by Andrew Lane
Death Cloud
( Young Sherlock Holmes - 1 )
Andrew Lane
Ein turbulenter Sommer wird den 15jährigen Sherlock Holmes für immer verändern: Ein Mord, eine Entführung, Korruption und ein sehr finsterer Schurke werden ihm das Leben schwer machen.
Über Andrew Lane
Andrew Lane ist der Autor von mehr als zwanzig Büchern, unter anderem Romanen zu bekannten TV-Serien wie ›Doctor Who‹, ›Torchwood‹ und ›Randall & Hopkirk - Detektei mit Geist‹. Einige davon hat er unter Pseudonym veröffentlicht. Er hat außerdem für die ›Radio Times‹ und den ›TV Guide‹ geschrieben. Andrew Lane lebt mit seiner Frau, seinem Sohn und einer riesigen Sammlung von Sherlock Holmes Büchern in Dorset. ›Young Sherlock Holmes - Death Cloud‹ ist der erste Band der Serie über das Leben des jugendlichen Meisterdetektivs. Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Die englische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel ›Young Sherlock Holmes - Death Cloud‹ bei Macmillan Children’s Books, London, England
Aus dem Englischen von Christian Dreller
Gewidmet den Jugendschriftstellern, deren Werke ich in meiner Jugend verschlungen habe: Capt. W. E. Johns, Hugh Walters, Andre Norton, Malcolm Saville, Alan E. Norse und John Christopher;
sowie meinen modernen Schriftstellerkollegen, die ich mich glücklich schätze, persönlich zu kennen, für ihre freundschaftliche Unterstützung: Ben Jeapes, Stephen Cole, Justin Richards, Gus Smith und dem unvergleichlichen Charlie Higson.
Prolog
Als Matthew Arnatt das erste Mal der Todeswolke begegnete, kam sie aus einem Fenster im ersten Stock geschwebt. Drohend und unheilvoll wie ein bösartiger Geist, den man aus seiner Flasche gelassen hatte.
Matthew lebte noch nicht lange in der Gegend. Er streunte gerade auf der Hauptstraße des Städtchens Farnham herum, um Ausschau nach Früchten oder Brotkrusten zu halten, die vielleicht ein gleichgültiger Passant hatte fallen lassen. Eigentlich hätte sein Blick auf den Boden gerichtet sein müssen. Doch stattdessen hatte er nur Augen für die Häuser, Läden und das Menschengewimmel um ihn herum. Er war erst vierzehn und, soweit er sich erinnern konnte, noch nie zuvor in einer so großen Stadt gewesen.
In diesem, dem wohlhabenderen Teil von Farnham, ragten die älteren Fachwerkhäuser so weit in die Straße hinein, dass sich die oberen Stockwerke wie drohende Steinwolken über den Passanten ballten.
Die Straße war zum Teil mit glatten, faustgroßen Steinen gepflastert. Doch ein Stück weiter wurden die Pflastersteine von gestampfter Erde abgelöst, auf der vorbeitrottende Pferde und ratternde Karren Wolken von Staub aufwirbelten. Alle paar Meter lagen Pferdeäpfelhaufen herum. Von Fliegen umschwirrt, dampften einige frisch vor sich hin, andere hingegen waren schon eingetrocknet und alt und sahen aus wie dreckverklumpte kleine Strohkugeln.
Der faulige Geruch des dampfenden Pferdedungs drang ihm in die Nase. Aber er konnte auch frisch gebackenes Brot riechen und etwas, bei dem es sich um ein Schwein handeln mochte, das gerade über offenem Feuer am Spieß gebraten worden war. In Gedanken konnte er förmlich das Fett vor sich sehen, wie es zischend in die Glut tropfte. Vor Hunger verkrampfte sich plötzlich Matthews Magen so heftig, dass er sich vor Schmerzen krümmte. Seit seiner letzten ordentlichen Mahlzeit waren schon ein paar Tage vergangen, und er war nicht sicher, wie lange er noch durchhalten würde.
