Die Sterne werden fallen

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Die Sterne werden fallen Page 35

by Kiefer, Lena


  »Das spielt keine Rolle. Der König weiß im Gegensatz zu Ihnen, was er dem Volk schuldig ist. Er wird sein Leben dafür geben, genau wie sein Bruder es vor ihm getan hat.«

  Ich spürte die Mauer hinter mir, die schroffen Steine drückten sich in meinen Rücken. Das Adrenalin brachte mein Gehirn auf maximale Leistung. Konnte ich fliehen? Oder konnte ich kämpfen und gewinnen? Die beiden trugen keine Waffen, weil sie das in der Festung nicht durften, aber die brauchten sie auch nicht. Es reichte völlig, wenn sie mich über die Mauer in die Tiefe warfen.

  Ich schnaubte. »Als was wollt ihr es verkaufen? Selbstmord? Die junge Freundin des Königs, die mit der Verantwortung überfordert war? Das ist echt billig.«

  Die Soldaten antworteten nicht, und ich hob die Fäuste, bereit, mich zu wehren. Meine Chancen standen verdammt schlecht, wenn kein Wunder passierte. Aber ich würde nicht auf diese Art abtreten. Wenn sie mich töten wollten, würde ich es ihnen nicht leicht machen.

  Sie griffen nach mir, das konnte ich nicht verhindern. Ich machte mich jedoch so schwer wie möglich, ich kratzte, trat und wand mich, schleuderte meine Ellenbogen herum in der Hoffnung, irgendetwas zu treffen. Und ich traf. Im nächsten Moment lag ich auf dem Boden, rappelte mich hoch, wollte fliehen, wohin auch immer. Aber da packten sie mich schon wieder, schleiften mich zur Mauer, hoben mich hoch. Ich klammerte mich an das Gestein, meine Finger kratzten über die raue Oberfläche, aber ich fand keinen Halt. Meine Gegner stemmten mich höher, ich sah die Stadt unter mir, zwischen ihr und mir nichts mehr außer kalter Märzluft. Sollte ich die Augen schließen? Oder dem Ende ins Gesicht sehen?

  Ich entschied mich dafür, hinzusehen, machte die Augen auf. Da krachte es laut. Meine Mörder hielten inne, als eine Stimme ertönte.

  »Das ist eine richtig schlechte Idee.«

  Ich wandte meinen Kopf, so weit ich konnte, obwohl ich längst wusste, wem diese Stimme gehörte.

  »Muss ich wirklich noch deutlicher werden?« Amelie de Marais stand an der Tür, in einem dunklen Mantel, mit einer Waffe in der Hand und einem Ausdruck im Gesicht, als wäre sie der Tod höchstpersönlich. »Wenn ihr das tut, schwöre ich, befördere ich euch direkt hinterher, und eure Familien setze ich noch heute Nacht auf die Straße. Aber keine Straße hier unten, wo es noch halbwegs sicher ist. Es wird eine Straße im Norden sein, wo Angehörige des Militärs wahnsinnig beliebt sind. Und wahrscheinlich lösche ich ihnen vorher die Erinnerung an euch.« Amelie kam näher. Sie hätte die Waffe nicht gebraucht, um bedrohlich zu wirken. »Lasst. Sie. Runter. Sofort.«

  Langsam, sehr langsam löste sich die Starre der beiden Männer und sie bewegten sich wieder, ließen mich langsam zu Boden. Sobald sie ihren Griff lockerten, schlug ich nach ihren Händen und machte mich los. Dann brachte ich Abstand zwischen sie und mich.

  »Alles in Ordnung, Ophelia?«, fragte mich Amelie.

  Ich nickte nur, bekam kein Wort heraus.

  »Also, wer gehört noch zu dieser Verschwörung?«, fragte Amelie die beiden Soldaten. »Und sprecht deutlich, damit meine EarLinks es aufzeichnen können.«

  Der Soldat ohne Maske nannte zögernd einige Namen, darunter auch welche, die ich kannte. Wie weit hatte dieser Tumor in Maraisvilles Eingeweiden schon gestreut?

  »Noch andere?« Amelies Tonfall ließ keine Ausflüchte zu.

  »Nein.«

  »Gut.« Amelie hob die Waffe. »Dann danke ich euch für euren Einsatz im Dienste dieses Landes. Er endet heute.«

  Entsetzen zeigte sich auf dem Gesicht des unmaskierten Soldaten.

