The Kraus Project
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„Wann ich mir meinen Verduß net versaufet, ich müßt’ mich g’rad aus Verzweiflung dem Trunke ergeben.“
Oder:
„Da g’hören die Ruben her! An keine Ordung g’wöhnt sich das Volk. Kraut und Ruben werfeten s’ untereinand’, als wie Kraut und Ruben.“
Hier lacht sich die Sprache selbst aus. Die Phrase wird bis in die heuchlerische Konvention zurückgetrieben, die sie erschaffen hat:
„Also heraus mit dem Entschluß, meine Holde!“ „Aber Herr v. Lips, ich muß ja dort erst…“ „Ich versteh’, vom Neinsagen keine Rede, aber zum Jasagen finden Sie eine Bedenkzeit schicklich.“
Die Phrase dreht sich zur Wahrheit um:
„Ich hab die Not mit Ihnen geteilt, es ist jetzt meine heiligste Pflicht, auch in die guten Tag’ Sie nicht zu verlassen!“
Oder entartet zu Neubildungen, durch die im Munde der Ungebildeten die Sprache der höheren Stände karikiert wird:
„Da kommt auf einmal eine verspätete Sternin erster Größe zur Gesellschaft als glanzpunktischer Umundauf der ambulanten Entreprise…“
Wie für solche Absicht die bloße Veränderung des Tempus genügt, zeigt ein geniales Beispiel, wo das „sprechen wie einem der Schnabel gewachsen ist“ sich selbst berichtigt. Ein Ineinander von Problem und Inhalt:
„Fordere kühn, sprich ohne Scheu, wie dir der Schnabel wuchs!“
Nestroys Leute reden geschwollen, wenn der Witz das Klischee zersetzen oder das demagogische Pathos widerrufen will:
„O, ich will euch ein furchtbarer Hausknecht sein!“
Jeden Domestiken läßt er Schillersätze sprechen, um das Gefühlsleben der Prizipale zu ernüchtern. Oft aber ist es, als wäre einmal die tragische Figur hinter dem Hanswurst gestanden, denn das Pathos scheint dem Witz beizustehen. Echte Herzenssachen werden abgehandelt, wenn ein Diurnist zu einer Marschandmod’ wie in das Zimmer der Eboli tritt:
„Ihr Dienstbot’ durchbohrt mich – weiß er um unsere ehemalige Liebe?“
Witz und Pathos begleiten sich und wenn sie, von der Zeit noch nicht gereizt, einander auch nicht erzeugen können, so werden sie doch nie aneinander hinfällig. Der Dichter hebt zwar nicht den eigenen Witz unverändert in das eigene Pathos, aber er verstärkt ihn durch das fremde. Sie spielen und entlassen sich gegenseitig unversehrt. Wenn sich Nestroy über das Gefühl hinwegsetzt, so können wir uns darauf verlassen, und wenn sein Witz eine Liebesszene verkürzt, so erledigt er und ersetzt er sämtliche Liebesszenen, die sich in ähnlichen Fällen abspielen könnten. Wo in einer deutschen Posse ist je nach der Verlobung der Herrschaften das Nötige zwischen der Dienerschaft mit weniger Worten veranlaßt worden:
„Was schaut er mich denn gar so an?“ „Sie ist in Diensten meiner künftigen Gebieterin, ich bin in Diensten ihres künftigen Gebieters, ich werfe das bloß so hin, weil sich daraus verschiedene Entspinnungen gestalten könnten.“ „Kommt Zeit, kommt Rat!“
Und wenn es gilt, an Nestroyschen Dialogstellen sein Abkürzungsverfahren für Psychologie zu zeigen, wo steht eine Szene wie diese zwischen einem Schuster und einem Bedienten:
„Ich gratuliere zum heimlichen Terno, oder was es gewesen und, aber auf Ehr’, ich war ganz paff.“ „Der Wirt gar! Der hat noch ein dümmeres Gesicht gemacht als Sie. Wetten S’ ’was, daß ich ihm jetzt zehn Frank’ schuldig bleib’, und er traut sich nix zu sagen … Ja, einen Dukaten wechseln lassen, das erweckt Respekt.“ „Kurios! (Beiseite.) Aber auch Verdacht … Unser Herr ist verschwunden. Bei dem Proletarier kommt ein Dukaten zum Vorschein … Hm … Sie sind Schuster?“ „So sagt die Welt.“ „Haben vermutlich einen unverhofften Engländer gedoppelt?“ „Ach, Sie möchten gern wissen, wie ein ehrlicher Schuster zu ei’m Dukaten kommt?“ „Na ja … auffallend is es … Das heißt, interessant nämlich…“ „Als fremder Mensch geht’s Ihnen eigentlich nix an … aber nein, ich betrachte jeden, den ich im Wirtshaus find’, als eine verwandte Seele. (Ihm die Hand drückend.) Sie sollen alles wissen.“ (In neugieriger Spannung.) „Na, also?“ „Seh’n Sie, die Sach’ ist die. Es liegt hier eine Begebenheit zu Grunde … eine im Grunde fürchterliche Begebenheit, die kein Mensch auf Erden je erfahren darf, folglich auch Sie nicht.“ „Ja, aber…“ „Drum zeigen Sie sich meines Vertrauens würdig und forschen Sie nicht weiter.“
