Grant holte tief Luft, schüttelte jedoch den Kopf.
Erleichtert atmete Warden neben mir aus, doch ich spürte nichts von seiner Erleichterung. Meine Mum hatte die ganze Zeit über nicht eine Sekunde den Blick von mir genommen. Eine Welle aus Angst und Panik brach über mir zusammen, als ich plötzlich mit absoluter Gewissheit wusste, dass es um meinen Dad ging. Er war ein Grim Hunter und vor ein paar Stunden mit seinem Kampfpartner losgezogen. So wie jede Nacht.
Übelkeit erregender Schwindel überkam mich, und mir traten Tränen in die Augen. Doch obwohl ich es weder hören noch wissen wollte, stellte ich die Frage, die plötzlich tonnenschwer auf meiner Zunge lag. »Was ist passiert?«
»Das versuchen wir noch herauszufinden«, antwortete Grant mit einer Selbstbeherrschung, die er sich über viele Jahre antrainiert haben musste. »Wir haben vor gut einer halben Stunde einen Notruf von Jules erhalten. Er und Floyd sind einem Vampir durch Portobello gefolgt, zu einem verlassenen Schwimmbad, das sich als Vampirnest entpuppt hat. Offenbar hat dort eine Art Versammlung stattgefunden, bei der auch Isaac anwesend war.«
Bei der Erwähnung des Vampirkönigs sprang Warden blitzartig von seinem Stuhl auf.
Ich hingegen rührte mich nicht. Wie betäubt lauschte ich Grants Worten und versuchte, ihren Sinn zu erfassen. Es ging nicht um meinen Dad, sondern um Jules. Meinen Jules. Meinen Kampfpartner.
»Sie haben Hilfe angefordert«, fuhr Grant fort. »Wir haben sämtliche Hunterteams in der näheren Umgebung zu ihnen geschickt. Keine Ahnung, ob sie einen verfrühten Angriff gestartet haben oder ob sie entdeckt wurden, aber als die Verstärkung ankam, war es schon zu spät.«
»Was … Was soll das heißen?«, fragte ich mit bebender Stimme und wünschte mir, Grant würde nicht so um den heißen Brei herumreden, sondern mir einfach sagen, was Sache war. War Jules noch am Leben? Ja oder nein?
»Die Vampire waren bereits verschwunden. Unsere Leute konnten nur noch Floyds Leiche bergen.«
»Was ist mit Jules?« Die Frage kam nicht von mir, sondern überraschenderweise von Warden. Ich hätte schwören können, dass er sich zuallererst nach Isaac erkundigen würde, doch ich war dankbar, dass er diese Frage stellte, die mir wohl nur schwer über die Lippen gekommen wäre. Die Angst um Jules kroch mir als Gänsehaut die Arme empor.
Grant rieb sich die Stirn. »Das wissen wir noch nicht. Wir haben nur Floyd und eine Handvoll toter Vampire gefunden sowie zwei menschliche Leichen, die allerdings schon ein paar Tage alt waren. Jules’ Handy konnten wir bergen, aber von ihm fehlt bisher jede Spur. Wir haben das Gebiet weiträumig umstellt, und Xavier hat mehrere Suchtrupps bilden lassen.«
»Okay, gebt mir fünf Minuten«, hörte ich mich, ohne zu zögern, sagen und hechtete los, um meine Ausrüstung zu holen und mich auf die Suche nach Jules zu machen.