  »Nein … bitte nicht! Der König würde das nie tun!«

  Amelie lachte trocken. »Ich bin nicht wie mein Bruder, weder wie der eine noch der andere. Das sollte doch mittlerweile bekannt sein.« Und dann schoss sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Es waren zwei präzise Schüsse in den Kopf. Die beiden Männer fielen mit einem dumpfen Geräusch ins Gras.

  Ich hätte schockiert sein müssen, vielleicht auch erleichtert, aber ich fühlte gar nichts. Nicht einmal meinen Körper oder das Zittern, das mich durchschüttelte und meine Zähne klappern ließ, als wäre ich ein Skelett. Meine Sicht verschwamm, ich spürte gerade noch, wie Amelie nach mir griff. Dann verschwand die Welt in einem Strudel aus Dunkelheit und Stille.

  Es war stockfinster in Luciens Schlafzimmer Die Wolken waren zu dicht, um das Licht des Mondes trotz offener Vorhänge hereinzulassen. Ich saß auf dem Bett, die Knie angezogen, eine Decke über den Beinen und starrte ins Nichts. Neben mir auf dem Nachttisch stand ein Sandwich, daneben ein Glas mit Wasser. Nichts davon hatte ich angerührt.

  Ich hatte darum gebeten, allein zu sein, nur für eine Viertelstunde. Amelie übernahm es, Travere von ihren Pflichten zu befreien. Wie sie das machte, wollte ich nicht wissen, und es war mir auch egal. Wichtig war nur, dass wir das Militär vom RTC abzogen, damit wir Zeit bekamen, Lucien und die anderen beiden zu befreien. In dem Lager befanden sich keine fertigen Drohnen oder hochentwickelte Geräte, sondern nur Vorstufen und Bauteile. Die OmnI würde mit diesen Ressourcen nicht in drei Minuten ihr Arsenal erweitern können, sondern erst in zwei oder drei Tagen. Das hatte ich bedacht, als ich Travere den Befehl gegeben hatte. Aber sie hatte es zum Anlass genommen, mich töten zu wollen.

  Meine Gefühle waren immer noch verschwunden. Nicht einmal die riesige Angst, die mein Denken in den letzten Tagen bestimmt hatte, war noch da. Da war nichts mehr, gar nichts. Fast so, als wäre ich wirklich über die Mauer gestoßen worden. Vielleicht war das eine Schutzreaktion, irgendein Filter, der entschieden hatte, dass es jetzt zu viel war. Aber ich wusste nicht, ob ich froh darüber sein sollte. Denn die Bilder von Luciens Folter waren noch da. Sie liefen in einer Endlosschleife durch meinen Kopf. Egal, ob die OmnI sie nur gefälscht hatte wie schon zuvor einmal … ich konnte nicht ausschließen, dass sie echt waren. Außerdem fand ich keinen guten Grund für eine solche Fälschung. Costard hasste Lucien. Warum hätte er ihm nicht wehtun sollen?

  Ein Geräusch ließ mich zusammenzucken, es waren Schritte im Wohnzimmer nebenan.

  Ich erwartete Amelie, aber es war mein Vater, der durch die Tür kam und das Licht anschaltete. Sein Gesicht war weiß wie die Wand hinter ihm.

  »Phee, Schatz, um Himmels willen! Geht es dir gut? Stimmt es, was die sagen? Wollten dich Traveres Leute …?«

  Ein Nicken war alles, was ich zustande brachte. Mein Hals war blockiert von dem riesigen Kloß, der dort saß. Wie er plötzlich dorthin gekommen war, wusste ich nicht. Es musste an meinem Dad liegen, der da so besorgt im Durchgang stand. Jetzt eilte er auf mich zu, setzte sich auf die Bettkante und breitete die Arme aus, wie früher, als ich noch klein gewesen war und vor irgendetwas Angst gehabt hatte. Und ich schlang die Arme um seinen Hals und alles brach über mich herein: Luciens Entführung und wie sie ihn geschlagen hatten. Die Bedrohung durch Costard. Die Sorge, dass wir nicht gewinnen konnten, egal, wie sehr wir uns anstrengten. Und die fürchterlich langen Monate, die ich schon kämpfte, mit all meiner Kraft. In denen ich stark gewesen war, für die Sache, für mich und alle Menschen, die ich liebte.

  Das alles entlud sich nun in Tränen, Unmengen von Tränen, und in einer Schwäche, die ich mir vorher nicht erlaubt hatte. Aber ich hatte keine Kraft mehr, stark zu sein. Ich wollte es nicht mehr sein müssen. Ich wollte einfach nur ein kleines Mädchen sein, das der Vater im Arm hielt und vor der Welt da draußen beschützte.

