Die fröhliche Wissenschaft (German Edition)

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Die fröhliche Wissenschaft (German Edition) Page 15

by Friedrich Wilhelm Nietzsche


  165.

  Vom Glücke der Entsagenden. – Wer sich Etwas gründlich und auf lange Zeit hin versagt, wird, bei einem zufälligen Wiederantreffen desselben, fast vermeinen, es entdeckt zu haben, – und welches Glück hat jeder Entdecker! Seien wir klüger, als die Schlangen, welche zu lange in der selben Sonne liegen.

  166.

  Immer in unserer Gesellschaft. – Alles, was meiner Art ist, in Natur und Geschichte, redet zu mir, lobt mich, treibt mich vorwärts, tröstet mich –: das Andere höre ich nicht oder vergesse es gleich. Wir sind stets nur in unserer Gesellschaft.

  167.

  Misanthropie und Liebe. – Man spricht nur dann davon, dass man der Menschen satt sei, wenn man sie nicht mehr verdauen kann und doch noch den Magen voll davon hat. Misanthropie ist die Folge einer allzubegehrlichen Menschenliebe und "Menschenfresserei", – aber, wer hiess dich auch Menschen zu verschlucken wie Austern, mein Prinz Hamlet?

  168.

  Von einem Kranken. – "Es steht schlecht um ihn!" – Woran fehlt es? – "Er leidet an der Begierde, gelobt zu werden, und findet keine Nahrung für sie." – Unbegreiflich! Alle Welt feiert ihn, und man trägt ihn nicht nur auf den Händen, sondern auch auf den Lippen! – "Ja, aber er hat ein schlechtes Gehör für das Lob. Lobt ihn ein Freund, so klingt es ihm, als ob dieser sich selber lobe; lobt ihn ein Feind, so klingt es ihm, als ob dieser dafür gelobt werden wolle; lobt ihn endlich einer der Uebrigen – es sind gar nicht so Viele übrig, so berühmt ist er! – so beleidigt es ihn, dass man ihn nicht zum Freund oder Feind haben wolle; er pflegt zu sagen: Was liegt mir an Einem, der gar noch gegen mich den Gerechten zu spielen vermag!"

  169.

  Offene Feinde. – Die Tapferkeit vor dem Feinde ist ein Ding für sich: damit kann man immer noch ein Feigling und ein unentschlossener Wirrkopf sein. So urtheilte Napoleon in Hinsicht auf den "tapfersten Menschen", der ihm bekannt sei, Murat: – woraus sich ergiebt, dass offene Feinde für manche Menschen unentbehrlich sind, falls sie sich zu ihrer Tugend, ihrer Männlichkeit und Heiterkeit erheben sollen.

  170.

  Mit der Menge. – Er läuft bisher mit der Menge und ist ihr Lobredner: aber eines Tages wird er ihr Gegner sein! Denn er folgt ihr im Glauben, dass seine Faulheit dabei ihre Rechnung fände: er hat noch nicht erfahren, dass die Menge nicht faul genug für ihn ist! dass sie immer vorwärts drängt! dass sie Niemandem erlaubt, stehen zu bleiben! – Und er bleibt so gern stehen!

  171.

  Ruhm. – Wenn die Dankbarkeit Vieler gegen Einen alle Scham wegwirft, so entsteht der Ruhm.

  172.

  Der Geschmacks-Verderber. – A.: "Du bist ein Geschmacks-Verderber, – so sagt man überall!"

  B.: "Sicherlich! Ich verderbe Jedermann den Geschmack an seiner Partei: – das verzeiht mir keine Partei."

  173.

  Tief sein und tief scheinen. – Wer sich tief weiss, bemüht sich um Klarheit; wer der Menge tief scheinen möchte, bemüht sich um Dunkelheit. Denn die Menge hält Alles für tief, dessen Grund sie nicht sehen kann: sie ist so furchtsam und geht so ungern in's Wasser.

  174.

  Abseits. – Der Parlamentarismus, das heisst die öffentliche Erlaubniss, zwischen fünf politischen Grundmeinungen wählen zu dürfen, schmeichelt sich bei jenen Vielen ein, welche gerne selbständig und individuell scheinen und für ihre Meinungen kämpfen möchten. Zuletzt aber ist es gleichgültig, ob der Heerde Eine Meinung befohlen oder fünf Meinungen gestattet sind. – Wer von den fünf öffentlichen Meinungen abweicht und bei Seite tritt, hat immer die ganze Heerde gegen sich.

  175.

  Von der Beredtsamkeit. – Wer besass bis jetzt die überzeugendste Beredtsamkeit? Der Trommelwirbel: und so lange die Könige diesen in der Gewalt haben, sind sie immer noch die besten Redner und Volksaufwiegler.