Doch ich kam keine drei Schritte weit, bevor meine Mum mir den Weg verstellte. »Nein, Cain, du bleibst hier.«
»Auf keinen Fall!«, protestierte ich, während ich gegen das Zittern ankämpfte, das von meinem Körper Besitz ergreifen wollte. Ich würde ganz bestimmt nicht tatenlos herumsitzen und auf Neuigkeiten warten, wenn ich stattdessen helfen konnte, Jules zu finden. Er war mein Kampfpartner. Wir waren ein Team, und ich würde ihn nicht im Stich lassen, während er irgendwo dort draußen war, möglicherweise verletzt und in Lebensgefahr schwebend. »Ich will in einen der Suchtrupps. Ich will helfen.«
»Deine Mutter hat recht«, sagte Grant und trat an die Seite meiner Mum, als befürchtete er, ich könnte mich an ihnen vorbeidrängen. »Wir wissen nicht, was mit Jules ist.«
»Und genau deswegen will ich helfen.«
»Dafür bist du nicht in der Verfassung.«
»Bin ich wohl!«
Grant schüttelte den Kopf. »Nein, bist du nicht. Schau dir an, wie deine Hände zittern. Damit bist du nicht nur eine Gefahr für dich, sondern auch für andere. Sie müssen sich auf Jules konzentrieren und können nicht auch noch auf dich aufpassen.«
»Aber …«
»Nein, Cain, du bleibst hier«, befahl Grant und sah zu Warden. »Und dasselbe gilt für dich. Ich weiß, was du denkst, aber wir müssen strategisch vorgehen, wenn wir Isaac schnappen wollen. Das Letzte, was wir jetzt brauchen, sind irgendwelche Alleingänge. Habt ihr verstanden?«
Warden presste die Lippen aufeinander und sagte nichts, aber ich konnte den Zwiespalt und die Verzweiflung in seinen Augen erkennen. Ich fühlte mich genauso. Warum ließ man mich nicht helfen? Ich war eine hervorragende Jägerin, ich kannte Jules besser als die meisten, und wenn er sich irgendwo versteckte, dann konnte ich vielleicht …
Meine Mum trat dicht an mich heran und strich mir sanft eine Strähne meines roten Haars hinters Ohr. Ihre nächsten Worte waren nicht die einer ranghöheren Blood Huntress, sondern einer Mum wie jeder anderen. »Mach dir keine Sorgen, mein Schatz.« Sie griff nach meiner Hand und drückte sie. »Die fähigsten Hunter, die Edinburgh zu bieten hat, sind gerade dort draußen und suchen nach Jules.«
Aber nicht ich.
»Ihr werdet mich wirklich nicht gehen lassen?«, hakte ich ein letztes Mal nach, weil sich alles andere danach angefühlt hätte, Jules im Stich zu lassen. Und das würde ich nicht tun. Niemals.
Meine Mum sah mich ernst an. »Es ist zu deiner eigenen Sicherheit.«
Ich blinzelte und schluckte gegen das Gefühl der Taubheit an, das meinen Körper in Besitz genommen hatte. Ich wollte weinen und schreien, aber weder das eine noch das andere würde mir Jules zurückbringen. Stattdessen ertappte ich mich dabei, wie ich nickte. Nicht weil ich wollte, sondern weil ich musste. Jede Faser meines Körpers rebellierte gegen die Entscheidung, doch jede Sekunde, die wir hier herumstanden, war eine zu viel. Mehr Zeit bräuchten Isaac und seine Vampire nicht, um Jules zu töten, wenn ihnen der Sinn danach stand. Sofern sie es nicht schon längst getan hatten.
»Was ist mit mir?«, kam es von Warden.
Grant neigte den Kopf. »Was soll mit dir sein?«
»Ich habe Jagdverbot. Aber was, wenn ich mich an die Spielregeln halte? Darf ich dann helfen?« Die Worte auszusprechen schien Warden einiges an Überwindung zu kosten, aber anscheinend war sein Wunsch, Isaac zu töten, größer als sein eigener Stolz.
Grant betrachtete ihn nachdenklich, bis er schließlich nickte. »Einverstanden, du darfst mitkommen. Aber wenn du auch nur einmal aus der Reihe tanzt …«
»Das werde ich nicht!«
»Gut, dann lass uns gehen. Cain, wir geben dir Bescheid, sobald wir etwas gefunden haben.« Grant wandte sich ab und marschierte davon, dicht gefolgt von meiner Mum, die bestimmt auch Teil eines Suchtrupps war.
Warden setzte an, den beiden zu folgen, hielt dann jedoch noch einmal inne und wandte sich mir zu. »Ich werde alles tun, um Isaac zu finden.« Ein Versprechen, das von der wilden Entschlossenheit, die in seinem Blick loderte, unterstrichen wurde.
Ich wusste seine Hilfe zu schätzen, aber er irrte sich, wenn er glaubte, ich hätte Interesse an dem Vampirkönig. »Ich will nicht Isaac. Ich will Jules.«
Schweigend nickte Warden mir zu und eilte hinter den anderen her.
Ich sah ihm nach, auch dann noch, als sich die Tür der Waffenkammer schon längst wieder hinter ihm geschlossen hatte. Reglos stand ich einfach nur da und versuchte die letzten Minuten zu begreifen, die sich anfühlten wie ein schlechter Traum. Ein schlechter Traum, der bittere Wirklichkeit geworden war.
