Die fröhliche Wissenschaft (German Edition)

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Die fröhliche Wissenschaft (German Edition) Page 14

by Friedrich Wilhelm Nietzsche


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  Das auserwählte Volk. – Die Juden, die sich als das auserwählte Volk unter den Völkern fühlen, und zwar weil sie das moralische Genie unter den Völkern sind (vermöge der Fähigkeit, dass sie den Menschen in sich tiefer verachtet haben, als irgend ein Volk) – die Juden haben an ihrem göttlichen Monarchen und Heiligen einen ähnlichen Genuss wie der war, welchen der französische Adel an Ludwig dem Vierzehnten hatte. Dieser Adel hatte sich alle seine Macht und Selbstherrlichkeit nehmen lassen und war verächtlich geworden: um diess nicht zu fühlen, um diess vergessen zu können, bedurfte es eines königlichen Glanzes, einer königlichen Autorität und Machtfülle ohne Gleichen, zu der nur dem Adel der Zugang offen stand. Indem man gemäss diesem Vorrecht sich zur Höhe des Hofes erhob und von da aus blickend Alles unter sich, Alles verächtlich sah, kam man über alle Reizbarkeit des Gewissens hinaus. So thürmte man absichtlich den Thurm der königlichen Macht immer mehr in die Wolken hinein und setzte die letzten Bausteine der eigenen Macht daran.

  137.

  Im Gleichniss gesprochen. – Ein Jesus Christus war nur in einer jüdischen Landschaft möglich – ich meine in einer solchen, über der fortwährend die düstere und erhabene Gewitterwolke des zürnenden Jehovah hieng. Hier allein wurde das seltene plötzliche Hindurchleuchten eines einzelnen Sonnenstrahls durch die grauenhafte allgemeine und andauernde Tag-Nacht wie ein Wunder der "Liebe" empfunden, als der Strahl der unverdientesten "Gnade". Hier allein konnte Christus seinen Regenbogen und seine Himmelsleiter träumen, auf der Gott zu den Menschen hinabstieg; überall sonst galt das helle Wetter und die Sonne zu sehr als Regel und Alltäglichkeit.

  138.

  Der Irrthum Christi. – Der Stifter des Christenthums meinte, an Nichts litten die Menschen so sehr, als an ihren Sünden: – es war sein Irrthum, der Irrthum Dessen, der sich ohne Sünde fühlte, dem es hierin an Erfahrung gebrach! So füllte sich seine Seele mit jenem wundervollen phantastischen Erbarmen, das einer Noth galt, welche selbst bei seinem Volke, dem Erfinder der Sünde, selten eine grosse Noth war! – Aber die Christen haben es verstanden, ihrem Meister nachträglich Recht zu schaffen und seinen Irrthum zur "Wahrheit" zu heiligen.

  139.

  Farbe der Leidenschaften. – Solche Naturen, wie die des Apostel Paulus, haben für die Leidenschaften einen bösen Blick; sie lernen von ihnen nur das Schmutzige, Entstellende und Herzbrechende kennen, – ihr idealer Drang geht daher auf Vernichtung der Leidenschaften aus: im Göttlichen sehen sie die völlige Reinheit davon. Ganz anders, als Paulus und die Juden, haben die Griechen ihren idealen Drang gerade auf die Leidenschaften gewendet und diese geliebt, gehoben, vergoldet und vergöttlicht; offenbar fühlten sie sich in der Leidenschaft nicht nur glücklicher, sondern auch reiner und göttlicher, als sonst. – Und nun die Christen? Wollten sie hierin zu Juden werden? Sind sie es vielleicht geworden?

  140.

  Zu jüdisch. – Wenn Gott ein Gegenstand der Liebe werden wollte, so hätte er sich zuerst des Richtens und der Gerechtigkeit begeben müssen: – ein Richter, und selbst ein gnädiger Richter, ist kein Gegenstand der Liebe. Der Stifter des Christenthums empfand hierin nicht fein genug, – als Jude.

  141.