Ein fetter Mann in einem dunklen abgetragenen Anzug und mit einer braunen Melone auf dem Kopf blieb stehen und streckte Matthew die Hand entgegen, als wollte er ihm helfen. Matthew wich zurück. Er wollte keine Mildtätigkeit. Mildtätigkeit brachte ein mittelloses Waisenkind wie ihn geradewegs ins Arbeitshaus oder in die Obhut der Kirche. Und er hatte nicht vor, den Pfad zu betreten, der ihn unweigerlich in eine dieser beiden Einrichtungen bringen würde. Es ging ihm ausgezeichnet alleine. Er musste nur etwas zu essen auftreiben. Sobald er etwas Ordentliches im Bauch hatte, würde es ihm wieder gut gehen.
Er schlüpfte in eine Gasse, bevor der Mann ihn an der Schulter packen konnte. Nachdem er dann noch einmal einen Haken geschlagen hatte und um eine weitere Ecke gebogen war, gelangte er in eine kleine Seitenstraße, die so schmal war, dass sich die oberen Stockwerke fast berührten. Man konnte glatt von einem Zimmer ins gegenüberliegende auf der anderen Straßenseite klettern, wenn man denn wollte.
Und dann sah er die Todeswolke. Nicht, dass er zu diesem Zeitpunkt wusste, mit was er es da zu tun hatte. Das sollte er erst später erfahren. Nein, alles, was er sah, war ein Fleck. Dunkel und irgendwie bedrohlich, ungefähr so groß wie ein Hund und ähnlich wie Rauch, der aus einem offenen Fenster weht. Rauch allerdings, der sich nach eigenem Willen bewegte und einen Moment lang innehielt, bevor er seitwärts zu einem Regenrohr schwebte, wo er dann seine Richtung änderte und nach oben zum Dach hinaufglitt.
Der Hunger war vergessen. Mit offenem Mund beobachtete Matthew, wie die Wolke über die scharfe Dachziegelkante waberte und dann verschwand. Plötzlich zerriss ein Schrei die Stille. Er war aus dem offenen Fenster gekommen. Matthew wirbelte herum und stürmte auf der Straße zurück, so schnell ihn seine unterernährten Beine trugen. So schrien Menschen nicht vor Überraschung. Nicht einmal aus Schock. Nein, so schrie nach Matthews Erfahrung nur ein Mensch, der dem Tod ins Gesicht blickte. Aber was immer auch den Schrei ausgelöst hatte, er verspürte nicht das geringste Verlangen, es mit eigenen Augen anzusehen.
1
»Du da! Herkommen!«
Sherlock Holmes drehte sich um, um zu sehen, wer gemeint war und wer gerufen hatte. An diesem Morgen standen Hunderte von Schülern im strahlenden Sonnenschein vor der Deepdene-Knabenschule herum. Alle in makelloser Schuluniform und mit einem ledergurtumspannten Holzkoffer oder einem Haufen vollgestopfter Gepäckstücke vor sich, die wie treue Hunde zu ihren Füßen lagen. Jeder von ihnen konnte gemeint sein. Die Lehrer in Deepdene hatten die Angewohnheit, die Schüler nie mit ihren Namen anzusprechen. Es hieß immer »Du!« oder »Junge!« oder »Kind!«. Das machte das Leben nicht gerade leicht und führte dazu, dass man ständig auf Zack sein musste. Was wohl auch der Grund dafür war, warum sie es taten. Entweder das oder die Lehrer hatten es schon vor langer Zeit aufgegeben, sich die Namen ihrer Schüler zu merken. Sherlock war sich nicht sicher, welche Erklärung am ehesten zutraf. Vielleicht beide.
Keiner von den anderen Schülern zeigte eine Reaktion. Entweder plauderten sie mit Familienmitgliedern, die gekommen waren, um sie abzuholen, oder sie beobachteten ungeduldig das Schultor, wo jeden Augenblick die Kutsche auftauchen musste, die sie nach Hause bringen würde. Widerwillig drehte Sherlock sich um, um nachzusehen, ob der unheilvolle Finger des Schicksals auf ihn wies.
Das tat er tatsächlich. Besagter Finger gehörte in diesem Fall MrTulley, dem Lateinlehrer. Er war gerade an der Stelle um die Ecke des Schulgebäudes gebogen, an der Sherlock abseits von den anderen Jungen herumstand. MrTulleys normalerweise von Kreidestaub bedeckter Anzug war extra für das Schuljahresende und die unvermeidlichen Begegnungen mit den Vätern gereinigt worden. Vätern, die für die Erziehung ihrer Jungen viel Geld bezahlten. Sein Doktorhut saß so gerade auf dem Kopf, als hätte der Direktor selbst ihn dort festgeklebt.
