by Karl Kraus
Heinrich Heine, der Dichter, lebt nur als eine konservierte Jugendliebe. Keine ist revisionsbedürftiger als diese. Die Jugend nimmt alles auf und nachher ist es grausam, ihr vieles wieder abzunehmen. Wie leicht empfängt die Seele der Jugend, wie leicht verknüpft sie das Leichte und Lose: wie wertlos muß eine Sache sein, damit ihr Eindruck nicht wertvoll werde durch Zeit und Umstand, da er erworben ward! Man ist nicht kritisch, sondern pietätvoll, wenn man Heine liebt. Man ist nicht kritisch, sondern pietätlos, wenn man dem mit Heine Erwachsenen seinen Heine ausreden will. Ein Angriff auf Heine ist ein Eingriff in jedermanns Privatleben. Er verletzt die Pietät vor der Jugend, den Respekt vor dem Knabenalter, die Ehrfurcht vor der Kindheit. Die erstgebornen Eindrücke nach ihrer Würdigkeit messen wollen, ist mehr als vermessen. Und Heine hatte das Talent, von den jungen Seelen empfangen und darum mit den jungen Erlebnissen assoziiert zu werden. Wie die Melodie eines Leierkastens, die ich mir nicht verwehren ließe, über die Neunte Symphonie zu stellen, wenns ein subjektives Bedürfnis verlangt. Und darum brauchen es sich die erwachsenen Leute nicht bieten zu lassen, daß man ihnen bestreiten will, der Lyriker Heine sei größer als der Lyriker Goethe. Ja, von dem Glück der Assoziation lebt Heinrich Heine. Bin ich so unerbittlich objektiv, einem zu sagen: sieh nach, der Pfirsichbaum im Garten deiner Kindheit ist heute schon viel kleiner, als er damals war? Man hatte die Masern, man hatte Heine, und man wird heiß in der Erinnerung an jedes Fieber der Jugend. Hier schweige die Kritik. Kein Autor hat die Revision so notwendig wie Heine, keiner verträgt sie so schlecht, keiner wird so sehr von allen holden Einbildungen gegen sie geschützt, wie Heine. Aber ich habe nur den Mut, sie zu empfehlen, weil ich sie selbst kaum notwendig hatte, weil ich Heine nicht erlebt habe in der Zeit, da ich ihn hätte überschätzen müssen. So kommt der Tag, wo es mich nichts angeht, daß ein Herr, der längst Bankier geworden ist, einst unter den Klängen von „Du hast Diamanten und Perlen“ zu seiner Liebe schlich. Und wo man rücksichtslos wird, wenn der Reiz, mit dem diese tränenvolle Stofflichkeit es jungen Herzen angetan hat, auf alte Hirne fortwirkt und der Sirup sentimentaler Stimmungen an literarischen Urteilen klebt. Schließlich hätte man der verlangenden Jugend auch mit Herrn Hugo Salus dienen können. Ich weiß mich nicht frei von der Schuld, der Erscheinung das Verdienst der Situation zu geben, in der ich sie empfand, oder sie mit der begleitenden Stimmung zu verwechseln. So bleibt mir ein Abglanz auf Heines Berliner Briefen, weil mir die Melodie „Wir winden dir den Jungfernkranz“, über die sich Heine dort lustig macht, sympathisch ist. Aber nur in den Nerven. Im Urteil bin ich mündig und willig, die Verdienste zu unterscheiden. Die Erinnerung eines Gartendufts, als die erste Geliebte vorüberging, darf einer nur dann für eine gemeinsame Angelegenheit der Kultur halten, wenn er ein Dichter ist. Den Anlaß überschätze man getrost, wenn man imstande ist, ein Gedicht daraus zu machen. Als ich einst in einer Praterbude ein trikotiertes Frauenzimmer in der Luft schweben sah, was, wie ich heute weiß, durch eine Spiegelung erzeugt wurde, und ein Leierkasten spielte dazu die „Letzte Rose“, da ging mir das Auge der Schönheit auf und das Ohr der Musik, und ich hätte den zerfleischt, der mir gesagt hätte, das Frauenzimmer wälze sich auf einem Brett herum und die Musik sei von Flotow. Aber in der Kritik muß man, wenn man nicht zu Kindern spricht, den Heine beim wahren Namen nennen dürfen.