  176.

  Mitleiden. – Die armen regierenden Fürsten! Alle ihre Rechte verwandeln sich jetzt unversehens in Ansprüche, und all diese Ansprüche klingen bald wie Anmaassungen! Und wenn sie nur "Wir" sagen oder "mein Volk", so lächelt schon das alte boshafte Europa. Wahrhaftig, ein Oberceremonienmeister der modernen Welt würde wenig Ceremonien mit ihnen machen; vielleicht würde er decretiren: "les souverains rangent aux parvenus".

  177.

  Zum Erziehungswesen". – In Deutschland fehlt dem höheren Menschen ein grosses Erziehungsmittel: das Gelächter höherer Menschen; diese lachen nicht in Deutschland.

  178.

  Zur moralischen Aufklärung. – Man muss den Deutschen ihren Mephistopheles ausreden: und ihren Faust dazu. Es sind zwei moralische Vorurtheile gegen den Werth der Erkenntniss.

  179.

  Gedanken. – Gedanken sind die Schatten unserer Empfindungen, – immer dunkler, leerer, einfacher, als diese.

  180.

  Die gute Zeit der freien Geister. – Die freien Geister nehmen sich auch vor der Wissenschaft noch ihre Freiheiten – und einstweilen giebt man sie ihnen auch, – so lange die Kirche noch steht! – In so fern haben sie jetzt ihre gute Zeit.

  181.

  Folgen und Vorangehen. – A.: "Von den Beiden wird der Eine immer folgen, der Andere immer vorangehen, wohin sie auch das Schicksal führt. Und doch steht der Erstere über dem Anderen, nach seiner Tugend und seinem Geiste!" B.: "Und doch? Und doch? Das ist für die Anderen geredet; nicht für mich, nicht für uns! – Fit secundum regulam."

  182.

  In der Einsamkeit. – Wenn man allein lebt, so spricht man nicht zu laut, man schreibt auch nicht zu laut: denn man fürchtet den hohlen Widerhall – die Kritik der Nymphe Echo. – Und alle Stimmen klingen anders in der Einsamkeit!

  183.

  Die Musik der besten Zukunft. – Der erste Musiker würde mir der sein, welcher nur die Traurigkeit des tiefsten Glückes kennte, und sonst keine Traurigkeit: einen solchen gab es bisher nicht.

  184.

  Justiz. – Lieber sich bestehlen lassen, als Vogelscheuchen um sich haben – das ist mein Geschmack. Und es ist unter allen Umständen eine Sache des Geschmackes – und nicht mehr!

  185.

  Arm. – Er ist heute arm: aber nicht weil man ihm Alles genommen, sondern weil er Alles weggeworfen hat: – was macht es ihm? Er ist daran gewöhnt, zu finden. – Die Armen sind es, welche seine freiwillige Armuth missverstehen.

  186.

  Schlechtes Gewissen. – Alles, was er jetzt thut, ist brav und ordentlich – und doch hat er ein schlechtes Gewissen dabei. Denn das Ausserordentliche ist seine Aufgabe.

  187.

  Das Beleidigende im Vortrage. – Dieser Künstler beleidigt mich durch die Art, wie er seine Einfälle, seine sehr guten Einfälle vorträgt: so breit und nachdrücklich, und mit so groben Kunstgriffen der Ueberredung, als ob er zum Pöbel spräche. Wir sind immer nach einiger Zeit, die wir seiner Kunst schenkten, wie "in schlechter Gesellschaft".

  188.

  Arbeit. – Wie nah steht jetzt auch dem Müssigsten von uns die Arbeit und der Arbeiter! Die königliche Höflichkeit in dem Worte "wir Alle sind Arbeiter!" wäre noch unter Ludwig dem Vierzehnten ein Cynismus und eine Indecenz gewesen.

  189.

  Der Denker. – Er ist ein Denker: das heisst, er versteht sich darauf, die Dinge einfacher zu nehmen, als sie sind.

  190.

  Gegen die Lobenden. – A.: "Man wird nur von Seinesgleichen gelobt!" B.: "Ja! Und wer dich lobt, sagt zu dir: du bist Meinesgleichen!"

  191.

  Gegen manche Vertheidigung. – Die perfideste Art, einer Sache zu schaden, ist, sie absichtlich mit fehlerhaften Gründen vertheidigen.

  192.

  Die Gutmüthigen. – Was unterscheidet jene Gutmüthigen, denen Wohlwollen aus dem Gesichte strahlt, von den anderen Menschen? Sie fühlen sich in Gegenwart einer neuen Person wohl und sind schnell in sie verliebt; sie wollen ihr dafür wohl, ihr erstes Urtheil ist "sie gefällt mir". Bei ihnen folgt auf einander: Wunsch der Aneignung (sie machen sich wenig Scrupel über den Werth des Anderen), rasche Aneignung, Freude am Besitz und Handeln zu Gunsten des Besessenen.