»Ich, Sir?«
»Ja Sir, du Sir«, blaffte MrTulley. »Sieh zu, dass du quam celerrime ins Direktorzimmer kommst. Reicht dein Latein noch, um zu wissen, was das heißt?«
»Das heißt ›sofort‹, Sir.«
»Dann beweg dich.«
Sherlock warf einen Blick auf das Schultor. »Aber Sir … Ich warte auf meinen Vater. Er holt mich gleich ab.«
»Ich bin sicher, dass er nicht ohne dich fährt, Junge.«
Sherlock unternahm noch einen letzten kühnen Versuch. »Aber mein Gepäck …«
MrTulley blickte abfällig auf Sherlocks arg ramponierten Holzkoffer hinab – ein ausrangiertes Utensil seines Vaters, das diesen einst auf seinen Militärreisen begleite
t hatte und nach jahrelangem Gebrauch nun völlig abgewetzt und schmutzig war. »Ich kann mir nicht vorstellen, warum jemand so was stehlen sollte«, sagte er. »Außer vielleicht wegen seines historischen Wertes. Ich hole einen Vertrauensschüler, der für dich aufpasst. Jetzt lauf los.«
Widerwillig verließ Sherlock seine Habseligkeiten – ein paar spärliche Hemden und Unterwäsche, seine Gedichtbände und die Notizbücher, in denen er neben Ideen, Gedanken und Spekulationen hin und wieder auch Melodien notierte, die ihm in den Kopf kamen.
Er ging auf die Säulenreihe der Eingangshalle zu, die die Vorderseite des Schulgebäudes zierte. Während er sich dabei zwischen unzähligen Jungen, Eltern und kleineren Geschwistern hindurchschob, behielt er stets den Zufahrtsweg im Auge, wo gerade ein dichtes Gedränge aus Pferden und Kutschen herrschte, die alle gleichzeitig durch das schmale Tor herein oder heraus wollten.
Die Haupteingangshalle war mit Eichenholz getäfelt und ringsum von den Büsten ehemaliger Direktoren und Förderer gesäumt, die jeweils auf eigenen Sockeln thronten. Aufwirbelnder Kreidestaub ließ schräge Säulen von Sonnenlicht sichtbar werden, die von den hohen Fenstern aus auf den schwarz-weiß gefliesten Boden fielen. Es roch nach Karbol, mit dem die Dienstmädchen jeden Morgen die Fliesen putzten. Angesichts des dichten Gedränges in der Halle war es mehr als wahrscheinlich, dass in Kürze mindestens eine der Büsten umkippen und herunterfallen würde. Die großen Risse, die den echten Marmor einiger Büsten verunstalteten, ließen darauf schließen, dass kein Schuljahr verging, ohne dass nicht wenigstens eine von ihnen auf den Boden krachte und anschließend wieder repariert werden musste.
Von jedermann unbeachtet, schlängelte er sich zwischen den ganzen Leuten hindurch, bis er auf einmal das Gewühl hinter sich gelassen hatte und in den Korridor gelangte, der von der Eingangshalle ins Gebäude führte. Das Studierzimmer des Direktors lag ein paar Meter weiter den Gang entlang. Er blieb an der Türschwelle stehen, holte tief Luft und klopfte seine Ärmelaufschläge ab. Dann pochte er an die Tür.
»Herein!«, dröhnte eine theatralisch laute Stimme.
Sherlock drehte den Knauf und drückte die Tür auf. Mit aller Macht versuchte er, einen Anfall von Nervosität zu unterdrücken, der ihm plötzlich durch die Glieder fuhr.
