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Die Sterne werden fallen

Page 36

by Kiefer, Lena


  »Stets zu Diensten.« Ich verneigte mich ein wenig spöttisch.

  »Aber was ist mit der Nachricht?«, fragte Eneas. »Die an der Wand im Theater? Das war doch eindeutig die Handschrift der OmnI.«

  Ja, das musste ich zugeben. Aber auch dafür hatte ich eine Erklärung. »Ganz einfach: Wer immer die FlightUnit entführt hat, wollte die OmnI als Sündenbock hinstellen.«

  Vier Leute atmeten bei dieser abenteuerlich anmutenden Erklärung aus. Jye runzelte die Stirn. »Nehmen wir an, du hast recht. Ich bin zwar nicht ganz überzeugt, aber nehmen wir es an. Wer war es denn dann?«

  »Weiß ich noch nicht. Aber das ist erst mal belanglos, wenn wir vorher einen Weg finden, um die drei aufzuspüren.«

  »Und wie willst du sie finden?«

  »Weiß ich auch noch nicht. Aber es gibt garantiert eine Möglichkeit, vor allem, wenn die OmnI nicht mit im Spiel ist.« Ich lief zum Fenster, dann zum Schreibtisch und wieder zurück. Die Bewegung half mir beim Denken. Am liebsten wäre ich draußen eine Runde gelaufen, aber wenn man sich ansah, was bei meinem letzten Wunsch nach frischer Luft passiert war, ließ ich das besser sein.

  Als mir eine Idee kam, lief ich zum Terminal, rief ein paar Ordner auf und suchte mich schweigend durch die Daten. Oder zumindest dachte ich das. Bis Eneas neben mich trat.

  »Schwesterherz? Du brabbelst vor dich hin. Bitte sag mir, dass Dad dir nichts gegeben hat, was dir den Verstand grillt.«

  Ich wehrte seinen Einwand mit einem rigorosen Schwenken meiner Hand ab. Ich musste mich konzentrieren, was ungefähr viertausendmal so gut funktionierte wie sonst. Aber nur, weil mein Gehirn jetzt endlich wieder auf vollen Touren arbeitete, bedeutete das nicht, dass ich auch alles ausblenden konnte, was außerhalb davon passierte.

  Mein Bruder murmelte etwas davon, er wolle uns etwas zu essen besorgen, aber ich bekam es kaum mit. Ich war auf einer Spur, die ich im Normalzustand für höchst verrückt gehalten hätte, die sich aber jetzt so deutlich vor mir abzeichnete, als hätte man kleine Leuchtfähnchen an die Bäume in einem dichten Wald gehängt. Nur einige Minuten später endete sie auf einer Lichtung, und ich wusste nun, was zu tun war. Vielleicht. Wahrscheinlich.

  Schwungvoll drehte ich mich zu den anderen um, die abwartend auf dem Sofa saßen oder dahinter standen.

  »Luciens Haut«, sagte ich.

  »Was ist damit?« Amelie sah alarmiert zu den anderen beiden, als frage sie sich, ob Jye und Echo eingeweiht waren. Aber auf Geheimhaltung konnte ich gerade keine Rücksicht nehmen.

  »So finden wir sie. Lucien trägt doch ein Implantat, um die Funktionen seiner Haut zu steuern. Die Signatur davon ist einzigartig.«

  »Wer immer sie festhält, wird alle Signale geblockt haben.« Echo gab meinen Advocatus Diaboli. »Wir haben schließlich eine permanente Suche nach ihren WrInks laufen, und die sind nirgends aufzuspüren.«

  »Ja, weil es WrInks sind. Sie lassen sich mit einem relativ simplen Störsignal verschleiern. Aber für so etwas wie Luciens Implantat bräuchte man etwas Ausgefeilteres.«

  »Das hilft uns nicht, wenn der Entführer von seinem Implantat weiß und deswegen ein passendes Störsignal programmiert hat.« Amelie schlug sich auf Echos Seite. Aber das kümmerte mich nicht.