Sein Reiz, sagen seine erwachsenen Verteidiger, sei ein musikalischer. Darauf sage ich: Wer Literatur empfindet, muß Musik nicht empfinden oder ihm kann in der Musik die Melodie, der Rhythmus als Stimmungsreiz genügen. Wenn ich literarisch arbeite, brauche ich keine Stimmung, sondern die Stimmung entsteht mir aus der Arbeit. Zum Anfeuchten dient mir ein Klang aus einem Miniaturspinett, das eigentlich ein Zigarrenbehälter ist und ein paar seit hundert Jahren eingeschlossene altwiener Töne von sich gibt, wenn man daraufdrückt. Ich bin nicht musikalisch; Wagner würde mich in dieser Lage stören. Und suchte ich denselben kitschigen Reiz der Melodie in der Literatur, ich könnte in solcher Nacht keine Literatur schaffen. Heines Musik mag dafür den Musikern genügen, die von ihrer eigenen Kunst bedeutendere Aufschlüsse verlangen, als sie das bißchen Wohlklang gewährt. Was ist denn Lyrik im Heineschen Stil, was ist jener deutsche Kunstgeschmack, in dessen Sinnigkeiten und Witzigkeiten die wilde Jagd Liliencronscher Sprache einbrach, wie einst des Neutöners Gottfried August Bürger? Heines Lyrik: das ist Stimmung oder Meinung mit dem Hört, hört! klingelnder Schellen. Diese Lyrik ist Melodie, so sehr, daß sie es notwendig hat, in Musik gesetzt zu werden. Und dieser Musik dankt sie mehr als der eignen ihr Glück beim Philister. Der „Simplicissimus“ spottete einmal über die deutschen Sippen, die sich vor Heine bekreuzigen, um hinterdrein in seliger Gemütsbesoffenheit „doch“ die Loreley zu singen. Zwei Bilder: aber der Kontrast ist nicht so auffallend, als man bei flüchtiger Betrachtung glaubt. Denn die Philistersippe, die schimpft, erhebt sich erst im zweiten Bilde zum wahren Philisterbekenntnis, da sie singt. Ist es Einsicht in den lyrischen Wert eines Gedichtes, was den Gassenhauer, den einer dazu komponiert hat, populär werden läßt? Wie viele deutsche Philister wüßten denn, was Heine bedeuten soll, wenn nicht Herr Silcher „Ich wie nicht, was soll es bedeuten“ in Musik gesetzt hätte? Aber wäre es ein Beweis für den Lyriker, daß diese Kundschaft seine unschwere Poesie auch dann begehrt hätte, wenn sie ihr nicht auf Flügeln des Gesanges wäre zugestellt worden? Ach, dieser engstirnige Heinehaß, der den Juden meint, läßt den Dichter gelten und blökt bei einer sentimentalen Melodei wohl auch ohne die Nachhilfe des Musikanten. Kunst bringt das Leben in Unordnung. Die Dichter der Menschheit stellen immer wieder das Chaos her; die Dichter der Gesellschaft singen und klagen, segnen und fluchen innerhalb der Weltordnung. Alle, denen ein Gedicht ihre im Reim beschlossene Übereinstimmung mit dem Dichter bedeutet, flüchten zu Heine. Wer den Lyriker auf der Suche nach weltläufigen Allegorien und beim Anknüpfen von Beziehungen zur Außenwelt zu betreten wünscht, wird Heine für den größeren Lyriker halten als Goethe. Wer aber das Gedicht als Offenbarung des im Anschauen der Natur versunkenen Dichters und nicht der im Anschauen des Dichters versunkenen Natur begreift, wird sich bescheiden, ihn als lust-und leidgeübten Techniker, als prompten Bekleider vorhandener Stimmungen zu schätzen. Wie über allen Gipfeln Ruh’ ist, teilt sich Goethe, teilt er uns in so groß empfundener Nähe mit, daß die Stille sich als eine Ahnung hören läßt. Wenn aber ein Fichtenbaum im Norden auf kahler Höh’ steht und von einer Palme im Morgenland träumt, so ist das eine besondere Artigkeit der Natur, die der Sehnsucht Heines allegorisch entgegenkommt. Wer je eine so kunstvolle Attrappe im Schaufenster eines Konditors oder eines Feuilletonisten gesehen hat, mag in Stimmung geraten, wenn er selbst ein Künstler ist. Aber ist ihr Erzeuger darum einer? Selbst die bloße Plastik einer Naturan schauung, von der sich zur Seele kaum sichtbare Fäden spinnen, scheint mir, weil sie das Einfühlen voraussetzt, lyrischer zu sein, als das Einkleiden fertiger Stimmungen. In diesem Sinne ist Goethes „Meeresstille“ Lyrik, sind es Liliencrons Zeilen: „Ein Wasser schwatzt sich selig durchs Gelände, ein reifer Roggenstrich schließt ab nach Süd, da stützt Natur die Stirne in die Hände und ruht sich aus, von ihrer Arbeit müd’“. Der nachdenkenden Heidelandschaft im