by Andrew Lane
»Was meinst du damit?«
»Rund um Southampton, Portsmouth und der Isle of Wight gibt’s Forts. Mitten im Englischen Kanal. Sind so was wie künstliche Inseln«, sagte er. »Sind für den Fall gebaut worden, dass Napoleon mal ’ne Invasion in England macht. Die meisten sind jetzt verlassen, weil die Invasion nie gekommen ist.«
»Woher weißt du das?«, fragte Virginia.
Mattys Gesicht nahm einen finsteren Ausdruck an. »Mein Dad war in einem stationiert. Als er in der Navy war. Hat mir alles davon erzählt.«
»Und wie kommst du darauf, dass Maupertuis eins davon benutzt?«, fragte Sherlock.
»Du hast erzählt, wie sehr er die Briten hasst. Für das, was mit ihm passiert ist. Macht doch irgendwie Sinn, wenn er dann eins von den Forts, die wir damals gebaut haben, um uns vor den Franzosen zu verteidigen, nun gegen uns benutzt, oder?«
Crowe nickte. »Da hat der Junge nicht ganz Unrecht. Außerdem hat sein Schiff London ja schon eine ganze Weile verlassen, bevor Matty und ich uns ein Boot besorgen konnten. Und trotzdem haben sie Cherbourg nur kurz vor uns erreicht. Sie müssen an einem der Forts Halt gemacht haben, um die Bienenstöcke abzuladen.«
»Aber es gibt jede Menge davon«, sagte Matty. »Wir haben keine Zeit, alle zu durchsuchen.«
»Er würde nicht wollen, dass die Bienen zu weit fliegen müssen«, meinte Sherlock. »Wir suchen nach einem Fort, das ziemlich nah an der Küste liegt. Und er würde Wert darauf legen, dass sich die Bienen schon in relativer Nähe zu einer ziemlich großen Garnison befinden. Wir brauchen eine Karte von England und der englischen Küste. Dann ziehen wir Linien zwischen jedem Fort auf See und jeder Garnison. Das, was wir suchen, ist die kürzeste Linie.« Er blickte zwischen Amyus Crowes und Virginias verwunderten Gesichtern hin und her. »Einfache Geometrie«, erklärte er.
»Und was machen wir, wenn wir das richtige Fort gefunden haben?«, fragte Matty.
»Wir könnten weiter zur britischen Küste segeln und Mycroft Holmes eine Nachricht schicken«, knurrte Crowe. »Er könnte ein Schiff der Royal Navy zum Fort entsenden.«
»Das würde viel zu viel Zeit kosten«, sagte Sherlock und schüttelte den Kopf. »Wir müssen selbst hin. Jetzt gleich.«
Und so geschah es. Wenige Zeit später stach die MrsEglantine – ehemals und bald wieder die Rosie Lee – in See, während Crowe und Sherlock sich sogleich daranmachten, auf diversen Karten Linien einzuzeichnen. Schließlich war der wahrscheinlichste Kandidat identifiziert, und als wenige Stunden später die Sonne den Horizont berührte und sich die englische Küste als schwarze Linie vor einem dämmrigen Hintergrund abzeichnete, näherten sie sich ihrem Ziel.
»Sie werden den Kutter auf der Stelle entdecken«, gab Crowe zu bedenken. »Selbst wenn wir die Segel bergen, sind Mast und Takelage noch relativ weit zu sehen. Vorausgesetzt natürlich, dass sie Ausschau halten – was ich an ihrer Stelle tun würde.«
»Als wir eben an Bord gegangen sind, habe ich gesehen, dass ein Ruderboot an der Bordseite festgezurrt ist«, sagte Sherlock. »Matty und ich könnten damit zum Fort rüberrudern. Und ihr segelt weiter nach England und schlagt Alarm.«
»Wie wär’s, wenn ich zum Fort rudere und ihr beide mit Ginny nach England segelt?«
»Aber wir können nicht segeln«, stellte Sherlock klar, und sein Herzschlag beschleunigte sich bei dem Gedanken daran, für welches Unternehmen er sich gerade freiwillig meldete. Aber er konnte beim besten Willen keine sinnvolle Alternative erkennen. »Und außerdem werden die Admiralität und das Kriegsministerium Ihnen mehr Glauben schenken als mir.«
»Klingt logisch«, räumte Crowe widerstrebend ein.
