by Andrew Lane
»Ganz und gar nicht«, erwiderte Crowe. »Statt ihn zu striktem Hausarrest zu verurteilen, würde ich vorschlagen, die Strafe so zu gestalten, dass er nur in meiner Begleitung hinausdarf. Auf diese Weise wird es mir weiterhin möglich sein, die Vereinbarung, die ich mit seinem Bruder getroffen habe, einzuhalten.«
Sherrinford Holmes überlegte einen Moment lang, während er sich mit der rechten Hand über den Bart strich. Dann verkündete er das Urteil: »Wir werden einen Kompromiss schließen. Für den Rest des Tages und auch morgen noch stehst du unter striktem Hausarrest. Auch danach wirst du die ganze Zeit das Haus nicht verlassen, es sei denn, du hast Unterricht bei MrCrowe. Hier im Haus hast du mit Ausnahme der Mahlzeiten auf deinem Zimmer zu bleiben.« Seine Lippen zuckten. »Allerdings werde ich dir gestatten, jedes Buch deiner Wahl aus meiner Bibliothek zu nehmen, damit du dir die Zeit vertreiben kannst. Nutze diese Möglichkeit weise, um dich zu bessern und über deine Taten nachzudenken.«
»Das werde ich, Sir«, sagte Sherlock, der sich geradezu dazu zwingen musste, die Worte über die Lippen zu bringen. Die Spannung in seinen Schultern ließ etwas nach. »Danke, Sir.«
»Geh jetzt. Und kehre nicht vor dem Abendessen zurück.«
Sherlock wandte sich ab und verließ die Bibliothek. Er verspürte den verzweifelten Drang, sich zu rechtfertigen und klarzustellen, dass das, was er getan hatte, das Richtige gewesen war.
Aber er wusste gut genug, wie die Welt der Erwachsenen funktionierte, um sich darüber im Klaren zu sein, dass ein Debattieren die Dinge nur schlimmer machen würde. Das Richtige zu tun, spielte keine Rolle. Regeln zu befolgen hingegen schon.
Er begab sich zunächst auf den breiten, mit Teppich überzogenen Treppenstufen in den ersten Stock hinauf und stieg dann die schmalere, hölzerne Treppe ins Dachgeschoss empor, wo sich sein Zimmer befand. Er lag auf seinem Bett, starrte an die Decke und ließ seinen wirren Gedanken freien Lauf.
Der restliche Tag und der darauf folgende vergingen wie im Nebel. Sein durch die Abenteuer der vergangenen Tage müder und geschundener Körper nahm die Gelegenheit wahr, sich durch so viel Schlaf wie möglich zu erholen. Aber während der Wachphasen wirbelten die Gedanken so ziellos in seinem Kopf herum wie Motten um eine Kerzenflamme. Was ging da wirklich vor sich? Was genau führte Baron Maupertuis im Schilde, und wer würde ihn stoppen?
Er verbrachte einige Zeit damit, im Kopf einen Brief an seinen Bruder zu verfassen. Nicht weil er erwartete, dass Mycroft irgendetwas unternahm. Vielmehr wollte er endlich einmal jemandem, dem er vertraute, alles erzählen, was passiert war. Als Worte und Formulierungen schließlich so waren, wie er es sich vorstellte, brachte er den Brief zu Papier.
Lieber Mycroft,
ich wünschte, ich könnte Dir berichten, dass ich Deinem Rat gefolgt wäre und mich in einen aus Studien in Onkel Sherrinfords Bibliothek und Erkundungsstreifzügen durch die lokale Natur bestehenden Wirbel von Aktivitäten gestürzt hätte.
Aber wie es aussieht, habe ich mich in Schwierigkeiten gebracht, und ich weiß nicht, was ich als Nächstes tun soll. Die gute Nachricht ist – wenn es denn überhaupt eine gibt –, dass ich zwei Freunde gefunden habe. Einer von ihnen heißt Matthew Arnatt und lebt auf einem Kanalboot. Ich denke, Du wirst ihn mögen. Bei dem anderen Freund handelt es sich um Virginia Crowe. Sie ist die Tochter von Amyus Crowe, der sagt, dass er mir etwas über die Natur beibringen will und darüber, wie man die Welt um sich herum beobachtet. Tatsächlich jedoch glaube ich, bringt er mir bei, wie man richtig denkt. Ich wünschte, Du hättest es nicht für nötig erachtet, für die Ferien einen Tutor für mich zu finden. Aber von allen Tutoren, auf die Deine Wahl hätte fallen können, ist MrCrowe, glaube ich, der Beste.