  Zu orientalisch. – Wie? Ein Gott, der die Menschen liebt, vorausgesetzt, dass sie an ihn glauben, und der fürchterliche Blicke und Drohungen gegen Den schleudert, der nicht an diese Liebe glaubt! Wie? eine verclausulirte Liebe als die Empfindung eines allmächtigen Gottes! Eine Liebe, die nicht einmal über das Gefühl der Ehre und der gereizten Rachsucht Herr geworden ist! Wie orientalisch ist das Alles! "Wenn ich dich liebe, was geht's dich an?" ist schon eine ausreichende Kritik des ganzen Christenthums.

  142.

  Räucherwerk. – Buddha sagt: "schmeichle deinem Wohlthäter nicht!" Man spreche diesen Spruch nach in einer christlichen Kirche: – er reinigt sofort die Luft von allem Christlichen.

  143.

  Grösster Nutzen des Polytheismus. – Dass der Einzelne sich sein eigenes Ideal aufstelle und aus ihm sein Gesetz, seine Freuden und seine Rechte ableite – das galt wohl bisher als die ungeheuerlichste aller menschlichen Verirrungen und als die Abgötterei an sich; in der That haben die Wenigen, die diess wagten, immer vor sich selber eine Apologie nöthig gehabt, und diese lautete gewöhnlich: "nicht ich! nicht ich! sondern ein Gott durch mich!" Die wundervolle Kunst und Kraft, Götter zu schaffen – der Polytheismus – war es, in der dieser Trieb sich entladen durfte, in der er sich reinigte, vervollkommnete, veredelte: denn ursprünglich war es ein gemeiner und unansehnlicher Trieb, verwandt dem Eigensinn, dem Ungehorsame und dem Neide. Diesem Triebe zum eigenen Ideale feind sein: das war ehemals das Gesetz jeder Sittlichkeit. Da gab es nur Eine Norm:, "der Mensch" – und jedes Volk glaubte diese Eine und letzte Norm zu haben. Aber über sich und ausser sich, in einer fernen Ueberwelt, durfte man eine Mehrzahl von Normen sehen: der eine Gott war nicht die Leugnung oder Lästerung des anderen Gottes! Hier erlaubte man sich zuerst Individuen, hier ehrte man zuerst das Recht von Individuen. Die Erfindung von Göttern, Heroen und Uebermenschen aller Art, sowie von Neben- und Untermenschen, von Zwergen, Feen, Centauren, Satyrn, Dämonen und Teufeln, war die unschätzbare Vorübung zur Rechtfertigung der Selbstsucht und Selbstherrlichkeit des Einzelnen: die Freiheit, welche man dem Gotte gegen die anderen Götter gewährte, gab man zuletzt sich selber gegen Gesetze und Sitten und Nachbarn. Der Monotheismus dagegen, diese starre Consequenz der Lehre von Einem Normalmenschen – also der Glaube an einen Normalgott, neben dem es nur noch falsche Lügengötter giebt – war vielleicht die grösste Gefahr der bisherigen Menschheit: da drohte ihr jener vorzeitige Stillstand, welchen, soweit wir sehen können, die meisten anderen Thiergattungen schon längst erreicht haben; als welche alle an Ein Normalthier und Ideal in ihrer Gattung glauben und die Sittlichkeit der Sitte sich endgültig in Fleisch und Blut übersetzt haben. Im Polytheismus lag die Freigeisterei und Vielgeisterei des Menschen vorgebildet: die Kraft, sich neue und eigene Augen zu schaffen und immer wieder neue und noch eigenere: sodass es für den Menschen allein unter allen Thieren keine ewigen Horizonte und Perspectiven giebt.

  144.

  Religionskriege. – Der grösste Fortschritt der Massen war bis jetzt der Religionskrieg: denn er beweist, dass die Masse angefangen hat, Begriffe mit Ehrfurcht zu behandeln. Religionskriege entstehen erst, wenn durch die feineren Streitigkeiten der Secten die allgemeine Vernunft verfeinert ist: sodass selbst der Pöbel spitzfindig wird und Kleinigkeiten wichtig nimmt, ja es für möglich hält, dass das "ewige Heil der Seele" an den kleinen Unterschieden der Begriffe hängt.

