kragen, stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Genau so, wie ich es in diesem Hotel in Texas getan hatte. Nur dass Parker nicht mehr bloß ein Online-Freund war, den ich gerade erst getroffen hatte. Er war mein Freund. Online. Aber vor allem offline.

  Lächelnd legte er den Arm um mich und nahm mir die Spielhülle aus der Hand. »Alles klar. Die Lady bestimmt den Abend.«

  Grinsend sah ich zu ihm hoch, stellte mich auf die Zehenspitzen und drückte meine Lippen erneut auf seine. »Und wie sie das tut«, murmelte ich in den Kuss und machte mich dann abrupt von ihm los. »Und jetzt lass uns endlich loslegen!«

  YOU WIN

  Danksagung

  Als ich Finding Back to Us geschrieben habe, wusste ich sofort, dass ich Parkers Geschichte erzählen möchte. Parker selbst wollte das auch, aber bis wir uns einigen konnten und Teagan auf der Bildfläche erschienen ist, sollte es noch einige Jahre dauern. Umso glücklicher bin ich, dass ich gewartet habe und ihre Geschichte jetzt erzählen konnte.

  An dieser Stelle einen riesigen Dank an meine Agentinnen Kristina Langenbuch Gerez und Gesa Weiß sowie an den ganzen LYX-Verlag, die sofort dabei waren und es mir ermöglicht haben, Feeling Close to You zu schreiben und veröffentlichen.

  Insbesondere danke ich meiner Lektorin Stephanie Bubley, die sich einen ganzen Tag Zeit genommen hat, um mit mir Kaffee zu trinken, Apfelstrudel zu essen und diese Geschichte so zu plotten, dass ich, als es an der Zeit dafür war, direkt mit dem Schreiben loslegen konnte. Danke für dein Vertrauen in mich und meine Ideen, dein Verständnis und deine immerwährende Unterstützung – sei es beim Schreiben, Plotten, im Lektorat, auf Lesungen oder beim Signieren von unendlich vielen Büchern in Druckereien.

  Danke an Kristina Langenbuch Gerez für das angenehme Lektorat (wir haben Falling Fast und Flying High überlebt. Jetzt schaffen wir alles!) und deine vielen hilfreichen Anmerkungen.

  Danke an meinen Writing Squad für den unglaublich schönen Sommer, in dem ich dieses Buch geschrieben habe, für die Motivation, die manchmal nötige Ablenkung und die vielen Lacher. Besonders an Klaudia und Tami für die Schreibdates in den Cafés, die mich durch die Deadline-Phase gebracht haben.

  Ein riesiges Dankeschön geht an Anabelle, die Feeling Close to You schon zu ihrem Lieblingsbuch von mir erklärt hat, bevor ich das erste Wort geschrieben hatte. Danke für deine Begeisterung, die Unterstützung und deine tollen Kommentare beim Betalesen.

  Des Weiteren geht ein riesiger Dank an:

  Sassette für die Einführung in und Erklärungen zu Guild Wars 2. Ohne deine Hilfe hätte ich das niemals umsetzen können!

  Klaudia, die sich in diesem Buch verewigt hat, indem sie die WG mit einem Sims-Haushalt verglichen hat. Danke für deine Begeisterung und die Hilfe bei der Recherche.

  Mandy für die Recherche, dein Fachwissen und die Unterstützung in allen medizinischen Belangen.

  Den PJ-Squad für die vielen spannenden Stunden bei Dead by Daylight mit ganz viel Gelächter, Quatschen, gemeinsamem Schweigen, Beleidigungen und jeder Menge Flüchen, wenn der Killer wieder mal hinter uns her war.

  Und schließlich danke an euch, liebe Leserinnen und Leser, dafür, dass ihr meine Bücher kauft, lest, liebt und weiterempfehlt. Ohne euch könnte ich nicht das tun, was mir die Welt bedeutet. Danke für alles!

  Leseprobe

  BIANCA IOSIVONI

  Irgendetwas riss mich aus dem Schlaf. Ich schlug die Augen auf und versuchte zu verstehen, warum mein Herz auf einmal so raste. Warum nichts von Ambers leisem Schnarchen auf der anderen Seite des Zimmers zu hören war und weshalb der Mond in mein Zimmer schien, obwohl wir doch immer Jalousien vor den Fenstern hatten.