Solche Werte sind versunken und vergessen. Zeitmangel hat wie überall in der Kunst so vor allem im Theater das Publikum zur Umständlichkeit gewöhnt. Nur diese ermöglichte dem von den Geschäften ermüdeten Verstand, sich auch die Genüsse zu verschaffen, deren Vermittlung er so lange für die Aufgabe der höheren Dramatik hielt: die Fortschritte der neueren Seelenkunde kennen zu lernen, einer Psychologie, die nur Psychrologie ist, die Lehre, sich auf rationelle Art mit den Geheimnissen auseinanderzusetzen, in Spannung gelangweilt von Instruktoren, in Schönheit sterbend vor Langeweile, von der französischen Regel de Tri bis zum nordischen Integral. Kein Theaterbesucher, der es über sich gebracht hätte, ohne die nötige Problemschwere zu Bett zu gehen. Dazwischen der Naturalismus, der außer den psychologischen Vorschriften noch andere Forderungen für den Hausgebrauch erfüllte, indem er die Dinge beim rechten Namen nannte, aber vollzählig, daß ihm auch nicht eines fehle, während das Schicksal als richtig gehende Pendeluhr an der Wand hing. Und all dies so lange und so gründlich, bis sich die Rache der gefesselten Bürgerphantasie ein Ventil schuf in der psychologischen Operette. Im abseitigsten Winkel einer Nestroyschen Posse ist mehr Lebenskennerschaft für die Szene und mehr Ausblick in die Soffitte höherer Welten als im Repertoire eines deutschen Jahrzehnts. Hauptmann und Wedekind stehen wie der vornestroysche Raimund als Dichter über den Erwägungen der theatralischen Nützlichkeit. Anzengrubers und seiner Nachkommen Wirkung ist von der Gnade des Dialekts ohne Gefahr nicht loszulösen. Nestroys Dialekt ist Kunstmittel, nicht Krücke. Man kann seine Sprache nicht übersetzen, aber man könnte die Volksstückdichter auf einen hochdeutschen Kulissenwert reduzieren. Nur Literarhistoriker sind imstande, hier einen Aufstieg über Nestroy zu erkennen. Aber daß dieser, selbst wenn seine Ausbeutung für die niedrigen Zwecke des Theatervergnügens auf Undank stieße, als geistige Persönlichkeit mit allem, was auf der Bühne eben noch Hand und Herz oder Glaube und Heimat hat, auch nur genannt werden darf, wäre doch ein Witz, den die Humorlosigkeit sich nicht ungestraft erlauben sollte. Auf jeder Seite Nestroys stehen Worte, die das Grab sprengen, in das ihn die Kunstfremdheit geworfen hat, und den Totengräbern an die Gurgel fahren. Voller Inaktualität, ein fortwirkender Einspruch gegen die Zeitgemäßen. Wortbarrikaden eines Achtundvierzigers gegen die Herrschaft der Banalität; Gedankengänge, in denen die Tat wortspielend sich dem Ernst des Lebens harmlos macht, um ihm desto besser beizukommen. Ein niedriges Genre, so tief unter der Würde eines Historikers wie ein Erdbeben. Aber wie wenn der Witz spürte, daß ihn die Würde nicht ausstehen kann, stellt er sie schon im Voraus so her, daß sie sich mit Recht beleidigt fühlt. Könnte man sich vorstellen, daß die Professionisten des Ideals eine Erscheinung wie Nestroy vorüberziehen ließen, ohne einen sichtbaren Ausdruck ihres Schreckens zu hinterlassen? Die Selbstanzeigen der Theodor Vischer, Laube, Kuh und jener andern besorgten Dignitäre, die sich noch zum hundersten Geburtstag Nestroys gemeldet haben, sind so verständlich, wie die Urteilspolitik Hebbels, der Nestroy ablehnt, nachdem Nestroys Witz ihm an die tragische Wurzel gegriffen