Death Cloud ysh-1

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Death Cloud ysh-1 Page 4

by Andrew Lane


  »Ich verstehe. Schau mal, ich weiß nicht, was du gesehen hast. Aber ich werde darüber nachdenken. Mein Onkel hat eine Bibliothek. Vielleicht lässt sich da eine Antwort finden. Dort oder in den lokalen Zeitungsarchiven.«

  Sie gingen über eine schmale Brücke in die Stadt zurück. Die Straße führte an einem großen Holztor vorbei, das in eine Steinmauer eingelassen war. Davor sahen sie ein merkwürdiges Tier am Boden liegen. Es hatte die Beine steif zu allen Seiten ausgestreckt und bewegte sich nicht. Sein Fell war dreckig und glanzlos. Einen Moment lang dachte Sherlock, es wäre ein Hund. Aber als sie näher kamen, erkannte er, was da vor ihnen lag. Das Tier hatte eine spitze Schnauze und kurze Beine. Die abwechselnd hellen und dunkelgrauen Fellstreifen mussten zu Lebzeiten einmal weiß und schwarz gewesen sein. Kein Zweifel, es war ein Dachs. Sherlock sah, dass der Bauch des Tieres platt gepresst auf dem Boden lag. Es war überfahren worden. Wahrscheinlich von einem Kutschrad.

  Matty verlangsamte seine Schritte, während er sich dem Tier näherte.

  »Du solltest auf der Hut sein, wenn du hier vorbeigehst«, vertraute er Sherlock mit einer Stimme an, als wäre einzig und allein sein Begleiter derjenige, der berechtigten Grund zur Angst hatte, während er hingegen vollkommen sicher war. »Ich weiß nicht, was sie da treiben. Aber die haben Wachen da drinnen. Riesige Kerle mit Schlagstöcken und Bootshaken.«

  Sherlocks Vermutung nach sollten diese Männer lediglich einen gewissen Schutz für die Lohngelder gewährleisten, die man drinnen vermutlich für die dort tätigen Arbeiter aufbewahrte. Gerade wollte er Matty seine entsprechenden Mutmaßungen mitteilen, als das Tor aufschwang. Zwei Männer betraten die Straße. Ihre grimmigen vernarbten Schlägervisagen standen im krassen Gegensatz zu ihrer tadellosen schwarzen Samtkleidung. Sie schauten nach links und rechts und musterten die Jungen einen Moment lang prüfend, bevor sie den Blick wieder abwandten und jemandem drinnen mit der Hand ein Zeichen gaben.

  Eine Kutsche, die von einem einzigen Pferd gezogen wurde, kam zum Vorschein. Auf dem Kutschbock saß ein großer, kräftiger Mann mit Händen wie Spaten und einem von Narben bedeckten Kahlkopf.

  Die beiden Männer in Schwarz schlossen das Tor. Dann sprangen sie hinten auf die Kutsche und klammerten sich fest, als sie sich in Bewegung setzte.

  »Lass mal sehen, ob der feine Herr einen Viertelpenny rausrückt«, flüsterte Matty. Bevor Sherlock ihn aufhalten konnte, rannte Matty auch schon auf die Kutsche zu.

  Aufgeschreckt scheuten die Pferde zurück und stemmten sich gegen die Deichsel, die sie mit der Kutsche verband. Der Fahrer versuchte, die Kontrolle wiederzuerlangen, und schlug mit der Peitsche auf sie ein. Aber dadurch machte er es nur noch schlimmer, und die Kutsche drehte sich herum, als die Pferde versuchten, von Matty wegzukommen.

  Im nächsten Augenblick gefror Sherlock das Blut in den Adern. Durch das Kutschenfenster starrte ihn ein von dünnen weißen Haaren eingerahmtes, fast skelettartiges bleiches Gesicht an. Ohne mit der Wimper zu zucken, musterten ihn ausdruckslose Knopfaugen. Kleine, rosafarbene Augen wie die einer weißen Ratte. Ein Gefühl instinktiven Widerwillens durchfuhr Sherlock. Es war so, als hätte er nach einem Salatblatt auf dem Teller gegriffen und stattdessen eine Schnecke erwischt. Sherlock wollte sich in Bewegung setzen und zurückweichen. Aber der bleiche, bösartige Blick nagelte ihn förmlich fest, und er war unfähig, auch nur ein Glied zu rühren. Doch dann gelang es dem vierschrötigen Fahrer, wieder die Kontrolle zu erlangen. Die Pferde galoppierten an den beiden vorbei und zogen die Kutsche samt ihrer Insassen mit sich fort.