»Egal, wo Sie an Land gehen, ob Portsmouth Dockyard, Chatham Dockyard, Deal, Sheerness, Great Yarmouth oder Plymouth, überall gibt es Semaphor-Stationen. Wenn Sie dort eine Nachricht aufgeben, wird sie per Lichtsignal über die Semaphor-Kette bis zur Admiralität übertragen. Das geht vermutlich schneller, als ein Telegramm zu schicken.«
Crowe nickte und lächelte. Dann streckte er seine riesige Pranke aus und schüttelte Sherlock die Hand. »Wir sehen uns wieder«, sagte er.
»Darauf zähle ich«, erwiderte Sherlock.
Mit Hilfe von Crowe ließen Sherlock und Matty das Ruderboot zu Wasser und glitten vorsichtig ins Boot hinab. Dann legten sie sich in die Ruder und hielten zügig auf das Fort zu. Ein kleines Ruderboot konnte sich im rasch schwindenden Licht der Abenddämmerung dem Fort nähern, ohne gesehen zu werden, wohingegen ein Fischkutter, so unauffällig er auch sein mochte, auf jeden Fall entdeckt werden würde. Wie vereinbart, hielten Crowe und Virginia weiter auf die englische Küste zu, von wo aus sie eine Nachricht an die Regierung schicken würden.
Virginia stand an der Bordseite der MrsEglantine, als Kutter und Ruderboot sich voneinander entfernten, und starrte Sherlock nach. Sherlock erwiderte ihren Blick und fragte sich, ob er sie jemals wiedersehen würde.
Mit aller Kraft pullten sich Sherlock und Matty durch die grau-grüne und kabbelige See voran. Doch so sehr sie auch ruderten, das Fort blieb zunächst ein dunkler Klecks am Horizont, der keinen Zentimeter näherzukommen schien. Nachdenklich fuhr sich Sherlock mit der Zunge über die Lippen, die nach Meersalz schmeckten. Er fragte sich, wie er es nur hatte fertigbringen können, sich in dieses merkwürdige Abenteuer zu verstricken.
Als er nach einer Weile aufblickte, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass das Fort nur noch ein paar Hundert Meter entfernt war. Von Seetang und Algen überzogen, erhob sich der massige feuchte Steinklotz aus den Wogen des Englischen Kanals. Irgendwie hatten sie sich dem Koloss genähert, ohne es richtig wahrzunehmen. Das Fort schien einsam und verlassen dazuliegen. Sherlock musterte die mit Zinnen bewehrte Mauerkrone, von der aus noch vor ein paar Jahrzehnten britische Truppen das Meer nach feindlichen französischen Kriegsschiffen abgesucht hatten. Doch es war niemand zu sehen. Keine Menschenseele.
Das Boot glitt die letzten paar Meter auf die schwarze Felsmasse des Forts zu und kam am Fuß einer schlüpfrigen Steintreppe zum Halten, die nach oben führte.
Rasch vertäute Matty das Boot an einem rostigen Eisenpfahl, der in eine Steinfuge einzementiert war. Dann kraxelten die beiden Jungen die glatten Stufen hinauf, wobei Sherlock fast ausgerutscht und ins Wasser hinabgestürzt wäre, hätte Matty ihn nicht noch gerade rechtzeitig gepackt.
»Woher sollen wir wissen, dass wir nicht zu spät kommen?«, fragte Matty.
»Es ist fast Nacht. Bienen schlafen nachts. Die Leute des Barons hatten nicht viel mehr Zeit herzukommen als wir. Sie werden die Bienen morgen früh freilassen.«
Als sie nach oben kamen, knieten sie sich zunächst hinter eine niedrige Steinmauer, die die Treppenöffnung umgab und deren Fugen mit Moos überwachsen waren.
Sherlock suchte die sich vor ihnen ausdehnende oberste Ebene des Forts ab, wobei es sich seiner Vermutung nach technisch gesehen um das »Deck« des Forts handeln musste, auch wenn dieses ganz spezielle »Schiff« aus Stein und Fels nirgendwohin fahren würde. Aber bis auf ein paar alte Taurollen, diverse Seegrasbüschel und zersplitterte Holzkisten, die hier und da herumlagen, war auf den Steinplatten nichts zu erkennen.
Doch plötzlich leuchtete etwas weiter weg auf der anderen Seite des Forts ein Streichholz auf, in dessen Schein kurz ein bärtiges Gesicht zu erkennen war, über das sich eine Narbe zog. Wer auch immer sich hier im Fort herumtrieb, hatte Wachen aufgestellt. Matty und er mussten vorsichtig sein.