  Mein Dad spürte das, denn er hielt mich einfach nur fest, strich mir über die Haare und murmelte, alles würde wieder in Ordnung kommen.

  Und hier, in dieser Sekunde, wollte ich ihm das sogar glauben. Genau wie damals, als ich nach der Abkehr mit diesen grauenhaften Kopfschmerzen im Bett gelegen hatte und er zu mir gekommen war, um mir zu versprechen, er würde eine Lösung finden. Damals hatte er das. Aber diesmal endete meine Zuversicht in dem Moment, als ich ihn losließ.

  »Warum kannst du hier sein? Was ist mit Imogen?« Ich drückte mein Gesicht kurz in die Decke, um die Tränen zu trocknen.

  Mein Vater wischte sich über die Augen. »Die Operation ist vorbei, die L
unge wurde vor etwa einer Stunde erfolgreich implantiert. Jetzt kommen zwei kritische Tage. Wenn sie die übersteht, dann hat sie es geschafft.«

  »Das ist gut.« Ich dachte an Lynx und begann wieder zu weinen, wenn auch diesmal leise und still. Mein Vater zog mich erneut in seine Umarmung und strich mir sanft über den Rücken.

  »Es tut mir so leid, meine Kleine«, sagte er. »Es tut mir leid, dass ich nicht für dich da war. Vielleicht wäre dann alles ganz anders gelaufen.«

  Ich lachte, mehr ein schniefendes Glucksen. »Anders? Dad, ich habe mir diesen ganzen Mist selbst eingebrockt. Ich wollte hierherkommen, ich wollte meinen Kopf durchsetzen und mich am König rächen – und dann wollte ich bleiben, um es wieder gutzumachen. Du kannst nichts dafür und hättest nichts tun können, um daran etwas zu ändern.«

  »Doch, ich hätte dir mehr davon erzählen können, wie gefährlich unser Fortschritt war, bevor die Abkehr kam. Ich habe es nicht gewusst, aber geahnt, was Costards Erfindung anrichten kann. Und trotzdem habe ich dir nie davon erzählt und einfach gehofft, dass du die Abkehr eines Tages akzeptieren würdest.« Er lächelte schief. »Dabei wusste ich doch, wie klug du bist, und wie beharrlich. Ich hätte wissen müssen, dass du dich damit nie abfinden würdest.«

  Ich hob die Schultern. »Am Ende ist das doch egal. Jetzt bin ich hier. Dafür kann ich niemandem die Schuld geben außer mir selbst. Vielleicht nicht einmal das.« Denn wenn ich nicht so wütend auf Leopold gewesen wäre, hätte ich nie Lucien kennengelernt.

  Lucien. Die Bilder aus Costards Zelle brachen mit voller Wucht über mich herein. Mein leerer Magen rebellierte vor Angst. »Ich weiß nicht, was ich tun soll, Dad«, sagte ich verzweifelt. »Nicht einmal mit den Kapseln kann ich herausfinden, wo er ist.«

  Er zögerte. »Nicht mit den Kapseln. Aber vielleicht mit etwas anderem.« Mein Dad nahm ein flaches Kästchen vom Nachttisch, das er offenbar mitgebracht hatte. »Im Kopf arbeite ich schon seit Jahren daran, aber in Brighton konnte ich es natürlich nicht umsetzen. Doch hier, mit den Möglichkeiten von Maraisville … da war es machbar.«

  Ich öffnete das Kästchen. Darin lagen zwei SubDerm-Injektoren, die genauso aussahen wie die mit meinem HeadLock. Fragend sah ich meinen Vater an. »Was ist das?«

  »Ein Geburtstagsgeschenk. Der ist zwar erst in einer Woche, aber ich dachte, in diesem Fall bringt es kein Unglück.« Er unterstrich den Scherz mit einem müden Lächeln. Dann nahm er einen der Zylinder heraus. »Deine alten InterLinks können wir nicht mehr nachbauen, aber es gibt noch eine weitere Methode. Damals war sie kein Thema, du solltest ohnehin Links tragen, und deinen Defekt darüber zu kompensieren, war naheliegend.« Er drehte den Injektor in der Hand. »Das hier ist anders. Es ist eine Technik, wie ich sie für die Krebsbehandlung entwickelt habe.«

  Ich nahm ihm den Injektor aus der Hand. »Nanotechnologie?«

  Er nickte. »NanoLinks. Man muss die Partikel umprogrammieren, was kompliziert ist und sehr viel Präzision erfordert. Dann allerdings können sie die Lücken in der Reizweiterleitung deines Gehirns schließen. Ohne Nebenwirkungen und viel effektiver als die Kapseln. Es wirkt auch länger, etwa zwei Wochen. Dann musst du die Injektion erneuern oder dein HeadLock nehmen.«

  »Und das hast du mal eben nebenbei entwickelt, während du Imogen das Leben retten musstest?« Erstaunt sah ich ihn an, und nur langsam sickerte in mein Bewusstsein, was ich da in der Hand hielt. Eine Chance. Eine echte Chance.