Er war bisher nur zweimal im Studierzimmer des Direktors gewesen. Einmal zusammen mit seinem Vater, als er das erste Mal nach Deepdene gekommen war. Dann noch einmal ein Jahr später zusammen mit einer Gruppe von Schülern, die beschuldigt worden waren, während einer Prüfung geschummelt zu haben. Die drei Rädelsführer hatten eine Tracht Prügel bezogen und waren anschließend von der Schule geflogen. Die vier oder fünf Mitläufer waren bloß verdroschen worden, bis das Blut von den Pobacken spritzte, und konnten dann bleiben. Sherlock – dessen Essays die Gruppe abgeschrieben hatte – war um die Tracht Prügel herumgekommen, indem er behauptete, von alldem nichts gewusst zu haben. In Wirklichkeit hatte er natürlich voll und ganz Bescheid gewusst. Aber er war immer so etwas wie ein Außenseiter an dieser Schule gewesen, und wenn man ihn tolerierte oder sogar akzeptierte, falls er die anderen Schüler abschreiben ließ, würde er keinerlei ethische Einwände erheben. Andererseits würde er die Abschreiber selbstverständlich auch nicht verraten. Denn andernfalls hätte man ihn zusammengeschlagen. Und vielleicht vor eines der lodernden Kaminfeuer in den Schlafsälen gehalten, bis die Haut Blasen warf und die Kleidung zu qualmen anfing. So war das Leben in der Schule eben – ein pausenloser Balanceakt zwischen Lehrern und den anderen Schülern. Und er hasste es.
Das Studierzimmer des Direktors war genauso, wie er es in Erinnerung hatte: groß, schummrig und durchdrungen von einer Geruchskombination aus Leder und Pfeifentabak. MrTomlinson saß hinter einem Schreibtisch, der groß genug war, um darauf Bowling zu spielen. Er war korpulent und trug einen Anzug, der ein bisschen zu klein für ihn war. Wahrscheinlich, weil es ihm half, sich der Illusion hinzugeben, dass er bei Weitem nicht so füllig sei, wie es offensichtlich der Fall war.
»Ah, Holmes, nicht wahr? Komm rein, Junge. Rein mit dir. Und mach die Tür hinter dir zu.«
Sherlock tat, was ihm gesagt wurde. Aber als er die Tür schloss, nahm er eine weitere Gestalt im Raum wahr: einen Mann, der mit einem Glas Sherry vor dem Fenster stand. Das geschliffene Kristallglas des Trinkgefäßes brach das Sonnenlicht in alle Farben des Regenbogens.
»Mycroft?«, sagte Sherlock überrascht.
Sein älterer Bruder drehte sich, um ihn anzusehen. In seinem Gesicht leuchtete für einen winzigen Moment lang ein Lächeln auf, das Sherlock vielleicht entgangen wäre, hätte er im falschen Augenblick geblinzelt. »Sherlock. Du bist gewachsen.«
»Du auch«, antwortete Sherlock. In der Tat hatte sein Bruder beträchtlich an Gewicht zugelegt. Er war beinahe so dick wie der Direktor. Aber sein Anzug war so geschnitten, dass dies eher kaschiert als betont wurde. »Du bist mit Vaters Kutsche gekommen.«
Mycroft zog eine Augenbraue in die Höhe. »Woraus hast du das um Himmels willen geschlossen, junger Mann?«
Sherlock zuckte die Achseln. »Da auf deiner Hose sind parallele Falten, die vom Druck des Sitzpolsters stammen. Aber ich erinnere mich, dass Vaters Kutsche einen Riss im Polster hatte, der vor ein paar Jahren nur unzulänglich repariert wurde. Der Abdruck des reparierten Risses ist auf deiner Hose zu sehen, direkt neben den Falten.« Er hielt inne. »Wo ist Vater, Mycroft?«
Der Direktor räusperte sich, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. »Ihr Vater ist …«
»Vater wird nicht kommen«, unterbrach Mycroft ihn mit sanfter Stimme.