Isaac, der König der Vampire, war zurück.
Und er hatte Jules.
13. KAPITEL
Cain
Cain: Gibt es schon etwas Neues?
In den letzten drei Tagen hatte ich vermutlich keine Frage so oft gestellt wie diese. Unruhig trat ich von einem Fuß auf den anderen und wartete darauf, dass meine Mum mir antwortete. Doch sie schrieb mir nicht zurück, und wie all die Male zuvor versuchte mein von Sorge getriebener Verstand auszuknobeln, was das zu bedeuten hatte. Hatten sie Jules’ Leiche gefunden und wollten es mir persönlich sagen? Oder war meine Mum gerade in einen Kampf um Leben und Tod verwickelt un
d konnte deswegen nicht antworten? Was, wenn sie oder mein Dad auch noch verletzt wurden?
»Hör auf, solche Sachen zu denken!«, fauchte ich mich selbst an. Wenn ich das nicht sein ließ, würde ich noch den Verstand verlieren.
Ich holte tief Luft, schnappte mir die Unterlagen, die ich für den Unterricht vorbereitet hatte, und machte mich auf den Weg zu den Kleinen, für die heute eine Theoriestunde anstand. Wayne hatte mir angeboten, den Unterricht zu übernehmen, aber ich war dankbar für die Ablenkung und zudem war er mir bei der Suche nach Jules eine größere Hilfe.
Ich hatte meine Mum, Grant und Xavier noch mindestens ein Dutzend Mal gefragt, ob ich mich den Suchtrupps nicht doch anschließend durfte, aber sie hatten jedes Mal verneint. Ebenso wie Jules’ Eltern, Charles und Olivia, sollte ich mich zurückhalten, da ich emotional zu involviert war. Ein Teil von mir wusste, dass sie recht hatten, dennoch trieb mich das Rumsitzen und Warten in den Wahnsinn.
Die Kinder bemerkten, dass ich nicht ganz bei der Sache war. Während ich ihnen den Unterschied zwischen den verschiedenen Arten von Blutwesen erklärte, stolperte ich immer wieder über meine Sätze, während meine Gedanken zu Jules und der unbeantworteten Nachricht auf meinem Handy wanderten. Warum schrieb mir niemand zurück?
Ich war erleichtert, als die Kinder endlich abgeholt wurden und ich wieder zurück in die Wohnung meiner Eltern konnte, um dort im Geheimen durchzudrehen und hoffentlich meine Mum abzufangen, sobald sie von ihrer Patrouille zurückkehrte. Ich hatte mich bereits vor drei Tagen bei ihnen einquartiert, weil ich es allein in meinem Zimmer einfach nicht aushielt. Zwar waren meine Eltern kaum zu Hause, da sie jede freie Minute mit der Suche nach Jules verbrachten, trotzdem hatte es eine beruhigende Wirkung, mich in der Wohnung meiner Kindheit aufzuhalten.
Na ja, beruhigend im relativen Sinne – die meiste Zeit über tigerte ich nervös auf und ab oder trieb Sport, bis mir schlecht wurde. Dabei existierte ich in einer Art Trance, in der ich abwechselnd von Jules’ Rückkehr und seinem Tod fantasierte. Ich stellte mir vor, wie es an der Tür klopfte und Jules davorstand, wenn ich sie öffnete. Doch mindestens genauso oft stellte ich mir vor, wie es wäre zu erfahren, dass man seine Leiche gefunden hatte. Ein Gedanke, den ich vehement zu verdrängen versuchte. Jules war nicht tot. Hätten Isaac und seine Leute ihn töten wollen, hätten sie ihn an Ort und Stelle umgebracht, genauso wie Floyd. Doch stattdessen hatten sie sich die Mühe gemacht, ihn zu verschleppen. Das musste etwas zu bedeuten haben. Außerdem kannte ich meinen Kampfpartner. Jules war stark, clever und geschickt, und solange er atmete, würde er einen Weg finden, zu überleben und zu mir zurückzukehren. Davon war ich fest überzeugt. Nur leider änderte das nichts daran, dass ich mir zum wohl hundertsten Mal wünschte, ich wäre in jener Nacht bei ihm und nicht mit Warden in dieser beschissenen Waffenkammer gewesen.