Seltsame Dinge sind hier in Farnham geschehen, und ich wünschte, ich könnte Dir davon erzählen. In der Stadt ist die mit Beulen bedeckte Leiche eines Mannes aufgefunden worden, und wenig später stießen wir auf eine weitere Leiche mit den gleichen Symptomen auf dem Grund von Holmes Manor.
Die Stadtbewohner dachten, es könnte sich womöglich um die Pest handeln. Aber ein Mann namens Professor Winchcombe hat bewiesen, dass die beiden von Hunderten von Bienenstichen getötet wurden. Ich glaube, dass die Bienen irgendwie in Verbindung mit einem Mann namens Baron Maupertuis stehen, dem ein Lagerschuppen in Farnham gehört. Aber ich weiß nicht, worin diese Verbindung genau besteht.
Der Lagerschuppen ist abgebrannt, wobei alle Hinweise und Spuren vernichtet wurden. Wie das passierte, werde ich Dir berichten, wenn wir uns wiedersehen.
Ansonsten ist das Leben hier, kurz gesagt, viel interessanter, als ich es erwartet hätte – wenn ich denn aus dem Haus komme. Zur Zeit habe ich nämlich Hausarrest und muss auf meinem Zimmer bleiben, weil ich mich allein nach Guildford begeben habe, um Professor Winchcombe zu treffen. Aber das ist eine andere Geschichte, die ich Dir erzählen werde, wenn wir uns wiedersehen.
Gibt es irgendwelche Neuigkeiten von Vater? Ist er immer noch auf dem Weg nach Indien, und hast Du inzwischen weitere Informationen darüber, wann die Probleme dort vorbei sein könnten?
Richte Mutter und unserer Schwester liebe Grüße aus. Bitte, besuch mich bald.
Dein Bruder
Sherlock
Nachdem er den Brief beendet und die feuchte Tinte mit Löschpapier getrocknet hatte, legte er ihn auf den Tisch in der Halle, als er zum Mittagessen hinunterkam. Von dort würde ihn ein Dienstmädchen einsammeln, um ihn zum Postamt nach Farnham zu bringen. Als er später zum Abendessen wieder in die Halle kam, war der Brief verschwunden. MrsEglantine durchquerte gerade die Halle, und kaum hatte sie ihn erblickt, zeigte sich auf ihrem Gesicht, das förmlich durch die dunklen Schatten zu schweben schien, ein eisiges Lächeln. Hatte sie den Brief gesehen? Hatte sie ihn etwa gelesen? War er überhaupt zum Postamt gebracht worden oder hatte sie ihn einfach zerrissen? Sherlock sagte sich, dass das albern war. Was für Gründe sollte sie schließlich dafür haben? Aber Mycrofts Warnung hallte in seinem Kopf wider. Sie ist keine Freundin der Holmes-Familie.
Als er am nächsten Tag spät nachmittags in seinem Zimmer lag, schwirrten ihm diese Gedanken noch immer im Kopf herum. Der entfernte Gong, der zum Abendessen rief, weckte ihn aus einem halbschlafähnlichen Zustand. Er begab sich hinunter ins Erdgeschoss. MrsEglantine kam gerade aus dem Speisezimmer und musterte ihn mit höhnischem Lächeln, bevor sie wieder verschwand.
Sherlock verspürte keinen Hunger. Er starrte einige Augenblicke lang auf die Esszimmertür und versuchte, sich dazu zu überwinden hineinzugehen und etwas zu sich zu nehmen. Nur um bei Kräften zu bleiben. Aber er brachte es einfach nicht fertig.
Er drehte sich um und durchquerte die Halle, in der Hoffnung, in der Bibliothek irgendwelche Bücher über Bienen oder Imkerei zu finden.
Auf halbem Weg fiel sein Blick auf einen Brief, der auf dem Silbertablett auf dem Beistelltisch lag. Hatte der vorher noch nicht dort gelegen oder hatte Sherlock ihn schlicht und einfach übersehen? Da er im ersten Augenblick dachte, dass es ein weiterer Brief von Mycroft sein könnte, nahm er das Schreiben auf. Sherlocks Name stand zusammen mit der Adresse von Holmes Manor vorne auf dem Umschlag, aber es war nicht Mycrofts Handschrift. Die Buchstaben waren geschwungener … femininer. Wie konnte das sein?
Sherlock sah sich um, halb überzeugt, dass sein Blick auf MrsEglantine fallen würde, die im Schatten lauerte und ihn beobachtete. Doch es war niemand sonst zu sehen. Er nahm den Brief und öffnete die Eingangstür. Er stellte sich in den Schein der frühen Abendsonne, aber blieb immer noch im Türrahmen, so dass man ihn nicht beschuldigen konnte, das Haus verlassen zu haben.