  »Doch. Genau das hilft uns.« Ich tippte auf dem Terminal etwas ein und zeigte es den anderen. »Wenn der Satellit über eine mit dem einfachen Störimpuls geblockte Gegend fliegt, sieht es aus, als wäre da nichts, das funkt – was nicht verwundert, weil es seit der Abkehr unendlich viele Regionen gibt, wo das so ist. Aber wenn man die Signale auf der Ebene von Luciens Implantat blockiert, sorgt das für eine winzige Verzerrung, die fast nicht zu erkennen ist. Trotzdem ist sie da. Programmiert man einen Algorithmus, der genau diese Verzerrungen aufspürt, findet der Satellit ohne Probleme die Stelle, wo das Signal unterdrückt wird. Und dann wissen wir, wo die drei sind.«

  »Nur, dass wir dafür keine Zeit haben. Einen solchen Suchalgorithmus zu programmieren dauert Wochen.« Echo sah mich an und rollte die Augen, als ich grinste. »Für dich natürlich nicht, verstehe. Diese Nerdversion von dir nervt wirklich kolossal, Scale. Wenn wir Lucien finden, fahr das lieber ein bisschen runter, sonst schmeißt er dich irgendwann raus.«

  »Danke für den Beziehungstipp, Miss Steady-Single.« Ich grinste weiter. »Am besten mache ich mich direkt an die Programmierung. Neas, würdest du Mum fragen, ob sie mir eine Einschätzung schicken kann, welche Optionen wir noch in Bezug auf die OmnI haben? Aber erzähl ihr bloß nichts von dem Anschlag auf mich.«

  »Sie weiß längst davon«, sagte Eneas. »Ich habe es ihr gesagt. Deswegen hat sie ja Dad Bescheid gegeben.«

  Weil sie dachte, er wäre die bessere Wahl, wenn es darum ging, mich zu trösten. Was auch stimmte, aber ich schämte mich trotzdem für einen Moment.

  »Okay. Dann frag sie wegen der OmnI. Jye und Echo, könnt ihr euch um die Situation in Paris kümmern? Lasst es so aussehen, als würde das Militär sich tatsächlich zurückziehen, ohne dass es so ist. Am besten tauscht ihr die Uniformierten gegen welche in Zivil aus.«

  »Ist das nicht eher was für die Schakale?«, fragte Echo.

  »Nein, die brauche ich auf Abruf für die Befreiung von Deverose, Lucien und Dufort. Ich traue niemand anderem. Sieht so aus, als müssten die Soldaten ihren inneren Schakal entdecken. Bei der Masse an Leuten wird das funktionieren.«

  »Aye, Sir … Ma’am.« Jye salutierte und erhob sich. Ich sah Amelie an, aber ich musste nichts sagen.

  »Ich weiß schon.« Sie stand ebenfalls auf. »Ich werde meine Kontakte abklappern, ob jemand etwas von einer dritten Partei weiß, die mit im Spiel ist. Ich habe einen guten Draht zu den Botschaftern aus Asien und Nordamerika. Es hat auch seine Vorteile, als Verräterin zu gelten.«

  In meinem Fall war das anders gewesen, trotzdem widersprach ich nicht. Etwas musste ich ihr allerdings sagen. Als die anderen hinausgingen, hielt ich sie zurück. »Ich muss dir noch danken, Amelie. Ohne dich wäre ich jetzt tot.«

  »Und ohne dich hätte ich nicht erkannt, dass es hier vielleicht immer noch einen Platz für mich gibt. Wir sind quitt.« Sie nickte ernst.

  »Nicht vielleicht. Ganz sicher. Lucien wird es verstehen. Schließlich hat er das bei mir auch.« Ich atmete durch. »Ich mache mich mal an die Arbeit. Sagst du mir sofort Bescheid, wenn du etwas hörst?«

  »Natürlich.« Sie nickte und lächelte mir zu. Dann ging sie.

  Ich blieb allein zurück und wollte mich an die Programmierung des Algorithmus machen, als mir plötzlich eine Idee kam. Zwei Dinge verbanden sich, die vorher ein getrenntes Dasein in meinem Hirn gefristet hatten. Und zwar durch eine Frage: Was, wenn hinter Leopolds Absturz und Luciens Entführung dieselbe Person steckte?

  Jetzt stecken wir aber sehr tief im Sumpf der Verschwörungstheorien. Vielleicht, ja. Aber ich wollte dieser fixen Idee trotzdem nachgehen. Alles, was ich dazu brauchte, waren Tildas Daten der Drohne und die unvollständigen Scans unseres Besuchs in der schwarzen Zone. Aber eins nach dem anderen.