  Mein Vater lächelte bescheiden. »Ich bin kein Arzt und die Operation wurde automatisiert durchgeführt. Außerdem wusste ich ja schon lange, wie ich es machen wollte.« Er holte Luft. »Ich war mir allerdings nicht sicher, ob ich es dir geben soll. Du hast endlich akzeptiert, mit der Abkehr zu leben. Und genau genommen ist es ein Verstoß dagegen. Aber –«

  Ich ließ ihn nicht ausreden, ich wusste ohnehin, was er sagen wollte. Also umarmte ich ihn fest, und hätte ich noch Tränen gehabt, dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür gewesen. So lange hatte ich gedacht, ich wäre ihm egal, aber das war ich nie gewesen. Nicht einmal ansatzweise. Er hatte jahrelang darüber nachgedacht, wie er mir helfen konnte – und soeben hatte er mir eine Möglichkeit gegeben, Lucien zu finden. Niemals würde ich mich dafür revanchieren können.

  »Danke, Dad«, flüsterte ich trotzdem. »Danke für alles.«

  34

  »Worauf wartest du? Los, benutz es.« Mein Bruder sah mich erwartungsvoll an. Er saß zwischen Amelie und Jye auf dem Sofa in Luciens Wohnzimmer, Echo und mein Freund waren vor einer halben Stunde zurückgekehrt. Bis zum Ablauf von Costards Ultimatum blieben uns damit noch vier Stunden. Amelie hatte ihren Einfluss genutzt, um das Militär von Traveres Verrätern zu bereinigen, hatte die Chefin inhaftiert und die Truppen in Paris darauf vorbereitet, bei Bedarf abzuziehen. Allerdings war das nur der letzte Ausweg. Davor kam ich zum Zug. Ich und die Technologie meines Vaters.

  »Hetz mich nicht«, sagte ich, auch wenn ich wusste, die Zeit drängte. Aber die Hoffnung, die in mir pochte, seit mein Dad mir das Kästchen gegeben hatte, war so ein gutes Gefühl und machte mir zugleich eine Heidenangst. Was, wenn es nicht funktionierte? Wenn es mir auch nicht mehr half als die Kapseln?

  Als Costard sich auf mein Pad geschaltet hatte, war es mir unbemerkt gelungen, die Aufzeichnung zu aktivieren. Alle, die hier saßen, hatten sie angeschaut, und vor allem Amelie hatte es schwer getroffen, ihren kleinen Bruder so hilflos zu sehen. Alle hofften also auf mich, und ich fürchtete, sie zu enttäuschen. Sie und Lucien, für den es überlebensnotwendig war, dass ich ihn fand.

  Ich atmete tief durch, dann setzte ich den Injektor an meinen Hals und drückte den Knopf. Das vertraute Zischen ertönte und verebbte schnell. Die vier Leute vor mir sahen mich gespannt an.

  »Und?«, fragte Eneas.

  »Jetzt warte doch mal«, würgte ich ihn ab. Mein Vater, der wieder bei Imogen war, hatte mir gesagt, dass es einige Minuten dauern würde, bis es wirkte. »Die NanoLinks müssen doch erst an die richtige Stelle gelangen und dann die … woah. Heilige Scheiße.«

  Ich hatte noch Erinnerungen daran, wie das Leben mit meinen Spezial-Links gewesen war. Wie frei, wie schnell mein Kopf gearbeitet hatte. Ich hatte über nichts nachdenken müssen, sondern so schnell geschlussfolgert, dass kein Problem zu groß, keine Frage zu schwierig für mich gewesen war. Aber diese Erinnerungen waren mit der Zeit verblasst, als stünden sie in einem Buch, das ich irgendwann einmal gelesen hatte. Die Kapseln hatten daran nichts ändern können. Das hier hingegen, das jetzt … es war real. Von einer Sekunde auf die andere war ich wieder vollständig. Mein Kopf und ich waren endlich wieder eins.