Im Umschlag befand sich ein einzelner, zart lavendelfarbener Briefbogen. Unterhalb seines Namens und seiner Adresse stand dort geschrieben:
Sherlock,
auf der Gemeindewiese unterhalb der Burg findet ein Jahrmarkt statt. Triff mich morgen früh dort um neun – wenn Du Dich traust!
Komm allein.
Virginia
Einen winzigen Augenblick lang wurde Sherlock von einem merkwürdigen Schwindelgefühl ergriffen und er holte tief Luft. Virginia wollte sich mit ihm treffen? Aber warum? Beide Male, als sie einande
r begegnet waren, hatte er den Eindruck gehabt, dass sie ihn nicht besonders mochte. Und sie hatten weiß Gott nicht sehr viel miteinander gesprochen. Und trotzdem wollte sie ihn jetzt sehen? Alleine?
Doch er konnte nicht gehen! Man hatte ihm streng verboten, das Haus zu verlassen!
Fieberhaft versuchte er, sich eine Rechtfertigung einfallen zu lassen, die es ihm erlauben würde, am nächsten Tag das Haus zu verlassen, ohne erneut in Schwierigkeiten zu geraten. Es musste sich doch einfach irgendein logisch klingendes Argument konstruieren lassen, das Onkel Sherrinfords strengem prüfendem Blick standhalten würde. Virginia hatte ihn gefragt, ob sie sich treffen könnten. Das Wenige, das er von ihr wusste, ließ ihn vermuten, dass sie unabhängiger als englische Mädchen in ihrem Alter war. Sie konnte reiten – und zwar nicht nur im Damensattel, sondern richtig –, und sie war absolut dazu imstande, alleine umherzuziehen. Aber wenn sie ein englisches Mädchen wäre, würde sie keinesfalls ohne ihre Familie zum Jahrmarkt gehen. Und das bedeutete, dass es plausibel war, wenn Sherlock den Brief als Einladung interpretieren würde, sich mit Virginia und ihrem Vater zu treffen. Was wiederum bedeutete, dass er das Haus verlassen konnte, ohne gegen die Vereinbarungsbedingungen zu verstoßen, die zwischen ihm und seinem Onkel getroffen worden waren. In Sherrinfords Weltbild war es schlichtweg ausgeschlossen, dass ein Mädchen eine Verabredung mit einem Jungen treffen könnte, ohne dass jemand aus ihrer Familie dabei war. Sherlock wusste es natürlich besser. Aber wenn man ihn zur Rede stellte, würde er das einfach nicht verraten.
Doch dann brachte ihn ein plötzlich aufkommender Gedanke aus dem Gleichgewicht. Was, wenn jemand von Holmes Manor auf dem Jahrmarkt wäre?
Aber nachdem er kurz darüber nachgedacht hatte, kam er zur Überzeugung, dass weder bei Onkel und Tante noch bei MrsEglantine die Wahrscheinlichkeit sehr groß war, dass sie dort waren. Und falls er jemand von den Dienstmädchen, Köchen oder Arbeitern auf dem Jahrmarkt träfe, würden sie ihn vermutlich nicht einmal erkennen.
Er verbrachte den Rest des Abends und einen großen Teil der Nacht damit, sich wechselweise davon zu überzeugen, dass er am nächsten Morgen gehen sollte und dann wiederum, dass er es nicht sollte. Gegen Morgen war er immer noch nicht sicher. Aber als er zum Frühstück die Treppe herunterkam, ertappte er sich plötzlich dabei, wie er in Gedanken Virginias Gesicht vor sich sah, und prompt beschloss er, dass er gehen würde. Komme, was da wolle.
Er blickte auf die Standuhr. Erst kurz nach acht! Wenn er sich jetzt auf den Weg machte und das Fahrrad nahm, könnte er gerade noch pünktlich dort sein. Er wusste, wo sich die Burg befand. Sie lag am Hang oberhalb der Stadt, und bei der Grasfläche unmittelbar vor der Burg handelte es sich wahrscheinlich um besagte Gemeindewiese.
Sollte er eine Nachricht hinterlassen? Nach den letzten Vorkommnissen mochte das eine gute Idee sein. Also schrieb er rasch ein paar Zeilen auf die Rückseite des Umschlags, in denen er erklärte, dass er fortgegangen sei, um sich mit Amyus Crowe zu treffen, und legte die Nachricht auf das Silbertablett. Dann eilte er halb gehend, halb rennend nach draußen, um sein Rad zu holen, wobei er sich duckte, sobald er an einem Fenster vorbeikam, und sich hinter Mauern verborgen hielt, wo immer es möglich war.