  Nachdem ich den Algorithmus programmiert hatte, der Lucien aufspüren sollte, nahm ich mir die Scans vor. Ich hatte es bisher für unmöglich gehalten, anhand einer so löchrigen Datenlage herauszufinden, was das für eine FlightUnit gewesen war, die vor dem Absturz dort aufgesetzt hatte. Aber mit meinem unbeschränkten Gehirn war das etwas anderes. Jetzt konnte ich die Lücken eventuell füllen und so etwas über diese ominöse Unit herausfinden. Dazu war eigentlich nur eine hochentwickelte KI in der Lage – oder ich, aufgewertet durch NanoLinks.

  »Wie sieht es aus?« Eneas kehrte bald darauf zurück, einen großen Teller mit belegten Broten in der Hand.

  »Der Algorithmus läuft. Der Satellit ist damit unterwegs.«

  »Der für Lucien? Jetzt schon?«

  »Hat nur eine halbe Stunde gedauert.« Der Gedanke an Lucien schickte einen scharfen Schmerz durch meinen Körper und die Angst kämpfte sich aus der Logikkiste hervor. Dass Costard und die OmnI ihn nicht in ihrer Gewalt hatten, bedeutete nicht, dass er nicht trotzdem in Gefahr war. Und auc
h wenn jede Sekunde zählte, erlaubte ich mir kurz den Gedanken an Rache.

  Wer immer das getan hatte, würde die Quittung bekommen. Dafür würde ich sorgen.

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  Auch mit dem Mittel meines Vaters brauchte ich zwei Stunden, um die Daten des lückenhaften Scans zu durchforsten und alle Löcher zu stopfen. Während ich das tat, lief heimlich und leise Costards Ultimatum ab.

  »In Paris tut sich bisher nichts«, meldete Jye von einem der Terminals, die wir zusätzlich in Luciens Räume geschafft hatten. Wir hatten hier eine Art verdeckte Einsatzzentrale eingerichtet, weil ich niemandem unten im Lagezentrum von unserer Mission erzählen wollte. Paulsen war vielleicht sauber und Saric unschuldig, aber ich traute keinem mehr außer meiner Familie und den Personen in diesem Raum. Was angesichts der Tatsache, dass Amelie de Marais zu diesen Leuten zählte, absurd wirken konnte. Aber niemand stellte infrage, dass ich ihr vertraute.

  »Natürlich nicht. Costard wird keine Leute von ReVerse schicken, weil er sich darauf verlässt, dass ich der OmnI den Weg freigemacht habe.« In Wahrheit hielten als Zivilisten verkleidete Soldaten die Lage im Auge und konnten eingreifen, wenn es brenzlig wurde. Ob sie das schaffen würden, wusste ich nicht. Aber da Costard ja kein echtes Druckmittel gegen uns in der Hand hatte, würde er demnächst eine neue Strategie einschlagen müssen – was uns wiederum Zeit brachte. Mir war völlig bewusst, dass wir nah am Abgrund standen, sehr nah. Nur hatte im Moment Luciens Befreiung und die der anderen Priorität. Wenn sie wieder bei uns waren, würden wir einen neuen Schlag gegen die OmnI vorbereiten.

  »Hast du schon was?« Eneas aß gerade sein viertes Sandwich und behielt dabei die Daten des Satelliten im Auge, die durch meinen Algorithmus liefen. Die Anwesenheit meines Bruders beruhigte mich. Wie ein ausgleichender Pol, der mir lange gefehlt hatte.

  »Nein, noch nicht, aber wenn ich das hier noch eingebe, dann …« Ich war fertig. Mit hämmerndem Herzen ließ ich das Programm meine Ergänzungen sortieren. Bei jeder Zeile Datencode wurden meine Augen größer. »Was?« Damit hatte ich nicht gerechnet.

  »Was ist?« Eneas und Jye waren sofort bei mir. Ich zeigte auf eine bestimmte Ansammlung von Zahlen und Buchstaben.

  »Seht euch das hier an.«

  Die beiden Jungs wechselten einen ratlosen Blick. »Ja, und jetzt bitte für uns Menschen ohne NanoLinks im Gehirn«, sagte Jye.

  »Dufort und ich sind zur Absturzstelle geflogen, weil wir dort Spuren der zweiten Unit scannen wollten, aber ich habe es nicht geschafft, einen vollständigen Scan zu machen, bevor wir angegriffen wurden. Also habe ich versucht, das aufzufüllen, was fehlt. Und dabei kam das raus.« Ich zeigte auf eine bestimmte Stelle im Code. »Offenbar ist dort nie eine zweite FlightUnit gelandet.«

  »Aber hast du nicht gesagt, dass die Strahlungswerte eindeutig auf so eine Landung hingedeutet haben?« Jye runzelte die Stirn.