  193.

  Kant's Witz. – Kant wollte auf eine "alle Welt" vor d
en Kopf stossende Art beweisen, dass "alle Welt" Recht habe: – das war der heimliche Witz dieser Seele. Er schrieb gegen die Gelehrten zu Gunsten des Volks-Vorurtheils, aber für Gelehrte und nicht für das Volk.

  194.

  Der "Offenherzige". – Jener Mensch handelt wahrscheinlich immer nach verschwiegenen Gründen: denn er trägt immer mittheilbare Gründe auf der Zunge und beinahe in der offnen Hand.

  195.

  Zum Lachen! – Seht hin! Seht hin! Er läuft von den Menschen weg –: diese aber folgen ihm nach, weil er vor ihnen herläuft, – so sehr sind sie Heerde!

  196.

  Grenze unseres Hörsinns. – Man hört nur die Fragen, auf welche man im Stande ist, eine Antwort zu finden.

  197.

  Darum Vorsicht! – Nichts theilen wir so gern an Andere mit, als das Siegel der Verschwiegenheit – sammt dem, was darunter ist.

  198.

  Verdruss des Stolzen. – Der Stolze hat selbst an Denen, welche ihn vorwärts bringen, seinen Verdruss: er blickt böse auf die Pferde seines Wagens.

  199.

  Freigebigkeit. – Freigebigkeit ist bei Reichen oft nur eine Art Schüchternheit.

  200.

  Lachen.- Lachen heisst: schadenfroh sein, aber mit gutem Gewissen.

  201.

  Im Beifall. – Im Beifall ist immer eine Art Lärm: selbst in dem Beifall, den wir uns selber zollen.

  202.

  Ein Verschwender. – Er hat noch nicht jene Armuth des Reichen, der seinen ganzen Schatz schon einmal überzählt hat, – er verschwendet seinen Geist mit der Unvernunft der Verschwenderin Natur.

  203.

  Hic niger est. – Er hat für gewöhnlich keinen Gedanken, – aber für die Ausnahme kommen ihm schlechte Gedanken.

  204.

  Die Bettler und die Höflichkeit. – "Man ist nicht unhöflich, wenn man mit einem Steine an die Thüre klopft, welcher der Klingelzug fehlt" – so denken Bettler und Nothleidende aller Art; aber Niemand giebt ihnen Recht.

  205.

  Bedürfniss. – Das Bedürfniss gilt als die Ursache der Entstehung: in Wahrheit ist es oft nur eine Wirkung des Entstandenen.

  206.

  Beim Regen. – Es regnet, und ich gedenke der armen Leute, die sich jetzt zusammen drängen, mit ihrer vielen Sorge und ohne Uebung, diese zu verbergen, also jeder bereit und guten Willens, dem Andern wehe zu thun und sich auch bei schlechtem Wetter eine erbärmliche Art von Wohlgefühl zu machen. – Das, nur das ist die Armuth der Armen!

  207.

  Der Neidbold. – Das ist ein Neidbold, – dem muss man keine Kinder wünschen; er würde auf sie neidisch sein, weil er nicht mehr Kind sein kann.

  208.

  Grosser Mann! – Daraus, dass einer "ein grosser Mann" ist, darf man noch nicht schliessen, dass er ein Mann ist; vielleicht ist es nur ein Knabe, oder ein Chamäleon aller Lebensalter, oder ein verhextes Weiblein.

  209.

  Eine Art, nach Gründen zu fragen. – Es giebt eine Art, uns nach unseren Gründen zu fragen, bei der wir nicht nur unsre besten Gründe vergessen, sondern auch einen Trotz und Widerwillen gegen Gründe überhaupt in uns erwachen fühlen: – eine sehr verdummende Art zu fragen und recht ein Kunstgriff tyrannischer Menschen!

  210.

  Maass im Fleisse. – Man muss den Fleiss seines Vaters nicht überbieten wollen – das macht krank.

  211.

  Geheime Feinde. – Einen geheimen Feind sich halten können – das ist ein Luxus, für den die Moralität selbst hochgesinnter Geister nicht reich genug zu sein pflegt.

  212.

  Sich nicht täuschen lassen. – Sein Geist hat schlechte Manieren, er ist hastig und stottert immer vor Ungeduld: so ahnt man kaum, in welcher langathmigen und breitbrüstigen Seele er zu Hause ist.

  213.

