Die fröhliche Wissenschaft (German Edition)

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Die fröhliche Wissenschaft (German Edition) Page 20

by Friedrich Wilhelm Nietzsche


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  Beifall. – Der Denker bedarf des Beifalls und des Händeklatschens nicht, vorausgesetzt, dass er seines eigenen Händeklatschens sicher ist: diess aber kann er nicht entbehren. Giebt es Menschen, welche auch dessen und überhaupt jeder Gattung von Beifall entrathen könnten? Ich zweifle: und selbst in Betreff der Weisesten sagt Tacitus, der kein Verleumder der Weisen ist, quando etiam sapientibus gloriae cupido novissima exuitur – das heisst bei ihm: niemals.

  331.

  Lieber taub, als betäubt. – Ehemals wollte man sich einen Ruf machen: das genügt jetzt nicht mehr, da der Markt zu gross geworden ist, – es muss ein Geschrei sein. Die Folge ist, dass auch gute Kehlen sich überschreien, und die besten Waaren von heiseren Stimmen ausgeboten werden; ohne Marktschreierei und Heiserkeit giebt es jetzt kein Genie mehr. – Das ist nun freilich ein böses Zeitalter für den Denker: er muss lernen, zwischen zwei Lärmen noch seine Stille zu finden, und sich so lange taub stellen, bis er es ist. So lange er diess noch nicht gelernt hat, ist er freilich in Gefahr, vor Ungeduld und Kopfschmerzen zu Grunde zu gehen.

  332.

  Die böse Stunde. – Es hat wohl für jeden Philosophen eine böse Stunde gegeben, wo er dachte: was liegt an mir, wenn man mir nicht auch meine schlechten Argumente glaubt! – Und dann flog irgend ein schadenfrohes Vögelchen an ihm vorüber und zwitscherte: Was liegt an dir? Was liegt an dir?"

  333.

  Was heisst erkennen. – Non ridere, non lugere, neque detestari, sed intelligere! sagt Spinoza, so schlicht und erhaben, wie es seine Art ist. Indessen: was ist diess intelligere im letzten Grunde Anderes, als die Form, in der uns eben jene Drei auf Einmal fühlbar werden? Ein Resultat aus den verschiedenen und sich widerstrebenden Trieben des Verlachen-, Beklagen-, Verwünschen-wollens? Bevor ein Erkennen möglich ist, muss jeder dieser Triebe erst seine einseitige Ansicht über das Ding oder Vorkommniss vorgebracht haben; hinterher entstand der Kampf dieser Einseitigkeiten und aus ihm bisweilen eine Mitte, eine Beruhigung, ein Rechtgeben nach allen drei Seiten, eine Art Gerechtigkeit und Vertrag: denn, vermöge der Gerechtigkeit und des Vertrags können alle diese Triebe sich im Dasein behaupten und mit einander Recht behalten. Wir, denen nur die letzten Versöhnungsscenen und Schluss-Abrechnungen dieses langen Processes zum Bewusstsein kommen, meinen demnach, intelligere sei etwas Versöhnliches, Gerechtes, Gutes, etwas wesentlich den Trieben Entgegengesetztes; während es nur ein gewisses Verhalten der Triebe zu einander ist. Die längsten Zeiten hindurch hat man bewusstes Denken als das Denken überhaupt betrachtet: jetzt erst dämmert uns die Wahrheit auf, dass der allergrösste Theil unseres geistigen Wirkens uns unbewusst, ungefühlt verläuft; ich meine aber, diese Triebe, die hier mit einander kämpfen, werden recht wohl verstehen, sich einander dabei fühlbar zu machen und wehe zu thun –: jene gewaltige plötzliche Erschöpfung, von der alle Denker heimgesucht werden, mag da ihren Ursprung haben (es ist die Erschöpfung auf dem Schlachtfelde). Ja, vielleicht giebt es in unserm kämpfenden Innern manches verborgene Heroenthum, aber gewiss nichts Göttliches, Ewig-in-sich-Ruhendes, wie Spinoza meinte. Das bewusste Denken, und namentlich das des Philosophen, ist die unkräftigste und desshalb auch die verhältnissmässig mildeste und ruhigste Art des Denkens: und so kann gerade der Philosoph am leichtesten über die Natur des Erkennens irre geführt werden.

  334.

  Man muss lieben lernen. – So geht es uns in der Musik: erst muss man eine Figur und Weise überhaupt hören lernen, heraushören, unterscheiden, als ein Leben für sich isoliren und abgrenzen; dann braucht es Mühe und guten Willen, sie zu ertragen, trotz ihrer Fremdheit, Geduld gegen ihren Blick und Ausdruck, Mildherzigkeit gegen das Wunderliche an ihr zu üben: – endlich kommt ein Augenblick, wo wir ihrer gewohnt sind, wo wir sie erwarten, wo wir ahnen, dass sie uns fehlen würde, wenn sie fehlte; und nun wirkt sie ihren Zwang und Zauber fort und fort und endet nicht eher, als bis wir ihre demüthigen und entzückten Liebhaber geworden sind, die nichts Besseres von der Welt mehr wollen, als sie und wieder sie. – So geht es uns aber nicht nur mit der Musik: gerade so haben wir alle Dinge, die wir jetzt lieben, lieben gelernt. Wir werden schließlich immer für unseren guten Willen, unsere Geduld, Billigkeit, Sanftmüthigkeit gegen das Fremde belohnt, indem das Fremde langsam seinen Schleier abwirft und sich als neue unsägliche Schönheit darstellt: – es ist sein Dank für unsere Gastfreundschaft. Auch wer sich selber liebt, wird es auf diesem Wege gelernt haben: es giebt keinen anderen Weg. Auch die Liebe muss man lernen.