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  Gefahr der Vegetarianer. – Der vorwiegende ungeheure Reisgenuss treibt zur Anwendung von Opium und narkotischen Dingen, in gleicher Weise wie der vorwiegende ungeheure Kartoffelgenuss zu Branntwein treibt –: er treibt aber, in feinerer Nachwirkung, auch zu Denk- und Gefühlsweisen, die narkotisch wirken. Damit stimmt zusammen, dass die Förderer narkotischer Denk- und Gefühlsweisen, wie jene indischen Lehrer, gerade eine Diät preisen und zum Gesetz der Masse machen möchten, welche rein vegetabilisch ist: sie wollen so das Bedürfniss hervorrufen und mehren, welches sie zu befriedigen im Stande sind.

  146.

  Deutsche Hoffnungen. – Vergessen wir doch nicht, dass die Völkernamen gewöhnlich Schimpfnamen sind. Die Tartaren sind zum Beispiel ihrem Namen nach "die Hunde": so wurden sie von den Chinesen getauft. Die "Deutschen": das bedeutet ursprünglich "die Heiden": so nannten die Gothen nach ihrer Bekehrung die grosse Masse ihrer ungetauften Stammverwandten, nach Anleitung ihrer Uebersetzung der Septuaginta, in der die Heiden mit dem Worte bezeichnet werden, welches im Griechischen "die Völker" bedeutet: man sehe Ulfilas. – Es wäre immer noch möglich, dass die Deutschen aus ihrem alten Schimpfnamen sich nachträglich einen Ehrennamen machten, indem sie das erste unchristliche Volk Europa's würden: wozu in hohem Maasse angelegt zu sein Schopenhauer ihnen zur Ehre anrechnete. So käme das Werk Luther's zur Vollendung, der sie gelehrt hat, unrömisch zu sein und zu sprechen: "hier stehe ich! Ich kann nicht anders!"-

  147.

  Frage
und Antwort. – Was nehmen jetzt wilde Völkerschaften zuerst von den Europäern an? Branntwein und Christenthum, die europäischen Narcotica. – Und woran gehen sie am schnellsten zu Grunde? – An den europäischen Narcoticis.

  148.

  Wo die Reformationen entstehen. – Zur Zeit der grossen Kirchen-Verderbniss war in Deutschland die Kirche am wenigsten verdorben: desshalb entstand hier die Reformation, als das Zeichen, dass schon die Anfänge der Verderbniss unerträglich empfunden wurden. Verhältnissmässig war nämlich kein Volk jemals christlicher, als die Deutschen zur Zeit Luther's: ihre christliche Cultur war eben bereit, zu einer hundertfältigen Pracht der Blüthe auszuschlagen, – es fehlte nur noch Eine Nacht; aber diese brachte den Sturm, der Allem ein Ende machte.

  149.

  Misslingen der Reformationen. – Es spricht für die höhere Cultur der Griechen selbst in ziemlich frühen Zeiten, dass mehrere Male die Versuche, neue griechische Religionen zu gründen, gescheitert sind; es spricht dafür, dass es schon früh eine Menge verschiedenartiger Individuen in Griechenland gegeben haben muss, deren verschiedenartige Noth nicht mit einem einzigen Recepte des Glaubens und Hoffens abzuthun war. Pythagoras und Plato, vielleicht auch Empedokles, und bereits viel früher die orphischen Schwarmgeister, waren darauf aus, neue Religionen zu gründen; und die beiden Erstgenannten hatten so ächte Religionsstifter-Seelen und –Talente, dass man sich über ihr Misslingen nicht genug verwundern kann: sie brachten es aber nur zu Secten. Jedes Mal, wo die Reformation eines ganzen Volkes misslingt und nur Secten ihr Haupt emporheben, darf man schliessen, dass das Volk schon sehr vielartig in sich ist und sich von den groben Heerdeninstincten und der Sittlichkeit der Sitte loszulösen beginnt: ein bedeutungsvoller Schwebezustand, den man als Sittenverfall und Corruption zu verunglimpfen gewohnt ist: während er das Reifwerden des Eies und das nahe Zerbrechen der Eierschaale ankündigt. Dass Luther's Reformation im Norden gelang, ist ein Zeichen dafür, dass der Norden gegen den Süden Europa's zurückgeblieben war und noch ziemlich einartige und einfarbige Bedürfnisse kannte; und es hätte überhaupt keine Verchristlichung Europa's gegeben, wenn nicht die Cultur der alten Welt des Südens allmählich durch eine übermässige Hinzumischung von germanischem Barbarenblut barbarisirt und ihres Cultur-Uebergewichtes verlustig gegangen wäre. Je allgemeiner und unbedingter ein Einzelner oder der Gedanke eines Einzelnen wirken kann, um so gleichartiger und um so niedriger muss die Masse sein, auf die da gewirkt wird; während Gegenbestrebungen innere Gegenbedürfnisse verrathen, welche auch sich befriedigen und durchsetzen wollen. Umgekehrt darf man immer auf eine wirkliche Höhe der Cultur schliessen, wenn mächtige und herrschsüchtige Naturen es nur zu einer geringen und sectirerischen Wirkung bringen: diess gilt auch für die einzelnen Künste und die Gebiete der Erkenntniss. Wo geherrscht wird, da giebt es Massen: wo Massen sind, da giebt es ein Bedürfniss nach Sclaverei. Wo es Sclaverei giebt, da sind der Individuen nur wenige, und diese haben die Heerdeninstincte und das Gewissen gegen sich.