  Der Weg zum Glücke. – Ein Weiser fragte einen Narren, welches der Weg zum Glücke sei. Dieser antwortete ohne Verzug, wie Einer, der nach dem Wege zur nächsten Stadt gefragt wird: "Bewundere dich selbst und lebe auf der Gasse!". "Halt, rief der Weise, du verlangst zu viel, es genügt schon sich selber zu bewundern!" Der Narr entgegnete: "Aber wie kann man beständig bewundern, ohne beständig zu verachten?"

  214.

  Der Glaube macht selig. Die Tugend giebt nur Denen Glück und eine Art Seligkeit, welche den guten Glauben an ihre Tugend haben: – nicht aber jenen feineren Seelen, deren Tugend im tiefen Misstrauen gegen sich und alle Tugend besteht. Zuletzt macht also auch hier "der Glaube selig!" – und wohlgemerkt, nicht die Tugend!

  215.

  Ideal und Stoff. – Du hast da ein vornehmes Ideal vor Augen: aber bist du auch ein so vornehmer Stein, dass aus dir solch ein Götterbild gebildet werden dürfte? Und ohne diess – ist all deine Arbeit nicht eine barbarische Bildhauerei? Eine Lästerung deines Ideals?

  216.

  Gefahr in der Stimme. – Mit einer sehr lauten Stimme im Halse, ist man fast ausser Stande, feine Sachen zu denken.

  217.

  Ursache und Wirkung. – Vor der Wirkung glaubt man an andere Ursachen, als nach der Wirkung.

  218.

  Meine Antipathie. – Ich liebe die Menschen nicht, welche, um überhaupt Wirkung zu thun, zerplatzen müssen, gleich Bomben, und in deren Nähe man immer in Gefahr ist, plötzlich das Gehör – oder noch mehr zu verlieren.

  219.

  Zweck der Strafe. – Die Strafe hat den Zweck, Den zu bessern, welcher straft, – das ist die letzte Zuflucht für die Vertheidiger der Strafe.

  220.

  Opfer. – Ueber Opfer und Aufopferung denken die Opferthiere anders, als die Zuschauer: aber man hat sie von jeher nicht zu Worte kommen lassen.

  221.

  Schonung. – Väter und Söhne schonen sich viel mehr unter einander, als Mütter und Töchter.

  222.

  Dichter und Lügner. – Der Dichter sieht in dem Lügner seinen Milchbruder, dem er die Milch weggetrunken hat; so ist Jener elend geblieben und hat es nicht einmal bis zum guten Gewissen gebracht.

  223.

  Vicariat der Sinne. – "Man hat auch die Augen um zu hören – sagte ein alter Beichtvater, der taub wurde; und unter den Blinden ist Der König, wer die längsten Ohren hat."

  224.

  Kritik der Thiere. – Ich fürchte, die Thiere betrachten den Menschen als ein Wesen Ihresgleichen, das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Thierverstand verloren hat, – als das wahnwitzige Thier, als das lachende Thier, als das weinende Thier, als das unglückselige Thier.

  225.

  Die Natürlichen. – "Das Böse hat immer den grossen Effect für sich gehabt! Und die Natur ist böse! Seien wir also natürlich!" – so schliessen im Geheimen die grossen Effecthascher der Menschheit, welche man gar zu oft unter die grossen Menschen gerechnet hat.

  226.

  Die Misstrauischen und der Stil. – Wir sagen die stärksten Dinge schlicht, vorausgesetzt, dass Menschen um uns sind, die an unsere Stärke glauben: – eine solche Umgebung erzieht zur "Einfachheit des Stils". Die Misstrauischen reden emphatisch; die Misstrauischen machen emphatisch.

  227.

  Fehlschluss, Fehlschuss. – Er kann sich nicht beherrschen: und daraus schliesst jene Frau, es werde leicht sein, ihn zu beherrschen und wirft ihre Fangseile nach ihm aus; – die Arme, die in Kürze seine Sclavin sein wird.

  228.

  Gegen die Vermittelnden. – Wer zwischen zwei entschlossenen Denkern vermitteln will, ist gezeichnet als mittelmässig: er hat das Auge nicht dafür, das Einmalige zu sehen; die Aehnlichseherei und Gleichmacherei ist das Merkmal schwacher Augen.

  229.

  Trotz und Treue. – Er hält aus Trotz an einer Sache fest, die ihm durchsichtig geworden ist, – er nennt es aber "Treue".

  230.

  Mangel an Schweigsamkeit. – Sein ganzes Wesen überredet nicht – das kommt daher, dass er nie eine gute Handlung, die er that, verschwiegen hat.

  231.

  Die "Gründlichen". – Die Langsamen der Erkenntniss meinen, die Langsamkeit gehöre zur Erkenntniss.

 

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