hat, Herrn Saphir lobpriest, von dem weniger schmerzliche Angriffe zu erwarten waren, freilich auch Jean Paul haßt und Heine liebt. Speidels mutige Einsicht unterbricht die Reihe jener, die Nestroy aus Neigung oder anstandshalber verkennen mußten. Was wäre natürlicher als der Widerstand jener, die das heilige Feuer hüten, gegen den Geist, der es überall entzündet? So einer mußte alle Würde und allen Wind der Zeit gegen sich haben. Er stieß oben an die Bildung an und unten an die Banalität. Ein Schriftsteller, der in hochpolitischer Zeit sich mit menschlichen Niedrigkeiten abgibt, und ein Carltheaterschauspieler mit Reflexionen, die vom Besuch des Concordiaballs ausschließen. Er hat die Katzbalgereien der Geschlechter mit Erkenntnissen und Gebärden begleitet, welche die Güterverwalter des Lebens ihm als Zoten anstreichen mußten, und er hat im so
zialen Punkt nie Farbe bekannt, immer nur Persönlichkeit. Ja, er hat den politischen Beruf ergriffen – wie ein Wächter den Taschendieb. Und nicht die Lächerlichkeiten innerhalb der Politik lockten seine Aufmerksamkeit, sondern die Lächerlichkeit der Politik. Er war Denker, und konnte darum weder liberal noch antiliberal denken. Und wohl mag sich dort eher der Verdacht antiliberaler Gesinnung einstellen, wo der Gedanke sich über die Region erhebt, in der das Seelenheil von solcher Entscheidung abhängt, und wo er zum Witz wird, weil er sie passieren mußte. Wie verwirrend gesinnungslos die Kunst ist, zeigte der Satiriker durch die Fähigkeit, Worte zu setzen, die die scheinbare Tendenz seiner Handlung sprengen, so daß der Historiker nicht weiß, ob er sich an die gelobte Revolution halten soll oder an die verhöhnten Krähwinkler, an die Verspottung der Teufelsfurcht oder an ein fanatisches Glaubensbekenntnis. Selbst der Historiker aber spürt den Widerspruch des Satirikers gegen die Behaftung der Menschlichkeit mit intellektuellen Scheinwerten und hat kein anderes Schutzmittel der Erklärung als Nestroys Furcht vor der Polizei. Der Liberale ruft immer nach der Polizei, um den Künstler der Feigheit zu beschuldigen. Der Künstler aber nimmt so wenig Partei, daß er Partei nimmt für die Lüge der Tradition gegen die Wahrheit des Schwindels. Nestroy weiß, wo Gefahr ist. Er erkennt, daß wissen nichts glauben heißt. Er hört bereits die Raben der Freiheit, die schwarz sind von Druckerschwärze. Schon schnarrt ihm die Bildung ihren imponierenden Tonfall ins Gebet. Wie erlauscht er das Rotwelsch, womit die Jurisprudenz das Recht überredet! Wie holt er die terminologische Anmaßung heraus, mit der sich leere Fächer vor der wissensgläubigen Menschheit füllen. Und statt der Religion die Pfaffen, wirft er der Aufklärung lieber die Journalisten vor und dem Fortschritt die Wissenschaftlhuber. Man höre heute den Gallimathias, den der Kometenschuster im Lumpazivagabundus erzeugt. Nach einem unvergleichlichen Aufblick, mit dem er einer skeptischen Tischlerin nachsieht:
“Die glaubt net an den Kometen, die wird Augen machen…”
fährt er fort:
“Ich hab’ die Sach’ schon lang heraus. Das Astralfeuer des Sonnenzirkels ist in der goldenen Zahl des Urions von dem Sternbild des Planetensystems in das Universum der Parallaxe mittelst des Fixstern-Quadranten in die Ellipse der Ekliptik geraten; folglich muß durch die Diagonale der Approximation der perpendikulären Zirkeln der nächste Komet die Welt zusammenstoßen. Diese Berechnung ist so klar wie Schuhwix…”