Sommermittag entsprießen tiefere Stimmungen als jene sind, denen nachdenkliche Palmen und Fichtenbäume entsprossen; denn dort hält Natur die Stirne in die Hände, aber hier Heinrich Heine die Hand an die Wange gedrückt … Man schämt sich, daß zwischen Herz und Schmerz je ein so glatter Verkehr bestand, den man Lyrik nannte; man schämt sich fast der Polemik. Aber man mache den Versuch, im aufgeschlagenen „Buch der Lieder“ die rechte und die linke Seite durcheinander zu lesen und Verse auszutauschen. Man wird nicht enttäuscht sein, wenn man von Heine nicht enttäuscht ist. Und die es schon sind, werden es erst recht nicht sein. „Es zwitscherten die Vögelein – viel’ muntere Liebesmelodein.“ Das kann rechts und links stehen. „Auf meiner Herzliebsten Äugelein“: das muß sich nicht allein auf „meiner Herzliebsten Mündlein klein“ reimen, und die „blauen Veilchen der Äugelein“ wieder nicht allein auf die „roten Rosen der Wängelein“, überall könnte die Bitte stehen: „Lieb Liebchen, leg�
�s Händchen aufs Herze mein“, und nirgend würde in diesem Kämmerlein der Poesie die Verwechslung von mein und dein störend empfunden werden. Dagegen ließe sich etwa die ganze Loreley von Heine nicht mit dem Fischer von Goethe vertauschen, wiewohl der Unterschied scheinbar nur der ist, daß die Loreley von oben auf den Schiffer, das feuchte Weib aber von unten auf den Fischer einwirkt. Wahrlich, der Heinesche Vers ist Operettenlyrik, die auch gute Musik vertrüge. Im Buch der Lieder könnten die Verse von Meilhac und Halévy stehen:
Ich bin dein
Du bist mein
Welches Glück ist uns beschieden
Nein, es gibt
So verliebt
Wohl kein zweites Paar hienieden.
Es ist durchaus jene Seichtheit, die in Verbindung mit Offenbachscher Musik echte Stimmungswerte schafft oder tiefere satirische Bedeutung annimmt. Offenbach ist Musik, aber Heine ist bloß der Text dazu. Und ich glaube nicht, daß ein echter Lyriker die Verse geschrieben hat:
Und als ich euch meine Schmerzen geklagt,
Da habt ihr gegähnt und nichts gesagt;
Doch als ich sie zierlich in Verse gebracht,
Da habt ihr mir große Elogen gemacht.
Aber es ist ein Epigramm; und die Massenwirkung Heinescher Liebeslyrik, in der die kleinen Lieder nicht der naturnotwendige Ausdruck, sondern das Ornament der großen Schmerzen sind, ist damit treffend bezeichnet. Jene Massenwirkung, durch die der Lyriker Heine sich belohnt fühlt. Es ist ein Lyriker, der in einer Vorrede schreibt, sein Verleger habe durch die großen Auflagen, die er von seinen Werken zu machen pflege, dem Genius des Verfassers das ehrenvollste Vertrauen geschenkt, und der stolz auf die Geschäftsbücher verweist, in denen die Beliebtheit dieser Lyrik eingetragen stehe. Dieser Stolz ist so wenig verwunderlich wie diese Beliebtheit. Wie vermöchte sich eine lyrische Schöpfung, in der die Idee nicht kristallisiert, aber verzuckert wird, der allgemeinen Zufriedenheit zu entziehen? Nie, bis etwa zur Sterbenslyrik, hat sich eine schöpferische Notwendigkeit in Heine zu diesen Versen geformt, daß es Verse werden mußten; und diese Reime sind Papilloten, nicht Schmetterlinge: Papierkrausen, oft nur eben gewickelt, um einem Wickel vorzustellen. „Das hätte ich alles sehr gut in guter Prosa sagen können“, staunt Heine, nachdem er eine Vorrede versifiziert hat, und fährt fort: „Wenn man aber die alten Gedichte wieder durchliest, um ihnen, behufs eines erneuerten Abdrucks, einige Nachfeile zu erteilen, dann überrascht einen unversehens die klingelnde Gewohnheit des Reims und Silbenfalls…“ Es ist in der Tat nichts anderes als ein skandierter Journalismus, der den Leser über seine Stimmungen auf dem Laufenden hält. Heine informiert immer und überdeutlich. Manchmal sagt ers durch die blaue Blume, die nicht auf seinem Beet gewachsen ist, manchmal direkt. Wäre das sachliche Gedicht „Die heiligen drei Könige“ von einem Dichter, es wäre ein Gedicht. „Das Öchslein brüllte, das Kindlein schrie, die heil’gen drei Könige sangen.“ Das wäre die Stimmung der Sachlichkeit. So ist es doch wohl nur ein Bericht. Ganz klar wird das an einer Stelle des Vitzliputzli:
Hundertsechzig Spanier fanden
Ihren Tod an jenem Tage;
Über achtzig fielen lebend
In die Hände der Indianer.