  Ich tastete nach meinem Handy auf dem Nachttisch. Zwei Uhr siebenundvierzig. Keine neue Textnachricht, kein verpasster Anruf. Nichts, das erklären würde, warum ich mitten in der Nacht aufgewacht war. Der Ton war an und die Lautstärke hoch, da ich im Wohnheim nur noch mit Ohrstöpseln schlief. Wenn Leute, die in derselben Etage wohnten wie du, erst in den frühen Morgenstunden in ihre Zimmer zurückkehrten und dabei auch noch irgendwelche Songs aus den Top 100 lallten, wurden Ohrstöpsel schnell zu deinen neuen besten Freunden. Allerdings war ich nicht mehr in meinem Wohnheimzimmer, sondern zu Hause, realisierte ich langsam. In meinem Bett. Durch die offene Bauweise
des Hauses mit dem Geländer und der hohen Decke im Wohnzimmer drang jedes noch so kleine Geräusch bis nach oben ins Dachgeschoss.

  Ich setzte mich auf und rieb mir über die Augen, während ich lauschte. Das Haus war alt, aber selbst nach so langer Zeit der Abwesenheit sollte ich noch mit seinen Geräuschen vertraut sein, oder? Ich wollte mich gerade wieder hinlegen, als die Dielen unten knarzten. Unbewusst hielt ich den Atem an. War Holly auf der Suche nach einem Mitternachtssnack in der Küche? Stella konnte es nicht sein, sie war kurz nach meiner Ankunft zu ihrer Nachtschicht ins Krankenhaus gefahren und würde so schnell nicht zurückkehren.

  Ich sollte mich wieder hinlegen und weiterschlafen, schließlich war es nur ein leises Knarren gewesen, aber meine Sinne liefen auf Hochtouren. Mein Puls hämmerte wie nach einer langen Joggingrunde, ich hatte die Ohren gespitzt und starrte in die Dunkelheit meines Zimmers. Da! Schon wieder ein kaum vernehmbares Knarzen der Dielen. Das konnte nicht nur das Haus sein, oder? Bevor ich darüber nachdenken konnte, hörte ich ein weiteres Geräusch: das Splittern von Glas. Diesmal bestand kein Zweifel daran, dass irgendjemand durchs Haus schlich.

  Ich schob die Decke beiseite und stand auf. Barfuß tappte ich über den Holzboden zu meinem Kleiderschrank, der unter der Dachschräge fast die gesamte Wand einnahm. Darin lag noch immer mein alter Baseballschläger neben ein paar Schuhkartons. Ich zog ihn hervor und schlich zu meiner Zimmertür.

  Meine Finger zitterten vor Anstrengung, als ich versuchte, die Tür so vorsichtig wie möglich zu öffnen, dennoch erwischte mich das vertraute Quietschen eiskalt. Großartig. Wenn sich ein Einbrecher unten durch unser Silberbesteck wühlte, wusste er spätestens jetzt, dass er nicht allein war. Mit zusammengebissenen Zähnen schob ich mich durch den Spalt und ging die Treppe hinunter.

  Die Härchen an meinen Armen stellten sich auf und mir wurde bewusst, dass ich nur ein altes T-Shirt trug, das mir bis zur Mitte der Oberschenkel reichte. Damit gab ich sicherlich einen furchterregenden Anblick für einen potenziellen Einbrecher ab. Egal. Weiter.

  Ich erreichte das erste Stockwerk und mied alle Stellen im Boden, von denen ich noch immer in schlafwandlerischer Sicherheit wusste, dass sie knarrten. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich Hollys Zimmertür. Sie war geschlossen, und es brannte kein Licht, das durch die Ritzen scheinen könnte. Da meine Schwester sogar einen Feueralarm in unserem alten Zuhause verschlafen hatte, überraschte es mich nicht, dass sie das Klirren nicht gehört hatte.

  Über das Geländer spähte ich ins Wohnzimmer hinunter. Nichts. Keine Bewegung. Keine Geräusche. Keine verdächtige Gestalt, die durch das Haus schlich. Von mir selbst mal abgesehen. Das Wohnzimmer lag in unberührter Stille unter mir. Zwei Sofas vor dem Kamin, weiter hinten das Klavier, das ich seit Jahren nicht mehr angerührt hatte, und der lange Esstisch mit den hohen Stühlen. Ich streckte mich, konnte von hier oben allerdings nicht bis zur Küche sehen. Was ich aber deutlich bemerkte, war, dass nirgendwo im Haus ein Licht brannte.