Die Wache bewegte sich von ihnen fort und Sherlock sah, wie sie an einer Öffnung im Steindeck vorbeikam, die an drei Seiten von einem Holzgeländer umgeben war. Vermutlich eine Treppe, die ins Innere des Forts hinabführte! Als der Mann sich weiter entfernte, zupfte Sherlock Matty am Hemd und zog ihn mit zur Öffnung hinüber.
Er hatte recht gehabt. Eine Steintreppe führte hinunter in die Dunkelheit. Ein Geruch nach Moder und Verwesung stieg aus der Tiefe nach oben und hieß sie willkommen.
»Na, los«, zischte Sherlock. »Komm schon.«
Und dann stiegen die beiden die Stufen in das Innere des Forts hinab. Die Dunkelheit, die sie plötzlich umgab, kam Sherlock zunächst so vor, als wären sie in die schw�
�rzesten Abgründe der Hölle geraten. Aber nach einiger Zeit hatten sich seine Augen daran gewöhnt, und er konnte matt scheinende Öllaternen ausmachen, die in regelmäßigen Abständen an der Wand angebracht waren. Sie befanden sich in einem kurzen Gang und bewegten sich auf einen anscheinend größeren Raum zu, der vom trüben orangefarbenen Licht der Lampen spärlich erleuchtet wurde.
Sherlock und Matty schlichen sich weiter bis zu der Stelle, wo die Wände des Ganges sich plötzlich weiteten. Der kreisförmige Raum vor ihnen nahm vermutlich einen Großteil der Ebene ein, auf der sie sich gerade befanden. Etliche, in wenigen Metern Abstand zueinander stehende Steinsäulen gaben der Decke über ihnen Halt. Aber was Sherlocks Herz schneller schlagen ließ, waren die unzähligen Bienenstöcke, die in einem gleichmäßigen Muster auf den Steinplatten aufgestellt worden waren. Es mussten Hunderte sein. Mit Zehntausenden von Bienen in jedem Stock. Was bedeutete, dass ihn nur wenige Meter von etwa einer Million aggressiver Bienen trennten. Er spürte, wie aufgrund ihrer Nähe seine Haut unwillkürlich zu jucken begann. Es war fast so, als würden Tausende dieser Tiere über Schultern und Rückgrat hinabkrabbeln. Ob Maupertuis’ großer Verschwörungsplan nun überall in Großbritannien funktionieren würde oder nicht, die Konzentration von all diesen Bienen an einer Stelle war definitiv eine tödliche Bedrohung für jeden, der sich hier aufhielt.
»Bitte sag mir, dass wir die nicht alle die Treppen raufschleppen und über die Kante schmeißen«, flüsterte Matthew.
»Wir schleppen die nicht alle die Treppen rauf und schmeißen sie über die Kante«, bestätigte Sherlock.
»Und was tun wir dann?«
»Ich bin nicht sicher.«
»Was meinst du damit, du bist nicht sicher?«
»Ich meine, ich habe das Ganze noch nicht ganz bis zu Ende durchgedacht. Ist ja auch alles ein bisschen schnell gegangen.«
Matthew schnaubte. »Auf dem Fischkutter hast du jede Menge Zeit gehabt.«
»Da hab ich an was anderes gedacht.«
»Ja, is klar«, sagte Matty. »Das hab ich gemerkt.« Er schwieg eine Weile. »Wir könnten sie abfackeln«, schlug er vor.
Sherlock schüttelte den Kopf. »Sieh dir die Abstände an. Wir könnten vielleicht einen oder zwei in Brand stecken, aber die Flammen würden nicht auf die anderen Stöcke übergreifen, und die Bienen würden uns wahrscheinlich erwischen.«
Matty sah sich um. »Was fressen sie?«, fragte er.
»Was meinst du damit?«
»Wir sind auf dem Englischen Kanal. Hier draußen gibt’s keine Blumen, und ich glaube nicht, dass sie auf Seegras abfahren. Also, was fressen Bienen?«
Sherlock dachte einen Augenblick lang nach. »Das ist eine gute Frage. Ich weiß es nicht.« Er blickte sich um. »Schauen wir uns doch mal um, für den Fall, dass sich hier was Interessantes finden lässt. Wir trennen uns und treffen uns auf der anderen Seite wieder. Lass dich nicht schnappen.«
Matty wandte sich nach links, während Sherlock nach rechts ging. Nach wenigen Metern drehte er sich noch einmal nach seinem Freund um, doch die Dunkelheit hatte Matty bereits verschluckt.