Und klingt so glaublich, als ob Nestroy das Problem des „Grubenhundes“ an der journalistischen Quelle studiert hätte. Der Satz hätte, wie er ist, achtzig Jahre später, als wieder statt eines Kometen die Astronomen sich persönlich bemühten, in der Neuen Freien Presse gedruckt werden können. Ich behalte mir auch vor, ihn gelegentlich einzuschicken. Aber noch jenseits solcher Anwendbarkeit in dringenden Fällen will Nestroy nicht veralten. Denn er hat die Hinfälligkeit der Menschennatur so sicher vorgemerkt, daß sich auch die Nachwelt von ihm beobachtet fühlen könnte, wenn ihr nicht eine dicke Haut nachgewachsen wäre. Keine Weisheit dringt bei ihr ein, aber mit der Aufklärung läßt sie sich tätowieren. So hält sie sich für schöner als den Vormärz. Da aber die Aufklärung mit der Seife heruntergeht, so muß die Lüge helfen. Diese Gegenwart geht nie ohne eine Schutztruppe von Historikern aus, die ihr die Erinnerung niederknüppeln. Sie hätte es am liebsten, wenn man ihr sagte, der Vormärz verhalte sich zu ihr wie ein Kerzelweib zu einer Elektrizitätsgesellschaft. Der wissenschaftlichen Wahrheit würde es aber besser anstehen, wenn man ihr sagte, der Vormärz sei das Licht und sie sei die Aufklärung. Zu den Dogmen ihrer Voraussetzungslosigkeit gehört der Glaube, daß zwar früher die Kunst heiter war, aber jetzt das Leben ernst ist. Und auch darauf scheint sich die Zeit etwas einzubilden. Denn in der Spielsaison, die die erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ausfüllt, habe man sich ausschließlich für die Affäre der Demoiselle Palpiti vulgo Tichatschek interessiert, während man jetzt im allgemeinen für die Affäre des Professors Wahrmund schwärmt und nur gelegentlich für die Affäre Treumann. Wenn es sich so verhält, wohl dem Vormärz! Aber der Unterschied ist noch anders zu fassen. Im Zeitalter des Absolutismus war das Theaterinteresse ein Auswuchs des vom politischen Druck aufgetriebenen Kunstgefühls. In der Zeit des allgemeinen Wahlrechts ist der Theatertratsch der Rest der von der politischen Freiheit ausgepoverten Kultur. Unser notorisches Geistesleben mit dem des Vormärz zu vergleichen, ist eine so beispiellose Gemeinheit gegen den Vormärz, daß nur die sittliche Verwahrlosung, die fünfzigtausend Vorstellungen der „Lustigen Witwe“ hinterlassen haben, den Exzeß entschuldigen kann. Die große Presse allein hat das Recht, mit Verachtung auf das kleine Kaffeehaus herunterzusehen, das einst mit lächerlich unzulänglichen Mitteln den Personenklatsch verbreitete, ohne den man damals nicht leben konnte, weil die Politik verboten war, während man heute ohne ihn nicht leben kann, weil die Politik erlaubt ist. Ein Jahrzehnt phraseologischer Knechtung hat der Volksphantasie mehr Kulissenmist zugeführt als ein Jahrhundert absolutistischer Herrschaft, und mit dem wichtigen Unterschied, daß die geistige Produktivkraft durch Verbote ebenso gefördert wurde, wie sie durch Leitartikel gelähmt wird. Man darf aber ja nicht glauben, daß sich das Volk so direkt vom Theater in die Politik abführen ließ. Der Weg der erlaubten Spiele geht durchs Tarock. Das müssen die liberalen Erzieher zugeben. Wie sich die Rhetorik des Fortschritts verspricht und die Wahrheit sagt, ist zum Entzücken in der Darstellung eines Sittenschilderers aus den achtziger Jahren nachzulesen, der die alte Backhendlzeit des Theaterkultus ablehnt und den neugebackenen Lebensernst wie folgt serviert:
Die Zeit ist eine andere geworden, als wie sie anno Bäuerle, Meisl und Gleich war, und wenn auch die alte Garde des unvermischten Wienertums, die ehrenwerten Familien derer von „Grammerstädter, Biz, Hartriegel und Schwenninger“ ihrem ererbten Theaterdrange insoferne Genüge leisten, als sie bei einer Premiere im Fürstschen Musentempel oder bei einer Reprise der „Beiden Grasel“ in der Josefstadt nie zu fehlen pflegen, so ist doch das Gros ihrer Kompatrioten durch die mannigfachsten Beweggründe von dem Wege ins Theater längst abgelenkt worden und widmet die freie Zeit einem Tapper, einer Heurigenkost oder den Produktionen einer Volkssängerfirma, die just en vogue ist – Zeit und Menschen sind anders geworden.