  Leise schlich ich weiter und steuerte die Treppe ins Erdgeschoss an. Sie begann genau dort, wo der Flur nach rechts zu Hollys Zimmer und dem Bad abging, und nach links in den unbenutzten Teil des Hauses führte. Früher einmal waren dort das Büro meines Vaters und das Zimmer meines Stiefbruders gewesen, aber das war lange her. Seitdem hatte meines Wissens nach kaum jemand mehr einen Fuß in diese Räume gesetzt. In Gedanken betete ich darum, nur paranoid zu sein. Ich wollte keinem Einbrecher begegnen, der in meiner Vorstellung wesentlich gruseliger war als die toten Menschen, die ich während meines Studiums schon gesehen hatte.

  Ich war so darauf konzentriert, mich lautlos zu bewegen, dass ich keinen Gedanken daran verschwendete, dass jemand um die Ecke kommen könnte. Großer Fehler. Ich nahm die Bewegung nur aus dem Augenwinkel wahr. Instinktiv zuckte ich zurück, holte mit dem Baseballschläger aus und schlug zu. Das Holz traf auf Muskeln und Knochen und der Aufprall verursachte ein Vibrieren, das sich bis in meine Schulter zog. Ich sprang zurück, bereit, noch mal auszuholen, aber der Einbrecher packte den Schläger und hielt ihn fest.

  »Fuck!«, fluchte eine tiefe Stimme. »Was soll das?«

  Ich setzte bereits zu einer gepfefferten Antwort an, als mir bewusst wurde, dass ich diese Stimme kannte. Zumindest hatte ich sie schon einmal gehört und das vor nicht allzu langer Zeit. Ihr Besitzer hielt den Baseballschläger noch immer fest, trat jetzt aber einen halben Schritt näher. Und ich erkannte ihn. Trotz der Dunkelheit erkannte ich den jungen Mann vom Flughafen wieder. Dieselbe Kleidung, dasselbe Gesicht – und nicht etwa eine schwarze Kluft mitsamt Skimaske und Brechstange, wie zumindest ein kleiner Teil von mir erwartet hatte.

  »Was zum …?« Meine Stimme erstarb, dafür polterte mein Herz los. »Hast du sie noch alle, mitten in der Nacht hier herumzuschleichen? Ich dachte, du wärst ein Einbrecher!«

  »Bist du sicher?« Mit der freien Hand rieb er sich über seine Rippen. »So, wie sich das anfühlt, wusstest du genau, wen du verprügelst.« Er zögerte, als ich nicht reagierte. »Du erkennst mich wirklich nicht, oder?«

  Mein Herz hämmerte noch immer, nur war der Grund dafür inzwischen ein anderer. In meinem Hinterkopf begann sich ein Verdacht zu formen, aber ich wollte nicht daran denken, wollte es nicht wahrhaben, weil es einfach nicht sein konnte. Es war unmöglich.

  »Was ist los, Schwesterchen ?« Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Hast du mich inzwischen nicht nur aus deinem Leben, sondern auch aus deinem Gedächtnis verbannt?«

  Nein. Einfach nein. Konnte bitte jemand die Zeit zurückdrehen? Denn ich wollte das hier nicht erleben. Nicht jetzt, nicht heute, niemals. Inzwischen hämmerte mein Herz so schnell, dass es mich nicht überrascht hätte, wenn es aus meinem Brustkorb geklettert und davongelaufen wäre. Das hätte ich ja am liebsten selbst getan. Einfach auf dem Absatz kehrtgemacht, mich wieder ins Bett gelegt und so getan, als wäre das hier niemals passiert. Als wäre nicht ausgerechnet mein Stiefbruder nach Hause zurückgekehrt. Der Mann, den ich seit sieben Jahren nicht mehr gesehen hatte. Der Mann, der meinen Vater auf dem Gewissen hatte.

  »Keith …?« Ich erstickte beinahe an diesem einen Wort. Selbst ohne sein Nicken hätte ich gewusst, dass er es war. Keith Blackwood. Stellas Sohn. Ich schnappte nach Luft, doch nichts davon schien in meine Lunge dringen zu wollen. Fast so, als hätte mein Körper kurzerhand beschlossen, dass ich keinen Sauerstoff mehr zum Leben brauchte. Genauso wenig wie ein Herz. Denn das hatte Keith mir damals nicht gebrochen, sondern es herausgerissen und zugelassen, dass es gemeinsam mit meinem Vater starb.