  150.

  Zur Kritik der Heiligen. – Muss man denn, um eine Tugend zu haben, sie gerade in ihrer brutalsten Gestalt haben wollen? – wie es die christlichen Heiligen wollten und nöthig hatten; als welche das Leben nur mit dem Gedanken ertrugen, dass beim Anblick ihrer Tugend einen jeden die Verachtung seiner selber anwandelte. Eine Tugend aber mit solcher Wirkung nenne ich brutal.

  151.

  Vom Ursprunge der Religion. – Das metaphysische Bedürfniss ist nicht der Ursprung der Religionen, wie Schopenhauer will, sondern nur ein Nachschössling derselben. Man hat sich unter der Herrschaft religiöser Gedanken an die Vorstellung einer "anderen (hinteren, unteren, oberen) Welt" gewöhnt und fühlt bei der Vernichtung des religiösen Wahns eine unbehagliche Leere und Entbehrung, – und nun wächst aus diesem Gefühle wieder eine "andere Welt" heraus, aber jetzt nur eine metaphysische und nicht mehr religiöse. Das aber, was in Urzeiten zur Annahme einer "anderen Welt" überhaupt führte, war nicht ein Trieb und Bedürfniss, sondern ein Irrthum in der Auslegung bestimmter Naturvorgänge, eine Verlegenheit des Intellects.

  152.

  Die grösste Veränderung. – Die Beleuchtung und die Farben aller Dinge haben sich verändert! Wir verstehen nicht mehr ganz, wie die alten Menschen das Nächste und Häufigste empfanden, – zum Beispiel den Tag und das Wachen: dadurch, dass die Alten an Träume glaubten, hatte das wache Leben andere Lichter. Und ebenso das ganze Leben, mit der Zurückstrahlung des Todes und seiner Bedeutung: unser "Tod" ist ein ganz anderer Tod. Alle Erlebnisse leuchteten anders, denn ein Gott glänzte aus ihnen; alle Entschlüsse und Aussichten auf die ferne Zukunft ebenfalls: denn man hatte Orakel und geheime Winke und glaubte an die Vorhersagung. "Wahrheit" wurde anders empfunden, denn der Wahnsinnige konnte ehemals als ihr Mundstück gelten, – was uns schaudern oder lachen macht. Jedes Unrecht wirkte anders auf das Gefühl: denn man fürchtete eine göttliche Vergeltung und nicht nur eine bürgerliche Strafe und Entehrung. Was war die Freude in der Zeit, als man an die Teufel und die Versucher glaubte! Was die Leidenschaft, wenn man die Dämonen in der Nähe lauern sah! Was die Philosophie, wenn der Zweifel als Versündigung der gefährlichsten Art gefühlt wurde, und zwar als ein Frevel an der ewigen Liebe, als Misstrauen gegen Alles, was gut, hoch, rein und erbarmend war! – Wir haben die Dinge neu gefärbt, wir malen immerfort an ihnen, – aber was vermögen wir einstweilen gegen die Farbenpracht jener alten Meisterin! – ich meine die alte Menschheit.