Später wurde dann das Leben noch ernster, es kamen die Probleme, die Gschnasfeste, die geologischen Entdeckungen, die Amerikareise des Männergesangvereins, und für noch spätere Zeiten wird es wichtig sein, daß sie erfahren: Nicht im Vormärz ist in den Wiener Zeitungen die folgende Kundmachung erschienen:
Die gestrige Preiskonkurrenz beim „Dummen Kerl“ brachte Fräulein Luise Kemtner, der Schwester der bekannten Hernalser Gastwirtin Koncel, mit dem kleinsten Fuß (19½) und Herrn Moritz Mayer mit der größten Glatze den ersten Preis. Heute werden die engste Damentaille und die größte Nase prämiiert.
So sieht Wien im Jahre 1912 aus. Die Realität ist eine sinnlose Übertreibung aller Details, welche die Satire vor fünfzig Jahren hinterlassen hat. Aber die Nase ist noch größer, der Kerl ist dümmer, wo er sich fortgeschritten glaubt, und die Preiskonkurrenz für die größte Glatze ist das Abbild einer Gerechtigkeit, die die wahren Verdienste erkennt, neben den Resultaten einer Verteilung des Bauernfeldpreises. Ein Blick in die neue Welt, wie sie ein Tag der Kleinen Chronik offenbart, ein Atemzug in dieser gottlosen Luft von Allwissenheit und Allgegenwart zwingt zur vorwurfsvollen Frage: Was hat Nestroy gegen seine Zeitgenossen? Wahrlich, er übereilt sich. Er geht antizipierend seine kleine Umwelt mit einer Schärfe an, die einer späteren Sache würdig wäre. Er tritt bereits seine satirische Erbschaft an. Auf seinen liebenswürdigen Schauplätzen beginnt es da und dort zu tagen, und er wittert die Morgenluft der Verwesung. Er sieht alles das heraufkommen, was nicht heraufkommen wird, um da zu sein, sondern was da sein wird, um heraufzukommen. Mit welcher Inbrunst wäre er sie angesprungen, wenn er sie nach fünfzig Jahren vorgefunden hätte! Wie hätte er die Gemütlichkeit, die solchen Zuwachs duldet, solchen Fremdenverkehr einbürgert, an solcher Mischung erst ihren betrügerischen Inhalt offenbart, wie hätte er die wehrlose Tücke dieses unschuldigen Schielgesichts zu Fratzen gef
ormt! Die Posse, wie sich die falsche Echtheit dem großen Zug bequemt, nicht anpaßt, ist ihm nachgespielt; der Problemdunst allerorten, den die Zeit sich vormacht, um sich die Ewigkeit zu vertreiben, raucht über seinem Grab. Er hat seine Menschheit aus dem Paradeisgartel vertrieben, aber er weiß noch nicht, wie sie sich draußen benehmen wird. Er kehrt um vor einer Nachwelt, die die geistigen Werte leugnet, er erlebt die respektlose Intelligenz nicht, die da weiß, daß die Technik wichtiger sei als die Schönheit, und die nicht weiß, daß die Technik höchstens ein Weg zur Schönheit ist und daß es am Ziel keinen Dank geben darf und daß der Zweck das Mittel ist, das Mittel zu vergessen. Er ahnt noch nicht, daß eine Zeit kommen wird, wo die Weiber ihren Mann stellen und das vertriebene Geschlecht in die Männer flüchtet, um Rache an der Natur zu nehmen. Wo das Talent dem Charakter Schmutzkonkurrenz macht und die Bildung die gute Erziehung vergißt. Wo überall das allgemeine Niveau gehoben wird und niemand draufsteht. Wo alle Individualität haben, und alle dieselbe, und die Hysterie der Klebstoff ist, der die Gesellschaftsordnung zusammenhält. Aber vor allen ihm nachgebornen Fragen – die der Menschheit unentbehrlich sind, seitdem sie die Sagen verlor – hat er doch die Politik erleben können. Er war dabei, als so laut gelärmt wurde, daß die