by Kiefer, Lena
Es gab ein Geräusch – ein melodisches Pingen von Eneas’ Pad. »Phee?« Mein Bruder klang aufgeregt.
Mit drei Schritten war ich neben ihm, genau wie Jye und Amelie. Ich nahm Eneas das Pad aus der Hand.
»Haben wir einen Treffer?« Ich hatte darauf gehofft, dass der Satellit schnell etwas ausspucken würde, aber wir waren darauf angewiesen, dass er die Region auch überflog, in der man Lucien versteckt hielt. Ich hielt die Luft an, als ich mir die Ergebnisse ansah.
Es war tatsächlich nur ein sehr kleines Gebiet auf der Karte, wo der Algorithmus die von mir gesuchte, mehrfache Signalunterdrückung registriert hatte. Aber es war groß genug, um nicht an einen Fehler zu glauben. Groß genug, um zu hoffen, dass Lucien am Leben war. Meine Hand bebte, als ich das Pad weglegte und die anderen ansah.
»Holt Echo her. Sie soll mir sagen, wie schnell wir ein Team für die Rettungsmission zusammenstellen können.«
Eine Stunde. Das war die Antwort auf meine Frage. Wir brauchten eine Stunde, um die vertrauenswürdigsten Schakale rund um Echo und Carla für die Mission auszurüsten und einen schnellen Umgebungscheck für das Zielgebiet durchzuführen. Wenn es wirklich Phoenix war, der sich in dem alten Gefängniskomplex an der frankopäischen Küste versteckt hielt, schien er dafür nicht viele Leute zu brauchen: Die Umgebung war menschenleer. Allerdings wussten wir noch nicht, was oder wer drinnen auf uns wartete, weil das Gebäude gegen Wärmescans abgeschirmt war. Deswegen hatten wir entschieden, mit einem kleinen Team gezielt und schnell vorzugehen. Phoenix war ein brillanter Stratege, aber keine OmnI. Er konnte nicht damit rechnen, dass wir auftauchen würden.
Als die FlightUnit aus dem Militärareal abhob, krallte ich vor Anspannung die Finger in meinen Sitz. Echo leitete die Mission, aber ich hatte nicht in Maraisville bleiben können – oder müssen. Imogens Prognose war mittlerweile gut, und ich ging davon aus, dass sie bald wieder auf den Beinen sein würde. Wenn mir also etwas passierte, war das Land in besseren Händen als meinen. Amelie und Eneas waren zudem in der Festung geblieben und überwachten die Mission von dort aus. Jye hingegen saß neben mir. Er war genauso bleich wie ich sein musste. Stumm fasste ich nach seiner Hand und drückte sie. Wir mussten nicht miteinander reden, um zu wissen, dass wir eine Scheißangst davor hatten, was wir vorfinden würden.
»Was ist der letzte Stand mit Costard?«, fragte Jye irgendwann.
»Er hat sich nicht mehr gemeldet und das RTC ist auch immer noch in unserer Hand. Vielleicht hat er kapiert, dass ich seine Nummer durchschaut habe.« Oder er plante etwas ganz anderes, das ich nicht auf dem Schirm hatte. Ich war in meinem jetzigen Zustand vielleicht sehr viel klüger, aber ich konnte trotzdem nicht alles gleichzeitig berechnen und durchdenken. Ich musste hoffen, dass Costard und die OmnI so lange für den nächsten Zug brauchten, dass ich mich rechtzeitig wieder mit ihnen befassen konnte.
Echo kam in den vorderen Teil der FlightUnit, wo wir saßen. »Macht euch fertig. Wir landen in zehn Minuten am vereinbarten Startpunkt.« Der lag nicht weit entfernt von der Gefängnisanlage. Es hatte Überlegungen gegeben, eine Laufstunde entfernt aufzusetzen, aber das dauerte zu lange. Wir mussten das Risiko eingehen.
Das Örtchen Lampaul-Plouarzel war früher wahrscheinlich ein idyllisches Fleckchen gewesen, aber schon vor fünfzig Jahren hatte man hier einen großen Gefängniskomplex für Schwerverbrecher errichtet und damit die Bevölkerung in die Flucht geschlagen. Wir landeten auf einem Feld nahe einer Reihe verfallener Häuschen mit schiefhängenden Fensterläden, deren Vorgärten von Unkraut völlig überwuchert waren. Bereits in der Ferne konnte man die massiven Mauern des Komplexes erkennen, der das größte Gefängnis Europas gewesen war, bevor man das Clearing-Verfahren entwickelt hatte. Selbst bei hellem Tageslicht wirkte es düster und bedrohlich. Wahrscheinlich stimmten die Erzählungen, dass viele Gefangene hier wahnsinnig geworden waren.