  »Richtig. Es ist ja auch eine gelandet. Nur war es keine zweite. Sondern die gleiche. Die von Leopold.« Ich wünschte mir, Dufort wäre da, um das zu sehen. Dann hätte er gewusst, dass unser Himmelfahrtstrip in die schwarze Zone nicht umsonst gewesen war.

  Eneas beugte sich so weit zum Terminal, dass seine Nase beinahe den Screen berührte. »Sie sind gelandet und dann wieder gestartet, um anschließend abzustürzen?«

  »Ich weiß, wie bescheuert das klingt.« Ich hob unzufrieden die Schultern. »Warum eine Unit landen, kurz bevor man sie wieder aufsteigen und dann explodieren lässt?«

  »Hm.« Mein Bruder verzog den Mund. »Vielleicht haben sie jemanden abgesetzt.«

  Ich schnaubte. »Sehr witzig, Neas. Das ist doch keine TransUnit. Und in der schwarzen Zone ist nichts, wo man jemanden hinbringen könnte.« Eneas sah mich weiterhin an, als würde er auf etwas warten. Und da kam es mir. »Du meinst … die Unit wurde zur Landung gezwungen, um jemanden daraus zu entführen?«

  »Oder zu retten. Wenn der Drahtzieher des Anschlags an Bord war, wollte er vermutlich nicht sterben«, sagte Jye. »Vielleicht haben sie ihn rausgeholt.«

  Ich schüttelte den Kopf. »Warum ihn dann erst mitschicken? Jeder Einzelne an Bord hätte ohne Probleme eine Ausrede finden können, um nicht einzusteigen.«

  »Hm. Dann hat vielleicht jemand Leopold geschnappt und wartet auf den richtigen Moment, um ihn als Druckmittel zu benutzen?«

  Ich warf meinem Freund einen Blick zu und drängte die Hoffnung beiseite, die mich einfangen wollte. »Fünf Monate? Das ist eine lange Zeit, um auf die richtige Gelegenheit zu warten.« Es ergab keinen Sinn. Und das machte mich wahnsinnig, weil mir keine logische Erklärung für diese Landung einfiel. Oder ich bedachte nicht alles. Viel zu schnell hatte ich mich wieder daran gewöhnt, dass es für mich keine unlösbaren Probleme gab. Aber mit so einer dünnen Faktenlage gab es sie eben doch.

  Die Tür schwang auf und Amelie betrat das Zimmer mit der ihr üblichen Eleganz, obwohl sie irgendein altes Sweatshirt trug und die Haare zu einem unordentlichen Knäuel gedreht hatte.

  »Ich habe Neuigkeiten. Mein Kontakt hat mir verraten, dass der nordamerikanische Präsident aktuell als vermisst gilt. Und die großasiatische Herrscherin hat ebenfalls seit drei Tagen niemand mehr gesehen.«

  Meine Augen wurden groß. Also hatte Luciens Entführer nicht nur ihn geschnappt, sondern auch Anführer anderer Länder? »Weißt du, wen noch?«

  Sie hob ihr Pad. »Ich habe Anfragen nach Südamerika, Afrika und Australien geschickt und warte noch auf Antwort. Aber ich denke, dort wird man uns Ähnliches sagen.«

  Ich ließ ihre Worte sacken. Bedeutete das etwa …?

  »Jemand versucht, alle Regierungschefs in die Hände zu bekommen«, sprach ich aus, was ich unter anderen Umständen für völlig abstrus gehalten hätte.

  »Warum?«, fragte Eneas, weil er die Antwort nicht kennen konnte. Aber ich schon. Es gab schließlich nur eins, für das man alle führenden Köpfe der Welt brauchte.