Auf der Fahrt zur Burg schwirrte ihm nur so der Kopf vor lauter Spekulationen und verwirrender Gedanken. Noch nie zuvor hatte er eine Freundin gehabt. Natürlich war da noch seine Schwester. Aber sie war älter als er und hatte andere Interessen wie zum Beispiel Malerei, Krocket und Klavierspielen.
Und natürlich war da auch noch ihre Krankheit, die sie während eines Großteils von Sherlocks Kindheit ans Bett gefesselt und zu einem zurückgezogenen Leben gezwungen hatte. Zu Hause hatte er sich niemals mit irgendjemandem richtig angefreundet. Geschweige denn mit einem Mädchen. Und Deepdene war eine reine Jungenschule. Er war sich nicht ganz sicher, wie er mit Virginia umgehen, worüber er mit ihr reden und wie er sich ihr gegenüber benehmen sollte.
Als er nach Farnham hineinkam, bog er in eine Seitenstraße ein. Sie führte bergauf auf die Burg zu, die er am Hang des Hügels über der Stadt aufragen sah. Er strampelte sich ab, bis seine Beinmuskeln zu brennen begannen. Dann stieg er ab und schob das Rad neben sich her. Als er schließlich das Burggelände erreichte, war er ziemlich erschöpft.
Vor ihm auf der Wiese ausgebreitet und beschienen von der Morgensonne bot sich Sherlock ein Kaleidoskop menschlichen Lebens, das wie eine eigenständige kleine Miniaturstadt wirkte. Stände und mit Seilen begrenzte, ringförmige Areale waren beiderseits von breiten, grasbewachsenen Gassen errichtet worden, auf denen die Leute umherflanierten und auf verschiedene Attraktionen zeigten. Über allem lag ein Rauchschleier, und der Geruch von brutzelndem Fleisch, Tierdung und menschlichen Ausdünstungen brachten seine Nase zum Kribbeln. Es gab Bereiche für Jongleure, Boxkämpfe, Stockkämpfe und Hundekämpfe. Scharlatane verkauften Wunderarzneien, die aus wer weiß was zusammengebraut worden waren. Feuerschlucker beförderten flammende Kohlestücke auf Metallgabeln in ihren Mund. Einige Stadtbewohner nahmen an einem Grimassenwettbewerb teil, bei dem es einen Hut zu gewinnen gab, andere rannten für einen Schlafanzug um die Wette oder schaufelten bei einem Wettfressen Hasty-Pudding in sich hinein, wobei es für denjenigen, der am meisten vertilgen konnte, Geld zu gewinnen gab.
Sherlock hielt in der Menge nach Virginias unverwechselbarem kupferfarbenen Haarschopf Ausschau. Aber auf der Wiese drängten sich so viele Menschen, dass einzelne Personen kaum auseinanderzuhalten waren. Da sie keinen Treffpunkt genannt hatte, blieben ihm nur zwei Möglichkeiten. Entweder wartete er dort, wo er gerade stand, in der Hoffnung, dass sie ihn finden würde, oder er stürzte sich in die Menge, um nach ihr zu suchen. Und das Warten hatte noch nie zu Sherlocks Stärken gehört.
Also stellte er – wenn auch mit leicht mulmigem Gefühl – sein Rad an einem Zaun am Wiesenrand ab. Er war sich zwar nicht ganz sicher, ob es bei seiner Rückkehr immer noch da sein würde, aber in dem dichten Gewühl konnte er es sowieso nicht weiter mitnehmen.
Die erste Attraktion, auf die er stieß, als er über die Wiese schlenderte, war ein riesiges, bis zum Rand mit Wasser gefülltes Fass. Leute standen dicht geschart darum herum und stachelten sich gegenseitig an. Die Wasseroberfläche brodelte, was Sherlock zu der Vermutung veranlasste, dass irgendetwas dort drin gekocht wurde. Allerdings war unter dem Fass kein Feuer. Einer aus der Menge – ein dürrer junger Bursche, der ein gepunktetes Taschentuch um den Hals geschlungen hatte – versuchte ein rotbäckiges Mädchen im weißen Kleid zu beeindrucken, das neben ihm stand. Er händigte dem Mann, dem offensichtlich das Fass gehörte, eine Münze aus, packte mit beiden Händen den Rand des Fasses und tauchte seinen Kopf mit einem Schwung ins Wasser.