Schwer verwundet wurden viele,
Die erst später unterlagen.
Schier ein Dutzend Pferde wurde
Teils getötet, teils erbeutet.
Einer indianischen Lokalkorrespondenz zufolge. Und wie die Sachlichkeit, so das Gefühl, so die Ironie: nichts unmittelbar, alles handgreiflich, aus jener zweiten Hand, die unmittelbar nur den Stoff begreift. Im Gestreichel der Stimmung, im Gekitzel des Witzes.
Die Tore jedoch, die ließen
Mein Leibchen entwischen gar still;
Ein Tor ist immer willig,
Wenn eine Törin will.
Diesen Witz macht kein wahrer Zyniker, dem seine Geliebte echappiert ist. Und kein Dichter ruft einem Fräulein, das den Sonnenuntergang gerührt betrachtet, die Worte zu:
Mein Fräulein, sein Sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter,
Und kehrt von hinten zurück.
Nicht aus Respekt vor dem Fräulein, aber aus Respekt vor dem Sonnenuntergang. Der Zynismus Heines steht auf dem Niveau der Sentimentalität des Fräuleins. Und der eigenen Sentimentalität. Und wenn er gerührt von sich sagt: „dort wob ich meine zarten Reime aus Veilchenduft und Mondenschein“, dann darf man wohl so zynisch sein wie er und ihn – Herr Heine, sein Sie munter – fragen, ob er nicht vielleicht schreiben wollte: dort wob ich meine zarten Reime für Veilchenduft und Mondenschein, und ob dies nicht eben jene Verlagsfirma ist, auf deren Geschäftsbücher er sich soeben berufen hat. Lyrik und Satire – das Phänomen ihres Verbundenseins wird faßlich –: sie sind beide nicht da; sie treffen sich in der Fläche, nicht in der Tiefe. Die Träne hat kein Salz, und dieses Salz salzt nicht. Wenn Heine, wie sagt man nur, „die Stimmung durch einen Witz zerreißt“, so habe ich den Eindruck, er wolle dem bunten Vogel Salz auf den Schwanz streuen; ein altes Experiment: der Vogel entflattert doch. Im Fall Heine glückt die Illusion, wenn schon nicht das Experiment. Man kann ihm das Gegenteil beweisen; ihm, aber nicht den gläubigen Zuschauern. Er wurde nicht nur als der frühe Begleiter von Allerwelts lyrischen Erlebnissen durchs Leben mitgenommen, sondern immer auch dank seiner Intellektualität von der Jugendeselei an die Aufklärung weitergegeben. Und über alles wollen sie aufgeklärt sein, nur nicht über Heine, und wenn sie schon aus seinen Träumen erwachen, bleibt ihnen noch sein Witz.
Dieser Witz aber, in Vers und Prosa, ist ein asthmatischer Köter. Heine ist nicht imstande, seinen Humor auf die Höhe eines Pathos zu treiben und von dort hinunter zu jagen. Er präsentiert ihn, aber er kann ihm keinen Sprung zumuten. Wartet nur! ist der Titel eines Gedichtes:
Weil ich so ganz vorzüglich blitze,
Glaubt ihr, daß ich nicht donnern könnt’!
Ihr irrt euch sehr, denn ich besitze
Gleichfalls fürs Donnern ein Talent.
Es wird sich grausenhaft bewähren,
Wenn einst erscheint der rechte Tag;
Dann sollt ihr meine Stimme hören,
Das Donnerwort, den Wetterschlag.