  »Wie ist es?« Mein Bruder sah mich an.

  »Krass«, sagte ich nur.

  Die Kapseln hatten dafür gesorgt, dass der Schleier verschwand, mit dem das HeadLock meine Wahrnehmung überzog – mich aber auch übersensibel gemacht. Ich war mit ihnen kaum noch in der Lage zu filtern, hatte alles gesehen, alles gehört, alles gefühlt. Jetzt war das anders. Die Farben wurden nicht intensiver, sie wurden klarer. Alles wurde klarer. Ich hätte Jyes Bartstoppeln zählen können, den Schmutz auf seiner Kleidung einem Muster zuordnen oder Echos Schrammen an den Fingern dem Material, das es verursacht hatte. Aber mein Gehirn verstand, dass nichts davon relevant war. Und das half mir zum ersten Mal seit sieben Jahren, mich tatsächlich auf das zu fokussieren, was wichtig war: Lucien. Seine Befreiung. Ich schaffte es sogar, meine Angst in eine Kiste aus Logik zu sperren. Und das Erste, woran ich dachte, nachdem sie darin verschwand, war ein Rätsel, das ich die ganze Zeit nicht hatte lösen können.

  »Hat jemand ein Pad mit der Aufnahme?«, fragte ich.

  »Hier.« Amelie hielt es mir hin, und ich nahm es entgegen, skippte bis zu dem Moment, wo Costard in die Zelle kam und sein Pad mit der Kamera umdrehte. Dann übersprang ich wieder ein Stück, warf nur kurz einen Blick auf Luciens Gesicht, kurz bevor der Handlanger zuschlug. Wieder ein Stück, bis Costard aus der Zelle verschwand und erneut ins Bild trat. Schließlich gab ich Amelie das Pad zurück.

  »Ich weiß es jetzt.« Als ich aufsah, begegneten mir v
ier Augenpaare.

  »Du weißt, wo er sie festhält?« Amelie klang hoffnungsvoll.

  »Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass er sie gar nicht festhält.« Ohne die NanoLinks hätte ich die winzigen Unregelmäßigkeiten in den Bildern nicht erkannt. Aber nachdem ich sie entdeckt hatte, ließ sich von diesem Ausgangspunkt alles erklären.

  Eneas und Jye wechselten einen Blick, als fragten sie einander stumm, ob die NanoLinks meines Vaters mich nun hatten überschnappen lassen. »Du meinst also, er hat sie gar nicht?«

  »Wie kommst du darauf?« Amelie runzelte die Stirn, und ich erkannte hundert Mikroausdrücke in ihrem Gesicht, die mir ihre Skepsis, aber auch Hoffnung verrieten. Sie vertraute mir, das wusste ich in diesem Moment. Vielleicht wollte sie es nicht so richtig, aber sie vertraute mir.

  »Nach dem Gespräch mit Costard habe ich einen Moment daran gedacht, dass diese Aufnahme auch eine Simulation sein könnte. Genau wie damals, als mir die OmnI verkaufen wollte, Lucien wäre auf mich angesetzt gewesen.« Ich stand auf, ich konnte nicht mehr sitzen. »Allerdings ist mir kein guter Grund eingefallen, warum Costard diesen Aufwand betreiben sollte. Schließlich ist es ihm egal, ob Lucien verprügelt wird. Warum es also nicht wirklich tun, statt es nur zu simulieren?«

  Eneas nickte. »Also hat er sie gar nicht entführt, aber dann davon erfahren und sich gedacht, er könnte dich mit der Simulation erpressen?«

  »Ganz genau!«, rief ich. »Es ist die einfachste Lösung, um an die RTCs zu kommen. Er musste ja nicht einmal etwas dafür tun, außer etwas Budenzauber.« Okay, vielleicht schnappte ich doch ein kleines bisschen über. Aber meine Gefühle waren unter dem Einfluss der NanoLinks viel stärker zu spüren als ohne. Und die Gewissheit, dass Lucien diese Schläge überhaupt nicht getroffen hatten, machte mir Hoffnung. So große Hoffnung, dass sie nicht in meinen Körper zu passen schien.

  »Gar nicht so dumm.« Echo hob die Schultern. »Du bist hier schließlich die Einzige, die wahnsinnig genug ist, ein ganzes Land für einen einzelnen Menschen zu opfern. Was kein Angriff sein soll. Du weißt, ich schätze es mittlerweile auf eine merkwürdige Art, wie du tickst.«

 

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