Sherlock, der immer noch halbwegs überzeugt war, dass das Wasser kochte, stockte der Atem. Aber wie es aussah, passierte dem Jungen nichts. Offenbar auf der Suche nach etwas, bewegte er den Kopf im Wasser wackelnd hin und her. Alle paar Sekunden stieß sein Kopf zunächst vor, um daraufhin gleich wieder zurückzuschnellen.
Und dann zog er schließlich ganz den Kopf heraus. Wasser lief von Gesicht und Hals auf seine Schultern hinab, aber das schien ihn nicht zu stören. Zwischen seinen Zähnen steckte irgendetwas. Etwas Silbriges, das sich heftig windend versuchte, aus der Umklammerung zu befreien. Im ersten Moment kam Sherlock nicht darauf, um was es sich handelte. Aber dann wurde es ihm klar. Es war ein Aal, kaum länger als der Finger eines Mannes. Verblüfft ging Sherlock weiter. Er hatte schon vom Apfeltauchen gehört, aber vom Aaltauchen? Unglaublich.
»Sehen Sie das außergewöhnlichste Schaf der Welt!«, schrie ein Ausrufer vor einem Stand. »Sehen Sie ein Schaf mit vier ganzen Beinen und einem halben Fünften am Bauch. So etwas werden Sie nie wieder zu Gesicht bekommen!« Er fing Sherlocks Blick auf, als dieser vorbeiging. »Sie da, junger Herr. Sehen Sie sich das erstaunlichste Schauspiel auf Gottes grüner Erde an. Das werden Sie nie vergessen. Alle Mädchen werden an Ihren Lippen hängen, wenn Sie von dem unglaublichen Schaf mit vier Beinen und einem halben Fünften berichten.«
Sherlock ging weiter und kam an einer Bude vorbei, wo zwei Handpuppen in einem Fenster zu sehen waren. Die Pupp
en wurden von einem im Stand verborgenen Spieler bedient. Ihre mit überdimensionalen Nasen und Kinnladen versehenen Köpfe waren aus Holz geschnitzt, und ihre Kleidung bestand aus bunten Schleifen. Als Sherlock die Puppen betrachtete, legte eine – bei fast vollständig gekrümmtem Oberkörper – ihren Kopf auf den unteren Fensterrand, während die andere diesen daraufhin augenblicklich mit einer Miniaturaxt abhackte. Der Kopf fiel ab, und grellrote Schleifen schossen explosionsartig aus dem Halsstumpf hervor, um das herausspritzende Blut zu simulieren. Jubelnd schwenkte die Menge die Hüte.
Etwas abseits auf der einen Seite des Jahrmarkts wurde Sherlock auf einen Teich aufmerksam. Ein Mann mit grellbunter Weste und einem Zylinder auf dem Kopf warf eine Ente hinein. Die Beine des Tieres waren mit einem dünnen Stück Schnur verknüpft, an dem ein Gewicht hing, das es auf dem Wasser festhielt. Der Teich war von Hunden umlagert. Knurrend und geifernd zerrten sie an ihren Leinen aus Hanf oder Leder. Sherlock beobachtete, wie überall in der Menge Geld gewechselt wurde. Ihn beschlich ein mulmiges Gefühl, glaubte er doch zu wissen, was gleich passieren würde. Der Mann in der Weste trat zurück und hob die Hand. Erwartungsvolle Stille senkte sich über die Menge. Die Hunde verdoppelten ihre Anstrengungen, um sich loszureißen, und ihr Geknurre war jetzt so laut, dass es den Boden zum Vibrieren brachte. Die Hand des Mannes fiel auf die Weste hinab, und die Hunde wurden von ihren Besitzern von der Leine gelassen. Wie eine einzige Wand aus fletschenden Zähnen und wirbelnden Läufen stürzten sie sich in den Teich, um den quakenden Vogel zu packen. Während das Wasser nur so in alle Richtungen spritzte, flatterte die Ente auf der Flucht vor ihren Jägern voller Panik auf dem Wasser vor und zurück, so weit dies die Schnur und das Gewicht eben zuließen. Was die Hunde anbelangte, so vermieden sie es, sich zu tief ins Wasser zu begeben. Mit Ausnahme eines mutigen Terriers, der wie wahnsinnig hinter der Ente auf dem Teich herpaddelte. Sherlock wandte sich ab, bevor einer der Hunde die Zähne in den Hals der Ente graben konnte. Der Ausgang dieses unappetitlichen Spektakels stand von vornherein fest, die einzige offene Frage war nur, welcher Hundebesitzer am Ende den Preis gewinnen würde.