Gar manche Eiche wird zersplittern
An jenem Tag der wilde Sturm,
Gar mancher Palast wird erzittern
Und stürzen mancher Kirchenturm!
Das sind leere Versprechungen. Und wie sagt doch Heine von Platen?
Eine große Tat in Worten,
Die du einst zu tun gedenkst! –
O, ich kenne solche Sorten
Geist’ger Schuldenmacher längst.
Hier ist Rhodus, komm und zeige
Deine Kunst, hier wird getanzt!
Oder trolle dich und schweige,
Wenn du heut nicht tanzen kannst.
„Gleichfalls fürs Donnern ein Talent“ haben – das sieht ja dem Journalismus ähnlich. Aber von Donner kein Ton und vom Blitz nur ein Blitzen. Nur Einfälle, nur das Wetterleuchten von Gedanken, die irgendwo niedergegangen sind oder irgendwann niedergehen werden.
Denn wie eigene Gedanken nicht immer neu sein müssen, so kann, wer einen neuen Gedanken hat, ihn leicht von einem andern haben. Das bleibt für alle paradox, nur für jenen nicht, der von der Präformiertheit der Gedanken überzeugt ist, und davon, daß der schöpferische Mensch nur ein erwähltes Gefäß ist, und davon, daß die Gedanken und die Gedichte da waren vor den Dichtern und Denkern. Er glaubt an den metaphyischen Weg des Gedankens, der ein Miasma ist, während die Meinung kontagiös ist, also unmittelbarer Ansteckung braucht, um übernommen, um verbreitet zu werden. Darum mag ein schöpferischer Kopf auch das aus eigenem sagen, was ein anderer vor ihm gesagt hat, und der andere ahmt Gedanken nach, die einem schöpferischen Kopf erst später einfallen werden. Und nur in der Wonne sprachlicher Zeugung wird aus dem Chaos eine Welt. Die leiseste Belichtung oder Beschattung, Tönung und Färbung eines Gedankens, nur solche Arbeit ist wahrhaft unverloren, so pedantisch, lächerlich und sinnlos sie für die unmittelbare Wirkung auch sein mag, kommt irgendwann der Allgeme
inheit zugute und bringt ihr zuletzt jene Meinungen als verdiente Ernte ein, die sie heut mit frevler Gier auf dem Halm verkauft. Alles Geschaffene bleibt, wie es da war, eh es geschaffen wurde. Der Künstler holt es als ein Fertiges vom Himmel herunter. Die Ewigkeit ist ohne Anfang. Lyrik oder ein Witz: die Schöpfung liegt zwischen dem Selbstverständlichen und dem Endgültigen. Es werde immer wieder Licht. Es war schon da und sammle sich wieder aus der Farbenreihe. Wissenschaft ist Spektralanalyse: Kunst ist Lichtsynthese. Der Gedanke ist in der Welt, aber man hat ihn nicht. Er ist durch das Prisma stofflichen Erlebens in Sprachelemente zerstreut, der Künstler schließt sie zum Gedanken. Der Gedanke ist ein Gefundenes, ein Wiedergefundenes. Und wer ihn sucht, ist ein ehrlicher Finder, ihm gehört er, auch wenn ihn vor ihm schon ein anderer gefunden hätte.
So und nur so hat Heine von Nietzsche den Nazarenertypus antizipiert. Wie weitab ihm die Welt Eros und Christentum lag, welche doch in dem Gedicht „Psyche“ mit so hübscher Zufälligkeit sich meldet, zeigt er in jedem Wort seiner Platen-Polemik. Heine hat in den Verwandlungen des Eros nur das Ziel, nicht den Weg des Erlebnisses gesehen, er hat sie ethisch und ästhetisch unter eine Norm gestellt, und hier, wo wir an der Grenze des erweislich Wahren und des erweislich Törichten angelangt sind, hat er vielmehr den seligen Herrn Maximilian Harden antizipiert. In dieser berühmten Platen-Polemik, die allein dem stofflichen Interesse an den beteiligten Personen und dem noch stofflicheren Vergnügen an der angegriffenen Partie ihren Ruhm verdankt und die Heines Ruhm hätte auslöschen müssen, wenn es in Deutschland ein Gefühl für wahre polemische Kraft gäbe und nicht bloß für das Gehechel der Bosheit, in dieser Schrift formt Heine sein erotisches Bekenntnis zu den Worten: