Die fröhliche Wissenschaft (German Edition)

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Die fröhliche Wissenschaft (German Edition) Page 7

by Friedrich Wilhelm Nietzsche


  46.

  Unser Erstaunen. – Es liegt ein tiefes und gründliches Glück darin, dass die Wissenschaft Dinge ermittelt, die Standhalten und die immer wieder den Grund zu neuen Ermittelungen abgeben: – es könnte ja anders sein! Ja, wir sind so sehr von all der Unsicherheit und Phantasterei unserer Urtheile und von dem ewigen Wandel aller menschlichen Gesetze und Begriffe überzeugt, dass es uns eigentlich ein Erstaunen macht, wie sehr die Ergebnisse der Wissenschaft Stand halten! Früher wusste man Nichts von dieser Wandelbarkeit alles Menschlichen, die Sitte der Sittlichkeit hielt den Glauben aufrecht, dass das ganze innere Leben des Menschen mit ewigen Klammern an die eherne Nothwendigkeit geheftet sei: vielleicht empfand man damals eine ähnliche Wollust des Erstaunens, wenn man sich Märchen und Feengeschichten erzählen liess. Das Wunderbare that jenen Menschen so wohl, die der Regel und der Ewigkeit mitunter wohl müde werden mochten. Einmal den Boden verlieren! Schweben! Irren! Toll sein! – das gehörte zum Paradies und zur Schwelgerei früherer Zeiten: während unsere Glückseligkeit der des Schiffbrüchigen gleicht, der an's Land gestiegen ist und mit beiden Füssen sich auf die alte feste Erde stellt – staunend, dass sie nicht schwankt.

  47.

  Von der Unterdrückung der Leidenschaften. – Wenn man sich anhaltend den Ausdruck der Leidenschaften verbietet, wie als etwas den "Gemeinen", den gröberen, bürgerlichen, bäuerlichen Naturen zu Ueberlassendes, – also nicht die Leidenschaften selber unterdrücken will, sondern nur ihre Sprache und Gebärde: so erreicht man nichtsdestoweniger eben Das mit, was man nicht will: die Unterdrückung der Leidenschaften selber, mindestens ihre Schwächung und Veränderung: – wie diess zum belehrendsten Beispiele der Hof Ludwig's des Vierzehnten und Alles, was von ihm abhängig war, erlebt hat. Das Zeitalter darauf, erzogen in der Unterdrückung des Ausdrucks, hatte die Leidenschaften selber nicht mehr und ein anmuthiges, flaches, spielendes Wesen an ihrer Stelle, – ein Zeitalter, das mit der Unfähigkeit behaftet war, unartig zu sein: sodass selbst eine Beleidigung nicht anders als mit verbindlichen Worten angenommen und zurückgegeben wurde. Vielleicht giebt unsere Gegenwart das merkwürdigste Gegenstück dazu ab: ich sehe überall, im Leben und auf dem Theater, und nicht am wenigsten in Allem, was geschrieben wird, das Wohlbehagen an allen gröberen Ausbrüchen und Gebärden der Leidenschaft: es wird jetzt eine gewisse Convention der Leidenschaftlichkeit verlangt, – nur nicht die Leidenschaft selber! Trotzdem wird man sie damit zuletzt erreichen, und unsere Nachkommen werden eine ächte Wildheit haben und nicht nur eine Wildheit und Ungebärdigkeit der Formen.

  48.