Ich entsperrte mein Handy, das neben mir auf der Couch lag – wie ich es gefühlt alle fünf Minuten tat –, um nachzusehen, ob mir meine Mum, Wayne oder irgendeiner der anderen Hunter geantwortet hatte. Aber da war nur eine Nachricht von Ella, die, ebenso wie ich, wissen wollte, ob es Neuigkeiten gab. Eigentlich hatte sie sich einem der Suchtrupps anschließen wollen, war dann aber gemeinsam mit ihrem Dad, dessen Kampfpartnerin und Owen zu einem Notfall in Helsinki gerufen worden.
Ich antwortete ihr, bevor ich auf Jules’ Kontakt klickte und noch einmal die letzten Texte, die wir ausgetauscht hatten, las.
Cain: Ich raste aus!
Jules: Was ist los?
Cain: Warden hat mich gesehen.
Jules: ???
Cain: Auf dem Kindergeburtstag. In meinem Kostüm!!
Jules: Ernsthaft?
Cain: Ja! Ich war grade mittendrin in der Cinderella-Nummer und … da war er plötzlich.
Jules: OMG! Was hat er gesagt?
Cain: Nichts. Er hat nur gegrinst und ist dann gegangen, bevor ich mit ihm reden konnte.
Cain: Ich schwöre, wenn er irgendjemandem davon erzählt, töte ich ihn.
Jules: Das will ich sehen.
Cain: Ich meine es ernst.
Jules: Oh, das weiß ich …
Jules: Sag Bescheid, wenn du Hilfe beim Vergraben seiner Leiche brauchst.
Cain: Danke, du bist ein wahrer Freund. <3
Ich würgte den Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte, hinunter, als plötzlich der Riegel an der Wohnungstür aufschnappte. Hektisch sprang ich von der Couch und flitzte durch das kleine Wohnzimmer zu meinen Eltern, die in diesem Moment in den Flur traten.
Ihr Anblick ließ mich innehalten. Sie waren völlig verdreckt und blutbeschmiert. Doch was mir wirklich Angst machte, war der leere Ausdruck in ihren Augen. Die letzten Tage waren sie erschöpft und enttäuscht von ihrer Suche zurückgekehrt, aber nicht hoffnungslos. Doch nun war der Funke der Hoffnung erloschen.
Mein Herz hämmerte schmerzhaft schnell, und ich musste mich an der Kommode im Gang festhalten, als sich der Raum um mich herum zu drehen begann.
Der Blick meiner Mum zuckte von mir zu meinem Dad, der sich die Jacke von den Schultern streifte. Ihr Schweigen machte mich nervöser, als ich es ohnehin schon war.
»Was … Was ist los?«, stammelte ich mit einem verräterischen Kratzen in der Kehle. »Habt ihr Jules gefunden?«
Meine Mum schüttelte den Kopf.
»Was ist es dann?« Ich wusste, dass etwas vorgefallen war. Meine Eltern waren routinierte Hunter, sie machten das schließlich bereits seit fast drei Jahrzehnten. Es gab nur wenige Dinge, die sie erschütterten oder sprachlos machten, dafür hatten sie in ihrem Leben schon zu viel gesehen. Und dann war da noch meine unbeantwortete Nachricht …
Mein Dad räusperte sich. Der Blick aus seinen blauen Augen fand meinen. »Wir sollten uns besser setzen.«
Ich nickte, auch wenn mich die Anspannung fast umbrachte, aber meine Eltern hatten eine Vierzehn-Stunden-Patrouille hinter sich. Sie hatten es verdient, sich zu setzen.
Wir gingen ins Wohnzimmer, und während sie sich auf die Couch sinken ließen, holte ich ihnen etwas zu trinken aus der Küche. Wobei ich die Gläser nur halb voll machen konnte, weil meine Hände so heftig zitterten.
»Danke«, sagte mein Dad mit einem sanften Lächeln, das seine Augen nicht erreichte.
Unruhig nahm ich ihm gegenüber auf seinem Lesesessel Platz.
Meine Mum nippte an ihrem Glas, stellte es aber nach nur einem kleinen Schluck auf den Tisch und holte tief Luft, bevor sie sich mir zuwandte. Ihre Augen lagen in tiefen Höhlen, um die sich dunkle Ringe gebildet hatten. »Wir haben Jules nicht gefunden.«
Ich nickte.