Geister erwachten, was immer die Ablösung für den Geist bedeutet, sich schlafen zu legen. Das gibt dann eine Nachwelt, die auch in fünfzig Jahren nicht zu bereisen ist. Der Satiriker könnte die große Gelegenheit erfassen, aber sie erfaßt ihn nicht mehr. Was fortlebt, ist das Mißverständnis. Nestroys Nachwelt tut vermöge ihrer künstlerischen Unempfindlichkeit dasselbe, was seine Mitwelt getan hat, die im stofflichen Einverständnis mit ihm war: diese nahm ihn als aktuellen Spaßmacher, jene sagt, er sei veraltet. Er trifft die Nachwelt, also versteht sie ihn nicht. Die Satire lebt zwischen den Irrtümern, zwischen einem, der ihr zu nahe, und einem, dem sie zu fern steht. Kunst ist, was den Stoff überdauert. Aber die Probe der Kunst wird auch zur Probe der Zeit, und wenn es immer den nachrückenden Zeiten geglückt war, in der Entfernung vom Stoff die Kunst zu ergreifen, diese hier erlebt die Entfernung von der Kunst und behält den Stoff in der Hand. Ihr ist alles vergangen, was nicht telegraphiert wird. Die ihr Bericht erstatten, ersetzen ihr die Phantasie. Denn eine Zeit, die die Sprache nicht hört, kann nur den Wert der Information beurteilen. Sie kann noch über Witze lachen, wenn sie selbst dem Anlaß beigewohnt hat. Wie sollte sie, deren Gedächtnis nicht weiter reicht als ihre Verdauung, in irgend etwas hinüberlangen können, was nicht unmittelbar aufgeschlossen vor ihr liegt? Vergeistigung dessen, woran man sich nicht mehr erinnert, stört ihre Verdauung. Sie begreift nur mit den Händen. Und Maschinen ersparen auch Hände. Die Organe dieser Zeit widersetzen sich der Bestimmung aller Kunst, in das Verständnis der Nachlebenden einzugehen. Es gibt keine Nachlebenden mehr, es gibt nur noch Lebende, die eine große Genugtuung darüber äußern, daß es sie gibt, daß es eine Gegenwart gibt, die sich ihre Neuigkeiten selbst besorgt und keine Geheimnisse vor der Zukunft hat. Morgenblattfroh krähen sie auf dem zivilisierten Misthaufen, den zur Welt zu formen nicht mehr Sache der Kunst ist. Talent haben sie selbst. Wer ein Lump ist, braucht keine Ehre, wer ein Feigling ist, braucht sich nicht zu fürchten, und wer Geld hat, braucht keine Ehrfurcht zu haben. Nichts darf überleben, Unsterblichkeit ist, was sich überlebt hat. Was liegt, das pickt. Mißgeburten korrigieren das Glück, weil sie behaupten können, daß Heroen Zwitter waren. Herr Bernhard Shaw garantiert für die Überflüssigkeit alles dessen, was sich zwischen Wachen und Schlafen als notwendig herausstellen könnte. Seiner und aller Seichten Ironie ist keine Tiefe unergründlich, seiner und aller Flachen Hochmut keine Höhe unerreichbar. Überall läßt sichs irdisch lachen. Solchem Gelächter aber antwortet die Satire. Denn sie ist die Kunst, die vor allen andern Künsten sich überlebt, aber auch die tote Zeit. Je härter der Stoff, desto größer der Angriff. Je verzweifelter der Kampf, desto stärker die Kunst. Der satirische Künstler steht am Ende einer Entwicklung, die sich der Kunst versagt. Er ist ihr Produkt und ihr hoffnungsloses Gegenteil. Er organisiert die Flucht des Geistes vor der Menschheit, er ist die Rückwärtskonzentrierung. Nach ihm die Sintflut. In den fünfzig Jahren nach seinem Tode hat der Geist Nestroy Dinge erlebt, die ihn zum Weiterleben ermutigen. Er steht eingekeilt zwischen den Dickwänsten aller Berufe, hält Monologe und lacht metaphysisch.