  Kenntniss der Noth. – Vielleicht werden die Menschen und Zeiten durch Nichts so sehr von einander geschieden, als durch den verschiedenen Grad von Kenntniss der Noth, den sie haben: Noth der Seele wie des Leibes. In Bezug auf letztere sind wir jetzigen vielleicht allesammt, trotz unserer Gebrechen und Gebrechlichkeiten, aus Mangel an reicher Selbst-Erfahrung Stümper und Phantasten zugleich: im Vergleich zu einem Zeitalter der Furcht – dem längsten aller Zeitalter –, wo der Einzelne sich selber gegen Gewalt zu schützen hatte und um dieses Zieles willen selber Gewaltmensch sein musste. Damals machte ein Mann seine reiche Schule körperlicher Qualen und Entbehrungen durch und begriff selbst in einer gewissen Grausamkeit gegen sich, in einer freiwilligen Uebung des Schmerzes, ein ihm nothwendiges Mittel seiner Erhaltung; damals erzog man seine Umgebung zum Ertragen des Schmerzes, damals fügte man gern Schmerz zu und sah das Furchtbarste dieser Art über Andere ergehen, ohne ein anderes Gefühl, als das der eigenen Sicherheit. Was die Noth der Seele aber betrifft, so sehe ich mir jetzt jeden Menschen darauf an, ob er sie aus Erfahrung oder Beschreibung kennt; ob er diese Kenntniss zu heucheln doch noch für nöthig hält, etwa als ein Zeichen der feineren Bildung, oder ob er überhaupt an grosse Seelenschmerzen im Grunde seiner Seele nicht glaubt und es ihm bei Nennung derselben ähnlich ergeht, wie bei Nennung grosser körperlicher Erduldungen: wobei ihm seine Zahn- und Magenschmerzen einfallen. So aber scheint es mir bei den Meisten jetzt zu stehen. Aus der allgemeinen Ungeübtheit im Schmerz beiderlei Gestalt und einer gewissen Seltenheit des Anblicks eines Leidenden ergiebt sich nun eine wichtige Folge: man hasst jetzt den Schmerz viel mehr, als frühere Menschen, und redet ihm viel übler nach als je, ja, man findet schon das Vorhandensein des Schmerzes als eines Gedankens kaum erträglich und macht dem gesammten Dasein eine Gewissenssache und einen Vorwurf daraus. Das Auftauchen pessimistischer Philosophien ist durchaus nicht das Merkmal grosser, furchtbarer Nothstände; sondern diese Fragezeichen am Werthe alles Lebens werden in Zeiten gemacht, wo die Verfeinerung und Erleichterung des Daseins bereits die unvermeidlichen Mückenstiche der Seele und des Leibes als gar zu blutig und bösartig befindet und in der Armuth an wirklichen Schmerz-Erfahrungen am liebsten schon quälende allgemeine Vorstellungen als das Leid höchster Gattung erscheinen lassen möchte. – Es gäbe schon ein Recept gegen pessimistische Philosophien und die übergrosse Empfindlichkeit, welche mir die eigentliche "Noth der Gegenwart" zu sein scheint: – aber vielleicht klingt diess Recept schon zu grausam und würde selber unter die Anzeichen gerechnet werden, auf Grund deren hin man jetzt urtheilt: "Das Dasein ist etwas Böses". Nun! Das Recept gegen "die Noth" lautet: Noth.

  49.

  Grossmuth und Verwandtes. – Jene paradoxen Erscheinungen, wie die plötzliche Kälte im Benehmen des Gemüthsmenschen, wie der Humor des Melancholikers, wie vor Allem die Grossmuth, als eine plötzliche Verzichtleistung auf Rache oder Befriedigung des Neides – treten an Menschen auf, in denen eine mächtige innere Schleuderkraft ist, an Menschen der plötzlichen Sättigung und des plötzlichen Ekels. Ihre Befriedigungen sind so schnell und so stark, dass diesen sofort Ueberdruss und Widerwille und eine Flucht in den entgegengesetzten Geschmack auf dem Fusse folgt: in diesem Gegensatze löst sich der Krampf der Empfindung aus, bei Diesem durch plötzliche Kälte, bei jenem durch Gelächter, bei einem Dritten durch Thränen und Selbstaufopferung. Mir erscheint der Grossmüthige – wenigstens jene Art des Grossmüthigen, die immer am meisten Eindruck gemacht hat – als ein Mensch des äussersten Rachedurstes, dem eine Befriedigung sich in der Nähe zeigt und der sie so reichlich, gründlich und bis zum letzten Tropfen schon in der Vorstellung austrinkt, dass ein ungeheurer schneller Ekel dieser schnellen Ausschweifung folgt, – er erhebt sich nunmehr "über sich", wie man sagt, und verzeiht seinem Feinde, ja segnet und ehrt ihn. Mit dieser Vergewaltigung seiner selber, mit dieser Verhöhnung seines eben noch so mächtigen Rachetriebes giebt er aber nur dem neuen Triebe nach, der eben jetzt in ihm mächtig geworden ist (dem Ekel), und thut diess ebenso ungeduldig und ausschweifend wie er kurz vorher die Freude an der Rache mit der Phantasie vorwegnahm und gleichsam ausschöpfte. Es ist in der Grossmuth der selbe Grad von Egoismus wie in der Rache, aber eine andere Qualität des Egoismus.

  50.