»Wir haben die Gegend um Portobello weitläufig abgesucht. In ganz Edinburgh halten die Hunter Ausschau nach Jules, und Grant hat auch andere Quartiere benachrichtigt. Inzwischen sind über zweiundsiebzig Stunden vergangen, und von Jules fehlt noch immer jede Spur.«
»Okay …?« Ich begriff nicht, worauf sie hinauswollte. All das wusste ich bereits.
»Wir hatten gerade eine lange Unterhaltung mit Grant, Xavier, Tante Olivia und Onkel Charles«, fuhr meine Mum fort, wobei ihr Blick immer wieder den meines Dads suchte, als könnte sie es nicht ertragen, mich zu lange anzusehen. »Und nachdem wir all unsere Möglichkeiten und die Wahrscheinlichkeiten abgewägt haben, haben wir uns schweren Herzens dazu entschieden, die Suche nach Jules nicht fortzusetzen.«
Fassungslos starrte ich meine Eltern an. Bestimmt hatte ich mich verhört. »Ihr wollt die Suche einstellen?«
Meine Mum senkte den Kopf, dann nickte sie langsam. »Es tut mir leid, Cain, aber es gibt nichts, was darauf hindeutet, dass die Vampire Jules am Leben gelassen haben. Dafür haben sie keinen Grund. Wäre er Isaacs Geisel, hätte der sich längst mit einer Forderung an uns gewandt.«
Ich wollte es nicht, kämpfte dagegen an, trotzdem quollen mir Tränen der Frustration aus den Augen. Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. Sie wollten Jules einfach aufgeben? Nach nur drei Tagen?
»Und Tante Olivia und Onkel Charles finden das okay? Sie nehmen das einfach so hin?«, kräc
hzte ich heißer. Das hier konnte nicht passieren. Durfte nicht passieren. Ich weigerte mich, es zu akzeptieren.
Meine Mum griff nach meiner Hand, doch ich entzog sie ihr. Sie seufzte schwer, versuchte aber nicht noch einmal, mich anzufassen. »Cain, niemand von uns nimmt das einfach so hin. Denkst du, uns fällt es leicht, diese Entscheidung zu treffen? Wir alle lieben Jules, und wir werden ihn vermissen, aber wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen. Er ist tot, das akzeptieren auch deine Tante und dein Onkel.«
Ich schüttelte heftig den Kopf, während alles um mich herum hinter einem Tränenschleier verschwand und ich das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Sie wollten Jules einfach so sich selbst überlassen?
»Cain –«, setzte meine Mum an, aber ich unterbrach sie.
»Jules ist nicht tot. Wäre er es, hättet ihr seine Leiche gefunden!«
»Nicht alle Toten werden gefunden«, schaltete sich mein Dad ein. »Wir haben einen gefährlichen Job, und die Chance, dass Jules noch am Leben ist, ist so gering, dass wir nicht länger unsere Ressourcen darauf verschwenden können, ihn zu suchen. Es gibt dort draußen andere Menschen, die unsere Hilfe brauchen. Menschen, die wir noch retten können.«
»Ja, Menschen wie Jules!«, schrie ich wütend und wünschte mir in diesem Moment nichts sehnlicher, als etwas kaputt zu schlagen. »Was ist, wenn ihr euch irrt? Was, wenn Isaac Jules nur entführt hat? Roxy und Shaw haben euch doch von all diesen Huntern erzählt!«
Meine Mum nahm einen tiefen Atemzug. »Ja, darüber haben wir auch nachgedacht. Aber offensichtlich war Amelia für das Verschwinden der Hunter verantwortlich, und sie ist tot. Und Floyd …« Sie ließ den Satz in der Luft hängen, aber ich wusste, was sie sagen wollte. Floyd war ebenfalls tot. Hätten Isaac und irgendwer sonst ein Interesse daran, Gefangene zu machen, hätten sie nicht nur Jules, sondern vermutlich auch ihn mitgenommen.
»Wir verstehen deine Wut, aber es gibt nichts, was wir noch tun können. Wir haben die ganze Stadt abgesucht.«
Die ruhige, gelassene Stimme meines Dads traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich verstand einfach nicht, wie er dermaßen beherrscht sein konnte. Wäre ich an Jules’ Stelle, würden sie mich genauso schnell aufgeben? Nach nur drei Tagen? Wäre ich ihnen nicht einmal eine ganze Woche wert?
Midnight Chronicles 02 - Blutmagie Page 12