  Meine Augen begannen zu brennen, eine klare Warnung, dass mir gleich die Tränen kommen würden. Ich verfluchte mich für diese Schwäche und blinzelte mehrmals, um das Gefühl zu vertreiben. Wut hatte schon immer gut funktioniert und jetzt pochte sie in meinen Adern und drohte mich wie eine Flutwelle mitzureißen.

  »Wenn ich geahnt hätte, dass ausgerechnet du hier herumschleichst, hätte ich noch fester zugeschlagen.«

  Keith schnaubte leise, als hätte er mit keiner anderen Antwort gerechnet. »Ich freue mich auch, dich wiederzusehen.«

  Ich zuckte zusammen, als wäre ich diejenige, der man mit dem Baseballschläger eins übergezogen hatte. Denn genau so fühlte es sich an, ihn hier und jetzt wiederzusehen. Wie ein Schlag aus dem Nichts, der mich mit voller Wucht erwischte. Ich konnte regelrecht spüren, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich, während ein kaltes Prickeln über meine Haut glitt, als würde sich eine Eisschicht darauf ausbreiten.

  »Was machst du hier?« Irgendwie brachte ich die Worte hervor, obwohl ich das Gefühl hatte, genauso daran zu ersticken wie an seinem Namen auf meinen Lippen. Denn niemand, weder Holly noch Stella, hatte mich vorgewarnt. Keine von ihnen hatte auch nur die geringste Andeutung fallen lassen, dass ausgerechnet Keith wieder da war.

  »Ich werde eine Zeit lang hier wohnen.«

  Ein simpler Satz, der die Macht hatte, meine ganze Welt auf den Kopf zu stellen. Keith Blackwood wohnte hier ? In meinem Elternhaus? Wieso? Er war jahrelang fort gewesen. Warum kam er ausgerechnet jetzt zurück?

  Ein Bild flackerte vor meinem inneren Auge auf. Weiße Wände, weiße Bettwäs
che und dunkelblaue Vorhänge, die zugezogen waren. Ein Strauß bunter Blumen. Die Deckenlampe spendete grelles Neonlicht und vom Flur her drangen Geräusche herein. Schritte. Gedämpfte Stimmen. Die scharrenden Rollen eines Bettes, das durch die Gänge geschoben wurde. Das Klingeln eines Fahrstuhls, als sich die Türen öffneten. Das gleichmäßige Piepen der Geräte direkt neben mir. Nichts von alledem schien zusammenzupassen. Erst der Geruch nach Desinfektionsmitteln, Gummihandschuhen und kranken Menschen machte mir deutlich, wo ich mich befand. Und ein fünfzehnjähriger Keith, der in der Tür zu meinem Zimmer stand.

  Er hatte ein dickes Pflaster am Kopf und einen Kratzer an der Wange. Seine Arme waren verbunden, aber nicht eingegipst. Er lehnte am Türrahmen, als würde es ihn zu viel Kraft kosten, aufrecht zu stehen. Als wäre sein Körper nicht stark genug, ihn zu halten – oder als würden die Schuldgefühle ihn niederdrücken.

  Ein Blick in sein Gesicht genügte, um die tiefe Trauer in seinen braunen Augen zu sehen und zu wissen, was passiert war. Der Fahrunterricht mit Dad. Seine mahnenden Worte, dass Keith nicht so schnell fahren sollte. Die SMS, die ich auf meinem Handy an Faye tippte. Dann war da nur noch Leere. Ein schwarzes Loch, das all meine Erinnerungen in sich aufgesogen hatte. Ich wusste nicht mehr, wie oder wo es geschehen war. Doch als Keith mich so ansah, da wusste ich, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Er sagte nichts, gab mir keine Erklärungen, keine tröstenden Worte, sondern hüllte sich in ein Schweigen, das mehr schmerzte, als jedes Wort aus seinem Mund es je gekonnt hätte. Und in diesem Moment wurde aus dem Jungen, an den ich mein Herz verloren hatte, die Person, die ich am meisten hasste.

  Ruckartig holte ich mich in die Gegenwart zurück. Eine Gegenwart, in der ich vor dem Menschen stand, von dem ich geglaubt hatte, ihn nie wieder sehen zu müssen. Kurz nach dem Unfall war er gegangen. Ohne Abschied. Ohne ein Wort der Erklärung. Ohne eine Entschuldigung. Einfach so. Er war nicht einmal auf Dads Beerdigung erschienen. Und jetzt tauchte er genauso unangekündigt wieder auf? Warum? Was in Gottes Namen ließ ihn glauben, er wäre hier willkommen?

 

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