  Das Argument der Vereinsamung. – Der Vorwurf des Gewissens ist auch beim Gewissenhaftesten schwach gegen das Gefühl: "Diess und jenes ist wider die gute Sitte deiner Gesellschaft." Ein kalter Blick, ein verzogener Mund von Seiten Derer, unter denen und für die man erzogen ist, wird auch vom Stärksten noch gefürchtet. Was wird da eigentlich gefürchtet? Die Vereinsamung! als das Argument, welches auch die besten Argumente für eine Person oder Sache niederschlägt! – So redet der Heerden-Instinct aus uns.

  51.

  Wahrheitssinn. – Ich lobe mir eine jede Skepsis, auf welche mir erlaubt ist zu antworten: "Versuchen wir's!" Aber ich mag von allen Dingen und allen Fragen, welche das Experiment nicht zulassen, Nichts mehr hören. Diess ist die Grenze meines "Wahrheitssinnes": denn dort hat die Tapferkeit ihr Recht verloren.

  52.

  Was Andere von uns wissen. – Das, was wir von uns selber wissen und im Gedächtniss haben, ist für das Glück unseres Lebens nicht so entscheidend, wie man glaubt. Eines Tages stürzt Das, was Andere von uns wissen (oder zu wissen meinen) über uns her – und jetzt erkennen wir, dass es das Mächtigere ist. Man wird mit seinem schlechten Gewissen leichter fertig, als mit seinem schlechten Rufe.

  53.

  Wo das Gute beginnt. – Wo die geringe Seh
kraft des Auges den bösen Trieb wegen seiner Verfeinerung nicht mehr als solchen zu sehen vermag, da setzt der Mensch das Reich des Guten an, und die Empfindung, nunmehr in's Reich des Guten übergetreten zu sein, bringt alle die Triebe in Miterregung, welche durch die bösen Triebe bedroht und eingeschränkt waren, wie das Gefühl der Sicherheit, des Behagens, des Wohlwollens. Also: je stumpfer das Auge, desto weiter reicht das Gute! Daher die ewige Heiterkeit des Volkes und der Kinder! Daher die Düsterkeit und der dem schlechten Gewissen verwandte Gram der grossen Denker!

  54.

  Das Bewusstsein vom Scheine. – Wie wundervoll und neu und zugleich wie schauerlich und ironisch fühle ich mich mit meiner Erkenntniss zum gesammten Dasein gestellt! Ich habe für mich entdeckt, dass die alte Mensch- und Thierheit, ja die gesammte Urzeit und Vergangenheit alles empfindenden Seins in mir fortdichtet, fortliebt, forthasst, fortschliesst, – ich bin plötzlich mitten in diesem Traume erwacht, aber nur zum Bewusstsein, dass ich eben träume und dass ich weiterträumen muss, um nicht zu Grunde zu gehen: wie der Nachtwandler weiterträumen muss, um nicht hinabzustürzen. Was ist mir jetzt "Schein"! Wahrlich nicht der Gegensatz irgend eines Wesens, – was weiss ich von irgend welchem Wesen auszusagen, als eben nur die Prädicate seines Scheines! Wahrlich nicht eine todte Maske, die man einem unbekannten X aufsetzen und auch wohl abnehmen könnte! Schein ist für mich das Wirkende und Lebende selber, das soweit in seiner Selbstverspottung geht, mich fühlen zu lassen, dass hier Schein und Irrlicht und Geistertanz und nichts Mehr ist, – dass unter allen diesen Träumenden auch ich, der "Erkennende", meinen Tanz tanze, dass der Erkennende ein Mittel ist, den irdischen Tanz in die Länge zu ziehen und insofern zu den Festordnern des Daseins gehört, und dass die erhabene Consequenz und Verbundenheit aller Erkenntnisse vielleicht das höchste Mittel ist und sein wird, die Allgemeinheit der Träumerei und die Allverständlichkeit aller dieser Träumenden unter einander und eben damit die Dauer des Traumes aufrecht zu erhalten.

  55.