»Sein Regiment wurde zur Verstärkung unserer Truppen nach Indien verlegt. Es gab dort Unruhen in der Nordwestlichen Grenzprovinz. Du weißt, wo das ist?«
»Ja. Wir haben Indien in Geographie und Geschichte durchgenommen.«
»Guter Junge.«
»Mir war nicht klar, dass die Einheimischen dort erneut Probleme bereiten«, knurrte der Direktor. »Es stand zumindest nicht in der Times, soviel ist mal sicher.«
»Es sind nicht die Inder«, gestand Mycroft. »Als wir das Land wieder von der Ostindischen Kompanie übernommen haben, wurden ihre Soldaten wieder der Aufsicht der regulären Armee unterstellt. Sie fanden das neue Regime sehr viel … nun ja … strenger als das, was sie gewohnt waren. Es hat dort jede Menge schlechte Stimmung gegeben, und die Regierung hat beschlossen, die Armeestärke in Indien drastisch zu erhöhen, um ihnen eindrucksvoll vor Augen zu führen, wie wahre Soldaten wirklich sind. Es ist schlimm genug, wenn die Inder rebellieren. Aber eine Meuterei innerhalb der britischen Armee ist undenkbar.«
»Und wird es dort eine Meuterei geben?«, fragte Sherlock, dem plötzlich das Herz so schwer wurde, dass er meinte, einen Mühlstein in der Brust zu haben. »Kann Vater etwas passieren?«
Mycroft zuckte die mächtigen Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte er einfach. Das war eine der Eigenschaften, die Sherlock an seinem Bruder schätzte. Er gab immer direkte Antworten auf direkte Fragen, ohne bittere Pillen zu versüßen. »Leider weiß ich gar nichts. Jedenfalls noch nicht.«
»Aber du arbeitest doch für die Regierung«, ließ Sherlock nicht locker. »Du musst doch wenigstens eine Vorstellung haben, was passieren könnte. Kannst du nicht ein anderes Regiment schicken? Und Vater hier in England lassen?«
»Ich arbeite erst ein paar Monate im Außenministerium«, antwortete Mycroft. »Und obwohl es mir schmeichelt, dass du denkst, ich hätte die Macht, solch wichtige Dinge zu beeinflussen, fürchte ich, dass ich dazu nicht in der Lage bin. Ich bin ein Referent. Nur ein Angestellter, wirklich.«
»Wie lange wird Vater fort sein?«, fragte Sherlock und dachte an den großen Mann in der scharlachroten Uniformjacke mit den breiten weißen Lederriemen, die sich über der Brust kreuzten. Den Mann, der sein Vater war und so gern lachte und seine gute Laune nur selten verlor. Er fühlte, wie sich ihm die Brust zuschnürte. Aber er hielt seine Gefühle im Zaum. Wenn er eines während seiner Zeit auf der Deepdene-Schule gelernt hatte, dann war es, niemals Gefühle zu zeigen. Denn wenn man das tat, wurde es gegen einen verwendet.
»Das Schiff braucht sechs Wochen, um den Hafen in In
dien zu erreichen. Dann sechs Monate im Land würde ich mal schätzen. Und dann noch einmal sechs Wochen für die Rückreise. Neun Monate insgesamt.«
»Fast ein Jahr.« Er ließ einen Moment lang den Kopf sinken, um sich zu sammeln. Dann nickte er. »Können wir jetzt nach Hause gehen?«
»Du gehst nicht nach Hause«, antwortete Mycroft.
Sherlock stand nur da und nahm die Worte in sich auf, sagte aber nichts.
»Er kann nicht hierbleiben«, brummte der Direktor. »Die Schule wird auf den Kopf gestellt und von oben bis unten gereinigt.«
Mycroft wandte seinen gelassenen Blick von Sherlock ab und sah den Direktor an.
»Unsere Mutter ist … unpässlich«, erklärte er. »Selbst an guten Tagen ist ihre Verfassung labil, und die Sache mit unserem Vater hat sie zutiefst bekümmert. Sie braucht Ruhe und Frieden, und Sherlock braucht jemand älteren, der sich um ihn kümmert.«
»Aber ich habe dich!«, protestierte Sherlock.
Mycroft schüttelte traurig seinen großen Kopf. »Ich lebe jetzt in London, und mein Job bringt täglich viele Stunden Arbeit mit sich. Ich fürchte, ich wäre kein geeigneter Aufpasser für einen Jungen. Vor allem nicht für so einen neugierigen wie dich.« Er wandte sich zum Direktor um, was fast so wirkte, als wäre es einfacher, ihm die nächste Information mitzuteilen als Sherlock.
»Obwohl unser Familiensitz in Horsham liegt, haben wir Verwandte in Farnham, nicht allzu weit von hier. Einen Onkel und eine Tante. Sherlock wird während der Schulferien bei ihnen wohnen.«
»Nein!«, explodierte Sherlock.
»Doch«, erwiderte Mycroft sanft. »Es ist so abgemacht. Onkel Sherrinford und Tante Anna haben zugestimmt, dich den Sommer über aufzunehmen.«
»Aber ich kenne sie noch nicht einmal!«
»Nichtsdestotrotz gehören sie zur Familie.«