  153.

  Homo poeta. – "Ich selber, der ich höchst eigenhändig diese Tragödie der Tragödien gemacht habe, soweit sie fertig ist; ich, der ich den Knoten der Moral erst in's Dasein hineinknüpfte und so fest zog, dass nur ein Gott ihn lösen kann, – so verlangt es ja Horaz! – ich selber habe jetzt im vierten Act alle Götter umgebracht, – aus Moralität! Was soll nun aus dem fünften werden! Woher noch die tragische Lösung nehmen! – Muss ich anfangen, über eine komische Lösung nachzudenken?"

  154.

  Verschiedene Gefährlichkeit des Lebens. – Ihr wisst gar nicht, was ihr erlebt, ihr lauft wie betrunken durch's Leben und fallt ab und zu eine Treppe hinab. Aber, Dank eurer Trunkenheit, brecht ihr doch nicht dabei die Glieder: eure Muskeln sind zu matt und euer Kopf zu dunkel, als dass ihr die Steine dieser Treppe so hart fändet, wie wir Anderen! Für uns ist das Leben eine grössere Gefahr: wir sind von Glas – wehe, wenn wir uns stossen! Und Alles ist verloren, wenn wir fallen!

  155.

  Was uns fehlt. – Wir lieben die grosse Natur und haben sie entdeckt: das kommt daher, dass in unserem Kopfe die grossen Menschen fehlen. Umgekehrt die Griechen – ihr Naturgefühl ist ein anderes, als das unsrige.

  156.

  Der Einflussreichste. – Dass ein Mensch seiner ganzen Zeit Widerstand leistet, sie am Thore aufhält und zur Rechenschaft zieht, das muss Einfluss üben! Ob er es will, ist gleichgültig; dass er es kann, ist die Sache.

  157.

  Mentiri. – Gieb Acht! – er sinnt nach: sofort wird er eine Lüge bereit haben. Diess ist eine Stufe der Cultur, auf der ganze Völker gestanden haben. Man erwäge doch, was die Römer mit mentiri ausdrückten!

  158.

  Unbequeme Eigenschaft. – Alle Dinge tief finden – das ist eine unbequeme Eigenschaft: sie macht, dass man beständig seine Augen anstrengt und am Ende immer mehr findet, als man gewünscht hat.

  159.

  Jede Tugend hat ihre Zeit. – Wer jetzt unbeugsam ist, dem macht seine Redlichkeit oft Gewissensbisse: denn die Unbeugsamkeit ist die Tugend eines anderen Zeitalters, als: die Redlichkeit.

  160.

  Im Verkehre mit Tugenden. – Man kann auch gegen eine Tugend würdelos und schmeichlerisch sein.

  161.

  An die Liebhaber der Zeit. – Der entlaufene Priester und der entlassene Sträfling machen fortwährend Gesichter: was sie wollen, ist ein Gesicht ohne Vergangenheit. – Habt ihr aber schon Menschen gesehen, welche wissen, dass die Zukunft in ihrem Gesichte sich spiegelt, und welche so höflich gegen euch, ihr Liebhaber der "Zeit", sind, dass sie ein Gesicht, ohne Zukunft machen? –

  162.

  Eg
oismus. – Egoismus ist das perspectivische Gesetz der Empfindung, nach dem das Nächste gross und schwer erscheint: während nach der Ferne zu alle Dinge an Grösse und Gewicht abnehmen.

  163.

  Nach einem grossen Siege. – Das Beste an einem grossen Siege ist, dass er dem Sieger die Furcht vor einer Niederlage nimmt. "Warum nicht auch einmal unterliegen? – sagt er sich: ich bin jetzt reich genug dazu".

  164.

  Die Ruhesuchenden. – Ich erkenne die Geister, welche Ruhe suchen, an den vielen dunklen Gegenständen, welche sie um sich aufstellen: wer schlafen will, macht sein Zimmer dunkel oder kriecht in eine Höhle. – Ein Wink für Die, welche nicht wissen, was sie eigentlich am meisten suchen, und es wissen möchten!

 

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