Unser Trupp, nur zehn Männer und Frauen, rückte eilig vor. Wir hatten uns die alten Pläne des Gefängnisses angesehen – es war riesig, verwinkelt und brauchte wahrscheinlich gar keine Mauern, um zu verhindern, dass jemand den Weg nach draußen fand. Unter normalen Umständen hätte man einen Einsatzplan und ein ausführliches Briefing machen müssen, aber niemand wusste, wann Amber Island sich in der Nähe der Küste aufhalten würde und Phoenix demnach zur Tat schritt. Amelie hatte mir gesagt, dass zum Start der Raketen alle Regierungschefs anwesend sein mussten – genau, wie wenn ein Gegenstand von Amber Island entnommen werden sollte. Daher mussten wir das Risiko eingehen.
Wir liefen durch einen Nebeneingang ins Gebäude, das offenbar mehr als nur einen Wasserschaden hinter sich hatte: Es roch nach Schimmel und Rost, die Wände waren allesamt feucht und fleckig. Wir wagten uns vor in Richtung Mitte des sechseckigen Baus, wo es laut Plan einige Räume ohne Fenster gab, die sich für Gefangene, die niemand sehen sollte, am besten eigneten. Ich fühlte die Anspannung des Teams deutlich, vielleicht war es aber auch nur meine eigene. Jetzt würde sich herausstellen, ob mein Gehirn uns auf den richtigen Weg geführt hatte – oder in eine Sackgasse.
Lange sah man keine Spur davon, dass sich jemand in dem Gebäudekomplex aufhielt. Überall war altes Mobiliar zu sehen, zerfallen oder verrostet, als wäre das Gefängnis damals sehr eilig verlassen worden. Ansonsten war es vollkommen leer.
»Es wird Zeit, dass wir uns aufteilen«, sagte Echo bald. »Das Ding ist viel zu groß.« Aufteilen bedeutete immer eine Erhöhung der Gefahr, dass man in Unterzahl auf Gegner traf, aber ich gab ihr recht: Wenn wir zusammenblieben, wären wir in Tagen noch nicht fertig.
Eingespielt, wie die Schakale waren, dauerte es nur Sekunden, um Zweierteams einzuteilen. Echo und ich nahmen einen der Gänge und liefen allein weiter. Als wir dem Zentrum näher kamen, entdeckten wir in einem Raum Behälter für militärische Notrationen und große zylindrische Tonnen mit Frischwasser. Wir sahen uns an. Jemand war hier. Nur waren es auch die, die wir erwarteten? Konnten wir Lucien und die anderen retten?
An der nächsten Biegung trennten Echo und ich uns, um die Technikräume im zentralen Kern des Gebäudes abzusuchen. Es wurde wärmer und ein bestimmtes Kribbeln in meinem Hals warnte mich, dass ich dem Ziel sehr nahe war. Und dann wurde es Gewissheit, als die Stille von einer Stimme durchbrochen wurde.
»Besuch, wie schön.« Der sarkastische Ton von Cohen T. Phoenix lockte mich zu einem Bereich, in dem ein paar mobile Lampen aufgebaut waren. Ich hielt meine Waffe vor mich und ging hinein, ohne mir einen Gedanken darüber zu machen, ob es gefährlich war.
Zuerst sah ich nur Phoenix, mitten in einem Raum, der früher zur Überwachung der Gefangenen gedient haben musste, mit Screens und altertümlichen Bedienpulten. Aber dann trat der ehemalige Chef der Schakale einen Schritt zur Seite und ich erkannte Lucien. Man hatte ihn an einen Stuhl gefesselt und er war nicht bei Bewusstsein. Panik überschwemmte mein Herz. Was, wenn er nicht einfach nur ohnmächtig war, sondern Phoenix unser Kommen früh genug bemerkt hatte, um ihn …
»Ja, das ist die Frage, nicht?« Phoenix schien mir meine Gedanken am Gesicht abzulesen.
»Dann beantworten Sie sie gefälligst!«, schnauzte ich ihn an und richtete meine Waffe ein Stück weiter nach oben, direkt auf seinen Kopf.