Sherlock setzte seinen Weg fort. Die dichten Reihen von Bienenstöcken, an denen er vorbeikam, bildeten ein eintöniges Muster, das fast schon hypnotisch wirkte. Es waren keine Bienen zu sehen. Vielleicht sorgte die Dunkelheit dafür, dass sie in ihren Stöcken blieben. Aber er bildete sich ein, sie hören zu können: ein tiefes, einschläferndes Summen, das fast an der Grenze zur Wahrnehmbarkeit war. Gleich darauf wurde er auf einige Holzgestelle aufmerksam, die an verschiedenen Stellen des riesigen höhlenartigen Raumes aufgestellt worden waren und aussahen wie eine Künstlerstaffelei. Auf einigen hatte man Holztabletts abgestellt, während andere leer waren. Sherlock fragte sich, wo er solche Tabletts schon einmal gesehen hatte. Irgendetwas daran kam ihm bekannt vor.
Dann tauchte eine groteske Gestalt aus der Dunkelheit auf. Der Mann steckte in einem Overall aus Leinen und trug eine Maske aus Musselinstoff auf dem Kopf, die mit Hilfe von Bambusholzstreben vom Gesicht abgehalten wurde. Er stand über eine große Kiste gebeugt. Eine von vielen, die – wie Sherlock nun sehen konnte – nebeneinander an dieser Stelle der gekrümmten Außenmauer abgestellt worden waren. Er richtete sich wieder auf und hielt ein Tablett in den Händen, das genauso aussah wie diejenigen, die man auf den überall verstreuten staffeleiartigen Holzgestellen abgestellt hatte. Während Sherlock ihn beobachtete, wie er auf die Bienenstöcke zuging, meinte er, feinen Pulverstaub von dem Tablett aufsteigen zu sehen.
Als der Mann im Bienenanzug das Tablett unten in das Gestell eines Bienenstocks schob, fiel es Sherlock wie Schuppen von den Augen. Er hatte beobachtet, wie unweit von Farnham Imker in den gleichen Anzügen auf dem Anwesen des Barons ähnliche Tabletts unter den Bienenstöcken herausgezogen hatten. Und dann ergab alles plötzlich einen Sinn: die Tabletts, der pulvrige Staub, der von ihnen aufstieg, das Eis, das dieser Schläger Denny aus dem Zug in Farnham ausgeladen hatte, und schließlich Mattys Frage, was Bienen fraßen, wenn es keine Blumen gab.
Es war alles so perfekt logisch! Bienen sammelten Pollen von Blüten, den sie dann an den feinen Härchen an ihren Beinen aufbewahrten, bis sie wieder zurück in ihren Stock kamen und den Pollen als Nahrung nutzten. Man platziere ein Tablett unter einen Bienenstock und konstruiere so etwas wie ein »Tor«, durch das die Bienen müssen, um in den Stock zu kommen, und das so beschaffen ist, dass dabei immer ein wenig Pollen abgestreift wird, der dann in das Tablett darunter fällt. Dann lagere man die Tabletts auf Eis, so dass man den Pollen so lange aufbewahren kann, bis er gebraucht wird. Zum Beispiel, wenn man die Bienen irgendwohin bringt, wo es keine Blumen in der Umgebung gibt. Schließlich verteile man die Tabletts gleichmäßig um die Bienenstöcke herum, damit die Tiere sich daraus mit Pollen versorgen können, wobei sie natürlich nicht einmal merken, dass sie den Pollen bereits zum zweiten Mal einsammeln.
Die Gedanken an Farnham und den Bahnhof weckten eine weitere Erinnerung: Es hatte mit irgendetwas zu tun, das Matty ihm mal erzählt hatte. Etwas über Pulver. Über Bäckereien. Er wühlte verzweifelt in seinem Gedächtnis, um auf den richtigen Begriff zu kommen.
Ja, das war’s. PULVER! MEHL! Matty hatte ein Feuer erwähnt, das in einer Bäckerei ausgebrochen war, in der er mal gearbeitet hatte. Er hatte gesagt, dass ein Pulver, wie zum Beispiel Mehl, hoch explosiv war, wenn viele Teilchen davon in der Luft herumschwebten. Fing ein Mehlkörnchen Feuer, würde sich dieses von Mehlkörnchen zu Mehlkörnchen schneller ausbreiten, als ein Mensch davor wegrennen konnte. Und wenn das bei Mehl funktionierte, könnte es auch mit Pollen klappen.
»Ein Penny für deine Gedanken«, sagte eine Stimme hinter ihm.
Schon bevor Sherlock sich umdrehte, war ihm klar, wen er sehen würde.
Vor ihm stand, noch halb verborgen im Schatten, MrSurd, der treue Diener von Baron Maupertuis. Der Lederriemen seiner Peitsche baumelte locker von seiner Hand herab, und das Ende hatte sich um seine Füße geringelt.
»Schon gut«, sagte Surd und kam auf Sherlock zu. »Wenn der Baron wissen will, was in deinem Kopf ist, werd ich ihm den einfach geben, damit er selbst darin herumwühlen und es rausfinden kann.«
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Sherlock wich zur Seite, und MrSurd folgte der Bewegung. Die Metallspitze der Peitsche schrammte über den Boden, als er sich auf Sherlock zubewegte.
Surds Gesicht war eine Maske höflicher Gleichgültigkeit, aber die Narben, die sich kreuz und quer über seine Kopfhaut zogen, glühten rot vor Wut.
»Hat der Baron Ihnen die Hölle heiß gemacht?«, spottete Sherlock. »Dass Sie uns einfach so haben entkommen lassen, wird Ihrem Ruf nicht gerade gut bekommen sein. Ich wette mal, dass der Baron nutzlose Diener ausrangiert, wie andere ein abgebranntes Streichholz wegwerfen.«
Surds Gesicht blieb ausdruckslos. Stattdessen vollführte seine Hand eine kurze ruckartige Bewegung und die Peitschenzunge kam auf Sherlock zugeschnellt. Nur einen Sekundenbruchteil, bevor die Metallspitze ihm das Ohr abgetrennt hätte, warf er den Kopf zur Seite.
»Das ist ein wirklich netter Zirkustrick. Aber natürlich gibt’s in der Hinsicht jede Menge bessere«, fuhr Sherlock fort
und gab sein Bestes, damit seine Stimme nicht zitterte und seine Angst verriet.
»Vielleicht könnte Maupertuis das nächste Mal ja einen Messerwerfer anheuern.«
Wieder schnellte die Peitsche auf ihn zu. Mit einem Knall, der ihn für kurze Zeit taub machte, sauste die Spitze an seinem linken Ohr vorbei. Zunächst dachte er, sie hätte wieder ihr Ziel verfehlt. Aber die warmen Blutspritzer, die er plötzlich auf seinem Hals verspürte, und der zunehmende beißende Schmerz an der Kopfseite ließen darauf schließen, dass die Metallspitze ihn getroffen hatte.
Obwohl der Schmerz nicht ganz so schlimm war – jedenfalls noch nicht –, bewegte er sich taumelnd zur Seite und hielt sich die Hand ans Ohr. Sherlock wollte, dass sie ihre Positionen wechselten, und er war noch nicht ganz da, wo er hinwollte.
»Jede höhnische Bemerkung von dir ist gleichbedeutend mit einem weiteren Streifen Fleisch, den ich dir vom Gesicht schäle«, erklärte Surd gelassen. »Du wirst darum betteln, dass ich dich umbringe. Und ich werde nur lachen. Einfach nur lachen.«
»Lachen Sie ruhig, solange Sie noch können«, erwiderte Sherlock. »Vielleicht kann ich den Baron überreden, mich an Ihrer Stelle einzustellen. Zumindest habe ich bewiesen, dass ich kompetenter bin als Sie.«
»Ich werde dich gerade so lange am Leben lassen, dass das Mädchen noch mitbekommt, was ich mit dir gemacht habe«, fuhr Surd fort, als hätte Sherlock nichts gesagt. »Sie wird es nicht ertragen, dich anzusehen. Sie wird schreien bei deinem Anblick. Wie wird dir das gefallen, Junge? Wie wird dir das gefallen?«
»Sie sind nicht auf den Mund gefallen«, kommentierte Sherlock ironisch. Er machte einen weiteren Schritt zur Seite, und Surd folgte seiner Bewegung.
Die Holzkisten mit den Bienenpollentabletts befanden sich jetzt genau hinter ihm. Er griff mit seiner rechten Hand nach hinten. Tastend glitten seine Finger zunächst über ein Tablett, bis sie sich irgendwo fest um dessen Kante schlossen. Er spürte die Kälte, die vom darunterliegenden Eis ausging.