  »Amber Island.«

  Allein der Gedanke an die schwimmende Insel trieb mir eine Gänsehaut in den Nacken – und der an die Lagerbestände Panik in den Rest meines Körpers. Was will man von dort? Die Frage war wohl eher, was derjenige von dort nicht wollen könnte. Amber Island war bis unter die Decke gefüllt mit hochentwickelten technischen Bestandteilen, Nuklearwaffen und anderen Dingen, die unsere Welt in Trümmer legen konnten. Sie war wie ein Selbstbedienungsladen für Leute mit bösen Absichten. Ich hatte die Lagerlisten gesehen, als Lucien und ich dort gewesen waren, aber da ich so sehr auf den DataPod konzentriert gewesen war, hatte ich mir nicht alles angeschaut. Und wenn ich etwas gar nicht registriert hatte, konnte ich mich auch mithilfe der NanoLinks nicht daran erinnern. Aber … vielleicht musste ich das auch gar nicht. Denn Amelie war kreidebleich geworden, so als hätte sie eine Ahnung.

  »Was?«, fragte ich sie.

  »Vielleicht geht es gar nicht darum«, meinte sie zögernd, »aber es gibt da etwas, von dem Leopold mir vor einer Weile erzählt hat. Das ist allerdings höchste Geheimhaltungsstufe.« Sie sah zu Eneas und Jye.

  »Jetzt sag schon«, drängte ich.

  »Es ist … ein Sicherungssystem. Für den Fall eines PointOuts trotz Abkehr sollte es so eine Art Notfallsicherung geben, die nur von allen Regierungen gemeinsam aktiviert werden kann.«

  Mir schwante Fürchterliches. »Was für eine Notfallsicherung?«, fragte Jye.

  »Eine Armada von Raketen, bestückt mit irgendeinem abartigen Mikroorganismus. Wenn man sie in die Stratosphäre schießt und aktiviert, zerstört das Zeug jedes künstlich erzeugte Material, von Metalllegierungen bis hin zu Kunststoffen – und damit sämtliche Technologie auf unserem Planeten. Unwiderruflich. Um so zu verhindern, dass die OmnI in irgendein System schlüpft und dort überlebt.«

  Ich starrte sie an. »Das heißt, wir landen in der Steinzeit.«

  »Technologisch gesehen, ja, genau das heißt es.«

  »Weißt du, wie viele Tote es dann geben würde?« Unsere komplette Infrastruktur würde zusammenbrechen, es gäbe keine Möglichkeit, Energie zu transportieren oder kurzfristig Lebensmittel zu produzier
en und zu verteilen, vom Erhalt der öffentlichen Ordnung ganz zu schweigen – wenn alle Überwachungsmöglichkeiten, Waffen und Clearing-Stationen ausfielen, brach Anarchie aus. Dann hatten wir eine Endzeit, in der nur die Stärksten überleben und die Schwächeren sterben würden: getötet oder verhungert.

  »Nicht genau«, sagte Amelie. »Es gab Berechnungen, die auf fünfzig bis sechzig Prozent rausgelaufen sind.«

  »Fünfzig bis sechzig Prozent der gesamten Menschheit?«, fragte Eneas schockiert. Amelie nickte.

  »Deswegen ist es ja auch nur ein letzter Ausweg. Niemand ist davon ausgegangen, dass tatsächlich alle Regierungschefs eines Tages dafür sein könnten, diese Raketen zu zünden. Aber wenn sie jemand dazu zwingt …«

  Dann brauchte es ihr Einverständnis nicht. Ich durchforstete meinen Kopf nach Leuten, die so etwas Böses tun würden, aber lange fiel mir niemand ein. Bis ein anderer Gedanke in meinen Kopf huschte: Vielleicht hatte derjenige gar keine bösen Absichten. Vielleicht hatte er vermeintlich gute.

  »Phoenix.« Noch während ich diesen Namen aussprach, wusste ich mit absoluter Gewissheit, dass es die Wahrheit war. Niemand sonst würde unabhängig vom Willen der Regierungen eine eigene Offensive gegen die OmnI und Costard starten. Niemand außer ihm.

  »Phoenix ist tot«, sagte Amelie. »Er starb bei dem Absturz.«

  »Ding-ding, Breaking News.« Eneas sah sie an. »Es könnte sein, dass jemand den Absturz überlebt hat.«

  »Überlebt?« Sie warf einen hoffnungsvollen Blick zu mir. »Weißt du, ob es Leo …«

  Ich wollte ihr gerne sagen, dass dem so war. Aber ich musste bei der Wahrheit bleiben. »Das wissen wir nicht. Möglich ist es. Wenn auch nicht logisch. Zumindest finde ich keinen Grund, warum Phoenix Leopold erst retten und dann fünf Monate lang einsperren sollte.«

  Amelie ließ die Schultern hängen. Sie war zu klug, um nicht einzusehen, dass ich damit recht hatte.

 

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