»Vorsicht, Ophelia. Du willst doch nicht, dass ihm etwas passiert, oder?« Er zeigte mir die Waffe, die er hinter seinem Rücken gehalten hatte und die nun direkt auf Lucien gerichtet war.
»Hören Sie auf damit«, sagte ich. »Sie wissen doch, dass alles nun hier endet.«
»Aber sicher, meine Liebe. Nur – auf welche Art?«
Ich starrte ihn wütend an. »Sicher nicht auf die, dass Sie alle nach Amber Island schaffen und dort das Raketensystem starten.«
Ein winziges Zucken verriet mir, dass Phoenix damit nicht gerechnet hatte.
»Du hast es herausgefunden. Wie?«
Ich tippte mir an die Schläfe. »Sagen wir, ich bin jetzt ein bisschen klüger als bei unserer letzten Begegnung. Und ich hatte Hilfe von Amelie de Marais.« Mein Blick war auf Lucien geheftet – dessen Brust sich in diesem Moment leicht hob und wieder senkte.
Er war am Leben. Mir wäre vor Erleichterung fast die Waffe aus der Hand gefallen.
»Wenn du jetzt so klug bist, dann wirst du auch erkennen, dass mein Plan der einzige ist, der uns retten kann. Nichts außer einer totalen Abschaltung wird die OmnI aufhalten können.«
»Nur, dass dabei leider ein Großteil der Menschheit draufgehen würde.« Mein logisch denkendes Hirn fand zum Teil tatsächlich Gefallen an Phoenix’ Plan. Wenn es keinerlei Energieversorgung mehr für sie gab, wenn jedes technische Gerät und die gesamte Infrastruktur nutzlos wurden, dann konnte die OmnI nirgends hin. Dann war sie endgültig besiegt. Aber nur zum Preis eines Massenmords.
»Das ist immer noch besser als alle Menschen zu opfern, oder etwa nicht?«, fragte Phoenix. Ich sah in seinen Augen, dass er daran tatsächlich glaubte. Er war kein fehlgeleiteter Fanatiker mit einer kranken Idee. Er war ein hochintelligenter Mann, der alles tun würde, um seine Ziele zu erreichen.
»Es gibt noch andere Möglichkeiten.«
»Nein. Was du meinst, ist, dass es noch andere Möglichkeiten geben muss. Weil du naiv bist und an einen guten Ausgang dieser Geschichte glaubst. Aber den gibt es nicht. Wir haben keine zweite OmnI, die wir für uns ins Feld schicken könnten. Wir haben keine Optionen, ihr jemals Herr zu werden.« Das kalte Funkeln in seinen Augen wurde stärker. »Dein Glaube an eine gute Lösung macht dich blind, Ophelia. Die OmnI ist kurz davor –«
»Scale!« Echo kam in den Raum gelaufen und plötzlich ging alles viel zu schnell.
Phoenix riss den Arm herum und zielte direkt auf mich. In der gleichen Sekunde fiel ein Schuss. Erschrocken sah ich an mir herunter, aber es war Phoenix, der zusammenbrach. Blut breitete sich auf seinem Pullover aus und lief dann zu Boden. Ich fuhr herum und sah Echo, die ihre Waffe in dem Moment herunternahm.
»Ich weiß, wir hätten ihn befragen müssen. Aber so schnell konnte ich nicht auf Betäubung umstellen.«
»Ich weiß. Danke … ich –«
»Das ist mein Job, Scale. Kein Grund, sentimental zu werden.« Sie sah zu Lucien. »Was ist ihm? Ist er …?«
»Nein«, sagte ich schnell und berührte Luciens warme Wange. »Nein, ist er nicht. Wir müssen ihn nur aufwecken.«
Echo hatte so schnell ein Notfallset parat, dass ich den Eindruck hatte, sie hätte es in den Raum gebeamt. Ich ging vor Lucien in die Hocke, löste seine Fesseln und nahm den SubDerm-Injektor von Echo entgegen, um ihn an seinen Hals zu setzen und den Knopf zu drücken. Seine Lider flatterten, und als er schließlich die Augen aufschlug, wusste ich, was Erleichterung wirklich bedeutete.
»Dasis ein besserer Traum als dieletzten«, murmelte er verwaschen und lächelte schief. Und da war es mit meiner Beherrschung vorbei. Ich fiel ihm um den Hals und heulte, was das Zeug hielt.
»Schon gut«, murmelte Lucien und strich mir über die Haare. »Du tust ja so, als wäre ich fast gestorben.«
»Halt den Mund, du Idiot«, schimpfte ich. Aber dann umarmte ich ihn noch ein bisschen fester.
Während Jye meldete, dass die anderen Gefangenen betäubt, aber wohlauf in einer der Zellen entdeckt worden waren und die Schakale alle Gegner unschädlich gemacht hatten, ließ Lucien seinen Blick auf Phoenix’ Leiche ruhen.
»Wie geht es dir, bist du verletzt?«, fragte ich ihn besorgt.
»Mir geht es gut, Stunt-Girl. Phoenix wollte uns für diese Amber-Island-Sache, er hat uns nichts getan. Mach dir keine Sorgen.«
»Immer, wenn du das sagst, bedeutet das, ich sollte mir Sorgen machen.« Ich strich ihm eine Locke aus der Stirn und umarmte ihn noch einmal.
»Diesmal nicht.« Er legte seine Arme so fest um mich, dass ich es ihm ausnahmsweise glauben wollte. Aber erst als er sich zu mir beugte und mich küsste, wusste ich, dass er die Wahrheit sagte.
Carla kam herein. »Wir haben die anderen geweckt und versorgen sie jetzt, bevor wir alle rausbringen. Je schneller wir hier wegkommen, desto besser.«
Ich nickte, aber ich hatte nicht vergessen, nach wem ich hier noch suchte. Phoenix konnte ich jedoch nicht mehr fragen. Also blieb nur Lucien.
»Hast du Leopold gesehen? Weißt du, ob er hier ist?«
»Leo?« Luciens Augen wurden groß, und ich wusste, ich hatte einen Fehler gemacht. Konnte es sein, dass die beiden Brüder im gleichen Gebäude gewesen waren, ohne es zu wissen? Und dass Phoenix Lucien nichts von Leopold gesagt hatte? »Ich weiß nicht, ob …« Lucien wollte aufstehen, schwankte aber und kniff die Augen zusammen, als wäre ihm schwindelig. »Verdammtes Beruhigungsmittel«, murmelte er. Ich streichelte ihm über die Wange.
»Lass dich behandeln, okay? Ich sehe nach.« Ein schwerwiegendes Versprechen, denn ich hatte wenig Hoffnung, dass Leopold hier war – und wir konnten Phoenix nicht dazu verhören, was er mit ihm gemacht hatte. Ob er überhaupt bei der Landung aus der FlightUnit gebracht worden war. Es konnte gut sein, dass nur Phoenix ausgestiegen war. Aber ein Blick in Luciens Augen reichte, und ich wusste, ich musste es wenigstens versuchen.
Ich trat aus der Zelle und ließ den Rummel um die befreiten Regierungschefs bald hinter mir. Einer Ahnung folgend machte ich mich auf den Weg zur nördlichen Seite, dem Teil des Komplexes, der am weitesten von dem Ort entfernt war, wo wir Lucien gefunden hatten. Meine Schritte hallten in den leeren Gängen wie in einer Kirche, die hohen Metallgeländer zum Schutz vor einem Sturz in die Tiefe vibrierten dumpf, als ich an ihnen vorbeirannte. Alle Zellen waren leer, bis auf verrottetes Bettzeug und rostige Metallliegen. Teils wucherte Gestrüpp von draußen durch die Gitterstäbe und zerbrochenen Fenster. Keine Menschenseele war weit und breit zu entdecken. Es sah auch nicht so aus, als wäre in letzter Zeit jemand hier gewesen.
Du musst zurück. Sie warten auf dich und hier ist es nicht sicher. Vielleicht hat Phoenix noch mehr Komplizen. Oder Costard ist euch auf die Spur gekommen.
»Nur noch bis zum Ende des Flurs«, sagte ich in die Leere hinein. Ich wollte, dass er hier war. Ich wusste, die Chance war verschwindend gering, aber allein der Glaube daran trieb mich weiter vorwärts.
Der Gang endete, die letzte Zelle auf der rechten Seite war ebenso verlassen wie alle anderen. Ich atmete enttäuscht aus und lehnte mich gegen das Geländer, das den Flur von dem Innenraum trennte, der unter mir in gähnende Schwärze führte. Gegenüber lagen mehrere Gänge auf weiteren Ebenen, noch mehr leere Zellen mit offenen Türen … bis auf eine. Tief unter mir befand sich eine verschlossene Zelle. Etwas in mir zündete einen Funken Hoffnung. Die geschlossene Tür konnte Zufall sein. Oder auch nicht.