  Der letzte Edelsinn. – Was macht denn "edel"? Gewiss nicht, dass man Opfer bringt; auch der rasend Wolllüstige bringt Opfer. Gewiss nicht, dass man überhaupt einer Leidenschaft folgt; es giebt verächtliche Leidenschaften. Gewiss nicht, dass man für Andere Etwas thut und ohne Selbstsucht: vielleicht ist die Consequenz der Selbstsucht gerade bei dem Edelsten am grössten. – Sondern dass die Leidenschaft, die den Edeln befällt, eine Sonderheit ist, ohne dass er um diese Sonderheit weiss: der Gebrauch eines seltenen und singulären Maassstabes und beinahe eine Verrücktheit: das Gefühl der Hitze in Dingen, welche sich für alle Anderen kalt anfühlen: ein Errathen von Werthen, für die die Wage noch nicht erfunden ist: ein Opferbringen auf Altären, die einem unbekannten Gotte geweiht sind: eine Tapferkeit ohne den Willen zur Ehre: eine Selbstgenügsamkeit, welche Ueberfluss hat und an Menschen und Dinge mittheilt. Bisher war es also das Seltene und die Unwissenheit um diess Seltensein, was edel machte. Dabei erwäge man aber, dass durch diese Richtschnur alles Gewöhnte, Nächste und Unentbehrliche, kurz, das am meisten Arterhaltende, und überhaupt die Regel in der bisherigen Menschheit, unbillig beurtheilt und im Ganzen verleumdet worden ist, zu Gunsten der Ausnahmen. Der Anwalt der Regel werden – das könnte vielleicht die letzte Form und Feinheit sein, in welcher der Edelsinn auf Erden sich offenbart.

  56.

  Die Begierde nach Leiden. – Denke ich an die Begierde, Etwas zu thun, wie sie die Millionen junger Europäer fortwährend kitzelt und stachelt, welche alle die Langeweile und sich selber nicht ertragen können, – so begreife ich, dass in ihnen eine Begierde, Etwas zu leiden, sein muss, um aus ihrem Leiden einen probablen Grund zum Thun, zur That herzunehmen. Noth ist nöthig! Daher das Geschrei der Politiker, daher die vielen falschen, erdichteten, übertriebenen "Nothstände" aller möglichen Classen und die blinde Bereitwilligkeit, an sie zu glauben. Diese junge Welt verlangt, von Aussen her solle – nicht etwa das Glück – sondern das Unglück kommen oder sichtbar werden; und ihre Phantasie ist schon voraus geschäftig, ein Ungeheuer daraus zu formen, damit sie nachher mit einem Ungeheuer kämpfen könne. Fühlten diese Nothsüchtigen in sich die Kraft, von Innen her sich selber wohlzuthun, sich selber Etwas anzuthun, so würden sie auch verstehen, von Innen her sich eine eigene, selbsteigene Noth zu schaffen. Ihre Erfindungen könnten dann feiner sein und ihre Befriedigungen könnten wie gute Musik klingen: während sie jetzt die Welt mit ihrem Nothgeschrei und folglich gar zu oft erst mit dem Nothgefühle anfüllen! Sie verstehen mit sich Nichts anzufangen – und so malen sie das Unglück Anderer an die Wand: sie haben immer Andere nöthig! Und immer wieder andere Andere! – Verzeihung, meine Freunde, ich habe gewagt, mein Glück an die Wand zu malen.

  Zweites Buch

  57.

  An die Realisten. – Ihr nüchternen Menschen, die ihr euch gegen Leidenschaft und Phantasterei gewappnet fühlt und gerne einen Stolz und einen Zierath aus eurer Leere machen möchtet, ihr nennt euch Realisten und deutet an, so wie euch die Welt erscheine, so sei sie wirklich beschaffen: vor euch allein stehe die Wirklichkeit entschleiert, und ihr selber wäret vielleicht der beste Theil davon, – oh ihr geliebten Bilder von Sais! Aber seid nicht auch ihr in eurem entschleiertsten Zustande noch höchst leidenschaftliche und dunkle Wesen, verglichen mit den Fischen, und immer noch einem verliebten Künstler allzu ähnlich? – und was ist für einen verliebten Künstler "Wirklichkeit"! Immer noch tragt ihr die Schätzungen der Dinge mit euch herum, welche in den Leidenschaften und Verliebtheiten früherer Jahrhunderte ihren Ursprung haben! Immer noch ist eurer Nüchternheit eine geheime und unvertilgbare Trunkenheit einverleibt! Eure Liebe zur "Wirklichkeit" zum Beispiel – oh das ist eine alte uralte "Liebe"! In jeder Empfindung, in jedem Sinneseindruck ist ein Stück dieser alten Liebe: und ebenso hat irgend eine Phantasterei, ein Vorurtheil, eine Unvernunft, eine Unwissenheit, eine Furcht und was sonst noch Alles! daran gearbeitet und gewebt. Da jener Berg! Da jene Wolke! Was ist denn daran "wirklich"? Zieht einmal das Phantasma und die ganze menschliche Zuthat davon ab, ihr Nüchternen! Ja, wenn ihr das könntet! Wenn ihr eure Herkunft, Vergangenheit, Vorschule vergessen könntet, – eure gesammte Menschheit und Thierheit! Es giebt für uns keine "Wirklichkeit" – und auch für euch nicht, ihr Nüchternen –, wir sind einander lange nicht so fremd, als ihr meint, und vielleicht ist unser guter Wille, über die Trunkenheit hinauszukommen, ebenso achtbar als euer Glaube, der Trunkenheit überhaupt unfähig zu sein.

  58.

  Nur als Schaffende! – Diess hat mir die grösste Mühe gemacht und macht mir noch immerfort die grösste Mühe: einzusehen, dass unsäglich mehr daran liegt, wie die Dinge heissen, als was sie sind. Der Ruf, Name und Anschein, die Geltung, das übliche Maass und Gewicht eines Dinges – im Ursprunge zuallermeist ein Irrthum und eine Willkürlichkeit, den Dingen übergeworfen wie ein Kleid und seinem Wesen und selbst seiner Haut ganz fremd – ist durch den Glauben daran und sein Fortwachsen von Geschlecht zu Geschlecht dem Dinge allmählich gleichsam an- und eingewachsen und zu seinem Leibe selber geworden: der Schein von Anbeginn wird zuletzt fast immer zum Wesen und wirkt als Wesen! Was wäre das für ein Narr, der da meinte, es genüge, auf diesen Ursprung und diese Nebelhülle des Wahnes hinzuweisen, um die als wesenhaft geltende Welt, die sogenannte "Wirklichkeit", zu vernichten! Nur als Schaffende können wir vernichten! – Aber vergessen wir auch diess nicht: es genügt, neue Namen und Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten zu schaffen, um auf die Länge hin neue "Dinge" zu schaffen.

  59.

  Wir Künstler! – Wenn wir ein Weib lieben, so haben wir leicht einen Hass auf die Natur, aller der widerlichen Natürlichkeiten gedenkend, denen jedes Weib ausgesetzt ist; gerne denken wir überhaupt daran vorbei, aber wenn einmal unsere Seele diese Dinge streift, so zuckt sie ungeduldig und blickt, wie gesagt, verächtlich nach der Natur hin: – wir sind beleidigt, die Natur scheint in unsern Besitz einzugreifen und mit den ungeweihtesten Händen. Da macht man die Ohren zu gegen alle Physiologie und decretirt für sich insgeheim "ich will davon, dass der Mensch noch etwas Anderes ist, ausser Seele und Form, Nichts hören!" "Der Mensch unter der Haut" ist allen Lieb
enden ein Greuel und Ungedanke, eine Gottes- und Liebeslästerung. – Nun, so wie jetzt noch der Liebende empfindet, in Hinsicht der Natur und Natürlichkeit, so empfand ehedem jeder Verehrer Gottes und seiner "heiligen Allmacht": bei Allem, was von der Natur gesagt wurde, durch Astronomen, Geologen, Physiologen, Aerzte, sah er einen Eingriff in seinen köstlichsten Besitz und folglich einen Angriff, – und noch dazu eine Schamlosigkeit des Angreifenden! Das "Naturgesetz" klang ihm schon wie eine Verleumdung Gottes; im Grunde hätte er gar zu gerne alle Mechanik auf moralische Willens- und Willküracte zurückgeführt gesehn: – aber weil ihm Niemand diesen Dienst erweisen konnte, so verhehlte er sich die Natur und Mechanik, so gut er konnte und lebte im Traum. Oh diese Menschen von ehedem haben verstanden zu träumen und hatten nicht erst nöthig, einzuschlafen! – und auch wir Menschen von heute verstehen es noch viel zu gut, mit allem unseren guten Willen zum Wachsein und zum Tage! Es genügt, zu lieben, zu hassen, zu begehren, überhaupt zu empfinden, – sofort kommt der Geist und die Kraft des Traumes über uns, und wir steigen offenen Auges und kalt gegen alle Gefahr auf den gefährlichsten Wegen empor, hinauf auf die Dächer und Thürme der Phantasterei, und ohne allen Schwindel, wie geboren zum Klettern – wir Nachtwandler des Tages! Wir Künstler! Wir Verhehler der Natürlichkeit! Wir Mond- und Gottsüchtigen! Wir todtenstillen unermüdlichen Wanderer, auf Höhen, die wir nicht als Höhen sehen, sondern als unsere Ebenen, als unsere Sicherheiten!

 

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