  »Hab nicht mal ’ne Chance gehabt«, maulte Matty und klopfte sich den Staub von der Kleidung. »Ich dachte, der Kerl geht gleich mit der Peitsche auf mich los.«

  »Wer war der Mann in der Kutsche?«, fragte Sherlock mit beunruhigter Stimme.

  Matty schüttelte den Kopf. »Hab ihn nicht gesehen. Hat er reich ausgesehen?«, fragte er hoffnungsvoll.

  »Er sah aus, als wäre er seit drei Tagen tot«, erwiderte Sherlock nur.

  3

  Der aus dem Zugschornstein strömende heiße Dampf quoll zwischen den Bretterbohlen der Brücke empor und benetzte die Beine der beiden Jungen. Lachend und nass liefen sie dabei in entgegengesetzte Richtungen. Majestätisch stampfte der Zug unter ihnen hindurch und fuhr langsamer werdend in den Bahnhof von Farnham ein. Die beiden gingen wieder zur Mitte der Holzbrücke zurück, die die Bahnsteige miteinander verband, und beobachteten, wie der Zug allmählich unter Kettengeklirre und ohrenbetäubendem Zischen zum Stehen kam, als der Lokführer den überschüssigen Dampf abließ.

  Es war der Morgen des folgenden Tages. Vor Eintreffen des Zuges hatte der Bahnsteig noch einsam und verlassen dagelegen. Aber in kürzester Zeit hatte er sich auf magische Weise in ein geschäftiges Menschengewimmel verwandelt, das auf den Ausgang zuströmte. Männer in schwarzen Gehröcken und mit Zylindern auf dem Kopf kamen aus den Erste-Klasse-Abteilen geschlüpft wie Insekten aus ihren Kokons. Schulter an Schulter schoben sie sich mit den Fahrgästen aus der Zweiten Klasse voran – beleibten Männern mit Tweedjackets und Schiebermützen sowie Frauen in ansehnlichen Kleidern –, wozu sich noch etliche muskelbepackte und wettergegerbte Arbeiter in abgewetzten Hemden und geflickten Hosen gesellten, die eng aneinandergequetscht in der Dritten Klasse gesessen hatten. Männer in Uniform zogen eine Schiebetür in einem der Waggons auf und machten sich daran, Holzkisten und große Beutel abzuladen, bei denen es sich Sherlocks Vermutung nach um Postsäcke handelte.

  Gepäckträger kamen aus ihren wo auch immer gelegenen Büros zum Vorschein, in denen sie sich normalerweise versteckt hielten, und begannen, Kisten und Taschen von den Waggons zu den Gepäckkarren zu transportieren. Mit Ausnahme von ein paar Stadtbewohnern, die über die Ereignisse der Woche plauderten, lag der Bahnsteig innerhalb weniger Minuten wieder einsam und verlassen da. Ein wichtigtuerischer Schaffner mit Hut und blauer Uniformjacke trat an den Bahnsteig. Er blickte zunächst nach vorne Richtung Lok, dann nach hinten ans Zugende, führte seine Pfeife an die Lippen und stieß einen kurzen, scharfen Pfiff aus. Der Zug schien zunächst zu beben, bevor er begann, sich langsam aus dem Bahnhof zu quälen. Schwerfällig zuerst, doch dann immer schneller. Mit schepperndem Geräusch spannten sich nacheinander die Waggonverbindungen, ehe die Wagen aus dem Bahnhof gezogen wurden.

  »Ist das der Zug nach London oder der Zug aus London?«, fragte Sherlock.

  Matty blickte in beide Richtungen das Gleis entlang. »Nach London«, antwortete er schließlich. »Von hier geht die Linie nach Tongham, Ash, Ash Wharf und dann weiter nach Brookwood und Guildford. Von da aus kannst du einen Zug direkt nach London nehmen.«

  London. Sherlock starrte die Bahnschienen entlang, wo der Zug gerade um eine Kurve fuhr und verschwand. Am Ende seiner Fahrt hätte er sich seinem Bruder Mycroft bis auf eine oder zwei Meilen genähert. Mycroft würde dann wahrscheinlich noch in seinem Büro sitzen und Dokumente studieren oder über einer Weltkarte brüten, die dort, wo das Britische Empire seinen Fuß hingesetzt hatte, rot markiert war. Für einen Moment war das Verlangen, hinter dem Zug herzulaufen und aufzuspringen, fast überwältigend.

  Er vermisste seinen Bruder. Er vermisste seinen Vater, seine Mutter und seine Schwester. Er vermisste sogar seine Schule. Wenn auch nicht ganz so sehr.

  »Was ist eigentlich in Brookwood los?«, fragte er, vor allem, um seine Gedanken auf ein anderes Thema zu lenken.

  Ein Zittern schien durch Mattys Körper zu gehen. »Frag nicht«, erwiderte er.

  »Nein, mal im Ernst.« Sherlocks Interesse war auf einmal geweckt. »Würde es sich lohnen, wenn wir da mal hinfahren?«

  Matty schüttelte den Kopf. »Tagsüber gibt es dort nichts Interessantes zu entdecken«, erklärte er entschieden. »Und nachts würdest du nicht dort sein wollen, glaub mir.«

  »Ich dachte, wir könnten uns Fahrräder besorgen.« Sherlock ließ nicht locker. »Mal rauskommen und ein bisschen durch die Gegend fahren. Ein paar Dörfer und Städte angucken.«

  Matty blickte ihn stirnrunzelnd an. »Warum sollten wir so was tun wollen?«

  »Aus Neugierde?«, schlug Sherlock vor. »Fragst du dich nie, wie die Dinge wo
hl sind, bevor du sie zu Gesicht bekommst?«

  »Städte sehen wie Städte und Dörfer wie Dörfer aus«, behauptete Matty. »Und die Leute sehen überall gleich aus. So ist das Leben nun mal. Komm, lass uns gehen.«

  Er führte Sherlock die gusseisernen Stufen zum Bahnsteig hinunter, auf dem die Fahrgäste ausgestiegen waren. Von dort gingen sie auf die Straße hinaus.

  Am Straßenrand hatte ein Pferdekarren haltgemacht. Drei Männer luden mit Stroh isolierte Eiskisten auf, die mit dem Zug gekommen waren.

  Einer der Männer, ein wieselgesichtiger Kerl mit gelben Zähnen, starrte die Jungen an, als sie an ihnen vorbeigingen.

  »Junger Master Sherlock«, hörten sie eine schneidende Stimme hinter sich. »Ich bin enttäuscht, Sie mit dreckigen Gassenjungen verkehren zu sehen. Ihr Bruder wäre zutiefst beschämt.«

  Obwohl er nicht wusste, wer ihn da ansprach, errötete Sherlock sogleich und drehte sich um. Nur wenige Meter vor sich sah er die Haushälterin MrsEglantine stehen. Zwei Männer, die Sherlock von Holmes Manor her wiedererkannte, luden gerade eine Reihe von Lebensmittelkisten auf den Karren, der von einem großen und offensichtlich gutmütigen Pferd gezogen wurde. Die Kisten waren höchstwahrscheinlich mit dem Zug gebracht worden.

  »Gassenjunge?« Sherlock sah sich um. Die einzige andere Person, die anwesend war, war Matty. Mit wachsamem Blick beobachtete er MrsEglantine, offensichtlich bereit, sofort loszurennen, sobald die Dinge schief liefen. »Wenn Sie ihn für einen Gassenjungen halten, sollten Sie häufiger mal aus dem Haus gehen, MrsEglantine«, sagte Sherlock kühn und ärgerte sich über ihre Einstellung.

  Die Haushälterin presste die Lippen zusammen. »Der Herr wünscht Sie zu sprechen, wenn Sie zurück sind«, sagte sie, als die beiden Männer hinter ihr die letzte Kiste auf den Karren hievten. »Bitte lassen Sie ihn nicht warten.« Sie wandte sich ab und kletterte nach vorn auf den Kutschbock. »Das Mittagessen wird serviert, ob Sie nun anwesend sind oder nicht«, fügte sie hinzu, während sich einer der Männer neben sie setzte und der andere auf die Rückseite kletterte.

  »Und Ihr Freund da ist nicht eingeladen.«

  Die Pferde trotteten los und zogen den Karren hinter sich her. MrsEglantine wandte sich nicht mehr nach Sherlock um, sondern blickte starr geradeaus. Der Mann, der hinten auf dem Karren Platz genommen hatte, sah Sherlock an, nickte gefällig und führte grüßend eine Hand zur Kappe. Ihm fehlten einige Zähne, und sein Ohr zierte eine Kerbe, die aussah, als hätte er sie sich mit einem Messer, einer Axt oder Ähnlichem beigebracht.

  »Wer war das?«, fragte Matty und stellte sich neben Sherlock.

  »Das war MrsEglantine. Sie ist Wirtschafterin in dem Haus, in dem ich wohne.« Er machte eine Pause. »Sie mag mich nicht.«

  »Schätze mal, sie mag niemanden«, stellte Matty fest.

  »Ich gehe besser«, sagte Sherlock. »Wenn ich schnell bin, brauche ich eine halbe Stunde zurück, und sie hat es ernst gemeint mit dem Essen. Wenn ich es verpasse, laufe ich bis zum Abendessen hungrig herum.« Er drehte sich um und blickte Matty an. »Sehen wir uns morgen?«

  Matty nickte. »Wieder hier? Gegen zehn?«

  Sherlock brauchte fast eine Dreiviertelstunde, um zurück nach Holmes Manor zu gehen, und er kam gerade an, als der Gong zum Essen ertönte. Er bürstete den gröbsten Staub aus der Kleidung und betrat das Esszimmer. Im Gegensatz zu seinen sonstigen Gepflogenheiten hatte Sherrinford Holmes, der gerade in einer Broschüre las, am Kopfende des Tisches Platz genommen. Seine Frau Anna wuselte umher, kontrollierte das Besteck und redete mit sich selbst. MrsEglantine stand hinter Onkel Sherrinford und reagierte nicht, als Sherlock eintrat. Aber die Art, wie sie es betont vermied, ihn anzusehen, zeigte ihm, dass sie von seiner Ankunft Notiz genommen hatte.

  »Guten Tag, Onkel Sherrinford, Tante Anna«, sagte Sherlock höflich, als er sich setzte.

  Sherrinford nickte in Sherlocks Richtung, ohne von seiner Broschüre aufzusehen. Anna schaffte es, so etwas wie einen Gruß in ihren fortwährenden Monolog einzubauen.

  Eine Magd kam mit einer Suppenterrine herein. Unter der Aufsicht von MrsEglantine füllte sie die Suppe in Schüsseln. Sherlock beobachtete alles ohne großes Interesse, bis Sherrinford seine Broschüre niederlegte, sich vorbeugte und ihn ansprach. »Junger Mann, ich bekomme nach dem Mittagessen Besuch, und ich wäre dir sehr verbunden, wenn du anwesend wärst. Dein Bruder hat mich dazu angehalten, sicherzustellen, dass du weiter an deiner Bildung arbeitest, während du nicht in der Schule weilst. Außerdem deutete er an, dass er wünscht, du mögest dich von Schwierigkeiten fernhalten. Aus diesem Grund habe ich einen Lehrer angestellt. Er wird sich deiner für drei Stunden am Tag annehmen. Außer an Sonntagen, wo ich von dir erwarte, mit dem Rest der Familie zur Kirche zu gehen. Sein Name lautet Amyus Crowe.« Er schniefte. »MrCrowe ist zu Besuch in unserem Land und kommt aus den Kolonien, glaube ich. Aber nichtsdestotrotz hat er sich als gelehrter und urteilsfähiger Mann erwiesen. Sein Latein und Griechisch sind ausgezeichnet. Ich erwarte von dir, dass du seinen Anweisungen Folge leistest.«

  Sherlock spürte, wie sein Gesicht plötzlich vor Zorn brannte. Als er auf Holmes Manor angekommen war, hatte er zunächst nur sich endlos hinziehende Tage vor sich liegen sehen. Leere und öde Tage. Und verzweifelt hatte er sich gefragt, was er mit seiner Zeit anfangen sollte. Aber dann hatte ihm die Begegnung mit Matty Arnatt eine ganze Reihe neuer Möglichkeiten eröffnet.

  Doch jetzt sah es so aus, als würde sich das alles wieder in Luft auflösen.

  »Danke, Onkel Sherrinford«, murmelte er und versuchte, dankbar auszusehen. Aber sein Gesicht wollte einfach nicht seinen Befehlen gehorchen. MrsEglantine legte ein dezentes Lächeln an den Tag, ohne Sherlocks Blick zu begegnen.

  Der Suppe folgte eine Fleischpastete mit dickem Teigmantel und Soße, woran sich wiederum ein »Summer-Pudding« anschloss. Sherlock aß, aber er schmeckte das Essen kaum. Seine Gedanken kreisten beständig um die Tatsache, dass sich seine Ferien gerade in eine persönliche Hölle verwandelten. Und er konnte es kaum erwarten, endlich wieder in die vorhersehbare Stabilität der Schule zurückzukehren.

  Nach dem Mittagessen bat Sherlock, dass man ihn entschuldigte.

  »Geh nicht zu weit fort«, ermahnte ihn Sherrinford. »Denk an meinen Besucher.«

  Sherlock lungerte in der Eingangshalle herum, während die Familie getrennte Wege ging. Sherrinford begab sich in die Bibliothek und Tante Anna ins Gewächshaus. Sherlock vertrieb sich die Zeit damit, sich die Gemälde anzusehen, und versuchte zu entscheiden, welches am amateurhaftesten ausgeführt worden war. Nach einer Weile trat ein Dienstmädchen mit einem Silbertablett zu ihm, auf dem ein Briefumschlag lag.

  »Master Holmes«, sagte sie leise. »Dieser Brief kam heute Morgen für Sie an.«

  Sherlock schnappte sich den Umschlag vom Tablett. »Für mich? Danke!«

  Sie lächelte und verschwand. Sherlock blickte sich um – halb in der Erwartung, MrsEglantine würde gleich auftauchen, um ihm den Brief aus der Hand zu reißen. Aber er war allein in der Halle. Der Umschlag war tatsächlich an »Master Sherlock Holmes, Holmes Manor, Farnham« adressiert. Und abgestempelt worden war er in Whitehall. Mycroft! Er war von Mycroft! Ungeduldig fuhr er mit dem Fingernagel unter die Wachsversiegelung und zog die Umschlagklappe nach oben.

  Im Umschlag steckte ein einzelner Briefbogen. Oben war Mycrofts Londoner Adresse aufgedruckt und darunter hatte sein Bruder in seiner ganz eigenen eleganten Schrift folgende Zeilen geschrieben:

  Mein lieber Sherlock,

  ich hoffe, dass, wenn Du diesen Brief in Händen hältst, es Dir gut geht. Zweifellos wirst Du Dich im Moment verlassen und alleine fühlen und deswegen verärgert sein. Bitte glaube mir, dass ich Deine Gefühle verstehen kann und sie respektiere. Ich wünschte nur, es gäbe etwas, womit ich Dir helfen könnte.

  Es gibt etwas!, dachte Sherlock. Du könntest mich zu dir holen, damit ich die Ferien bei dir verbringen kann! Kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, verwarf er ihn auch schon wieder. Mycroft hatte seine eigenen Probleme. Er hatte eine Arbeit, die ihm viel abverlangte, und darüber hinaus fungierte er während der Abwesenheit ihres Vaters als De-Facto-Familienobe
rhaupt. In dieser Eigenschaft hatte er sich nicht nur um ihre Mutter zu kümmern, deren Gesundheit angeschlagen war, sondern auch um ihre Schwester, die ihre eigenen Probleme hatte. Nein, Mycroft hatte für sie beide die beste Entscheidung getroffen. Manchmal, dachte Sherlock, sind die einzigen Optionen, die sich einem bieten, eben allesamt unfair, und man muss eher die wählen, die die negativen Konsequenzen minimiert, als jene, die die guten maximiert. Das fühlte sich verdächtig nach absonderlicher Erwachsenen-Denkweise an, und die sich aufdrängende Schlussfolgerung, dass so das Erwachsenenleben aussehen würde, gefiel ihm ganz und gar nicht.

  Jeder Brief, den Du mir an oben genannte Adresse schickst, wird mich innerhalb eines Tages erreichen, und ich verspreche, dass ich unverzüglich auf jede Deiner Bitten eingehen werde – mit Ausnahme von der naheliegenden, dass ich Dich während der Ferien zu mir nach London hole.

  Ah, wie immer ist er mir einen Schritt voraus, dachte Sherlock. Schon immer hatte sein Bruder eine verblüffende Fähigkeit an den Tag gelegt, wenn es darum ging, zu prophezeien, was Sherlock im nächsten Moment sagen wollte. Er las weiter:

  Ich habe angeregt, dass Onkel Sherrinford einen Lehrer engagiert, um Deine Studien zu fördern. Ich habe positive Auskünfte über einen Mann namens Amyus Crowe erhalten, und ich habe den Namen gegenüber Sherrinford erwähnt. Ich denke, Du solltest MrCrowe Dein Vertrauen schenken. Wie ich gehört habe, hat er auch eine Tochter. Dadurch hast Du vielleicht die Möglichkeit, in der Gegend gleichaltrige Freunde zu finden.

  Da sieht man mal, wie viel du wirklich weißt, dachte Sherlock. Ich habe bereits angefangen, meine eigenen Freunde zu finden.

  Abschließend gemahne ich Dich, daran zu denken, dass dies bloß eine vorübergehende Situation ist. Die Dinge werden sich ändern, so wie sie es immer tun. Mache das Beste aus Deiner jetzigen Lage. Wie der persische Dichter Omar Khayyām schrieb: »Hier mit einem Laib Brot unter dem Ast, einem Fläschchen Wein, einem Buch mit Versen – und mit Dir, die Du neben mir singst in der Wildnis – Und die Wildnis wird zum Paradies …«

 

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