Ich suchte mir die nächste Treppe und rannte nach unten, während Echo auf den EarLinks nach mir fragte und ich sie keuchend um etwas Geduld bat. Als ich schließlich auf der untersten Ebene ankam und auf die Zelle zuging, schlug mir das Herz bis zum Hals.
Ich spähte durch das kleine Fenster in der Tür. Innen war es dunkel, hier unten drang nicht viel Licht von außen herein. Die Zelle schien leer zu sein. Aber weil meine Hoffnung einfach keine Ruhe gab, zerrte ich trotzdem an dem rostigen Hebel und öffnete die Tür. Spärliches Licht fiel in die Zelle und auf einen Schatten in der Ecke, der sich in dem Moment bewegte, als ich hereinkam.
»Wer ist da?«, fragte jemand. Ich schnappte nach Luft.
»Leopold?« Meine Stimme war so dünn, dass man sie kaum hören konnte. Atemlos kam ich näher, vorsichtig, als würde er verschwinden, wenn ich zu hastig wäre.
Er saß auf dem Boden, in abgetragener Kleidung, hatte einen Bart und sah furchtbar dünn aus. Aber als ich zu ihm ging, sah er hoch – und mir schossen Tränen in die Augen, als mir klarwurde, dass er tatsächlich am Leben war. Leopold de Marais lebte.
Ich hatte es so gehofft, aber in diesem Moment wurde mir klar, dass ich nicht wirklich daran geglaubt hatte.
»Ophelia?« Seine Stimme klang kratzig, so als hätte er sehr lange nicht mehr geredet. Neben ihm auf dem schmutzigen Boden lagen ein paar zerlesene Bücher. Der Geruch nach Schimmel war so extrem, dass mir die Luft wegblieb.
Ich überwand die letzten zwei Schritte bis zu Leopold, zog ihn auf die Beine und umarmte ihn kurzerhand – eine
Umarmung, die er nach kurzem Zögern erwiderte, so gut er konnte. Unter dem klammen Stoff konnte ich deutlich seine Rippen spüren und er zitterte, wahrscheinlich vor Erleichterung. Als ich ihn losließ, sah ich, dass seine tiefliegenden Augen feucht waren.
»So ein Zufall, was machst du denn hier?«, scherzte ich, um meine Rührung zu verbergen. »Urlaub? Da hat man dir aber eine ziemlich schlechte Unterkunft angedreht.«
Er lachte und musste sofort heftig husten. »Bitte keine Witze.«
»Entschuldige.« Ich wollte gar nicht wissen, wie viel Schimmel er in den letzten Monaten eingeatmet hatte. Oder was er sonst hatte ertragen müssen. »Komm, ich bringe dich raus. Wir haben Medikamente dabei, die dir helfen können. Vielleicht ist ja sogar ein bisschen PXI drin, damit du das hier für eine Weile vergisst.«
Er stützte sich auf mich und gemeinsam verließen wir die Zelle.
»Echo?«, fragte ich über die EarLinks und der Kanal ging auf. »Ich habe hier noch einen Gefangenen gefunden, kannst du mir Verstärkung schicken? Er ist ganz schön schwer.«
»Hey«, widersprach Leopold keuchend. »Ich bin so leicht wie noch nie.«
»Ist das …?« Zum ersten Mal erlebte ich Echo Claesson sprachlos.
»Ja.« Man konnte mir mein Lächeln anhören. »Also schick mir ein paar Leute, sonst feuert er dich noch.«
»Wir sind schon unterwegs.«
Die Verbindung brach ab und ich begegnete Leopolds erstauntem Blick. »Du erteilst Echo Befehle? Was habe ich verpasst?«
Ich grinste. »Ich habe keine Ahnung, wo ich da anfangen soll.«
»Vielleicht bei meinem Bruder.« Leopolds Stimme brach. »Geht es ihm gut?«
»Ja«, lächelte ich. »Ja, es geht ihm gut.«
Und es würde ihm noch viel besser gehen, wenn er erfuhr, dass Leopold am Leben war. Nicht nur, weil er damit einen Menschen zurückbekam, der ihm so unendlich viel bedeutete.
Sondern auch, weil er dann frei war.