  335.

  Hoch die Physik – Wie viel Menschen verstehen denn zu beobachten! Und unter den wenigen, die es verstehen, – wie viele beobachten sich selber! "Jeder ist sich selber der Fernste" – das wissen alle Nierenprüfer, zu ihrem Unbehagen; und der Spruch "erkenne dich selbst!" ist, im Munde eines Gottes und zu Menschen geredet, beinahe eine Bosheit. Dass es aber so verzweifelt mit der Selbstbeobachtung steht, dafür zeugt Nichts mehr, als die Art, wie über das Wesen einer moralischen Handlung fast von Jedermann gesprochen wird, diese schnelle, bereitwillige, überzeugte, redselige Art, mit ihrem Blick, ihrem Lächeln, ihrem gefälligen Eifer! Man scheint dir sagen zu wollen: "Aber, mein Lieber, das gerade ist meine Sache! Du wendest dich mit deiner Frage an Den, der antworten darf: ich bin zufällig in Nichts so weise, wie hierin. Also: wenn der Mensch urtheilt, "so ist es recht", wenn er darauf schliesst, "darum muss es geschehen!" und nun thut, was er dergestalt als recht erkannt und als nothwendig bezeichnet hat, – so ist das Wesen seiner Handlung moralisch! " Aber, mein Freund, du sprichst mir da von drei Handlungen statt von einer: auch dein Urtheilen zum Beispiel "so ist es recht" ist eine Handlung, – könnte nicht schon auf eine moralische und auf eine unmoralische Weise geurtheilt werden? Warum hältst du diess und gerade diess für recht? – "Weil mein Gewissen es mir sagt; das Gewissen redet nie unmoralisch, es bestimmt ja erst, was moralisch sein soll!" – Aber warum hörst du auf die Sprache deines Gewissens? Und inwiefern hast du ein Recht, ein solches Urtheil als wahr und untrüglich anzusehen? Für diesen Glauben – giebt es da kein Gewissen mehr? Weisst du Nichts von einem intellectuellen Gewissen? Einem Gewissen hinter deinem "Gewissen"? Dein Urtheil "so ist es recht" hat eine Vorgeschichte in deinen Trieben, Neigungen, Abneigungen, Erfahrungen und Nicht-Erfahrungen; "wie ist es da entstanden?" musst du fragen, und hinterher noch:, "was treibt mich eigentlich, ihm Gehör zu schenken?" Du kannst seinem Befehle Gehör schenken, wie ein braver Soldat, der den Befehl seines Offiziers vernimmt. Oder wie ein Weib, das Den liebt, der befiehlt. Oder wie ein Schmeichler und Feigling, der sich vor dem Befehlenden fürchtet. Oder wie ein Dummkopf, welcher folgt, weil er Nichts dagegen zu sagen hat. Kurz, auf hundert Arten kannst du deinem Gewissen Gehör geben. Dass du aber diess und jenes Urtheil als Sprache des Gewissens hörst, also, dass du Etwas als recht empfindest, kann seine Ursache darin haben, dass du nie über dich nachgedacht hast und blindlings annahmst, was dir als recht von Kindheit an bezeichnet worden ist: oder darin, dass dir Brod und Ehren bisher mit dem zu Theil wurde, was du deine Pflicht nennst, – es gilt dir als "recht", weil es dir deine "Existenz-Bedingung" scheint (dass du aber ein Recht auf Existenz habest, dünkt dich unwiderleglich!). Die Festigkeit deines moralischen Urtheils könnte immer noch ein Beweis gerade von persönlicher Erbärmlichkeit, von Unpersönlichkeit sein, deine "moralische Kraft" könnte ihre Quelle in deinem Eigensinn haben – oder in deiner Unfähigkeit, neue Ideale zu schauen! Und, kurz gesagt: wenn du feiner gedacht, besser beobachtet und mehr gelernt hättest, würdest du diese deine "Pflicht" und diess dein "Gewissen" unter allen Umständen nicht mehr Pflicht und Gewissen benennen: die Einsicht darüber, wie überhaupt jemals moralische Urtheile entstanden sind, würde dir diese pathetischen Worte verleiden, – so wie dir schon andere pathetische Worte, zum Beispiel "Sünde", "Seelenheil", "Erlösung" verleidet sind. – Und nun rede mir nicht vom kategorischen Imperativ, mein Freund! – diess Wort kitzelt mein Ohr, und ich muss lachen, trotz deiner so ernsthaften Gegenwart: ich gedenke dabei des alten Kant, der, zur Strafe dafür, dass er "das Ding an sich" – auch eine sehr lächerliche Sache! – sich erschlichen ha
tte, vom "kategorischen Imperativ" beschlichen wurde und mit ihm im Herzen sich wieder zu "Gott", "Seele", Freiheit" und, "Unsterblichkeit" zurückverirrte, einem Fuchse gleich, der sich in seinen Käfig zurückverirrt: – und seine Kraft und Klugheit war es gewesen, welche diesen Käfig erbrochen hatte! – Wie? Du bewunderst den kategorischen Imperativ in dir? Diese "Festigkeit" deines sogenannten moralischen Urtheils? Diese "Unbedingtheit" des Gefühls "so wie ich, müssen hierin Alle urtheilen"? Bewundere vielmehr deine Selbstsucht darin! Und die Blindheit, Kleinlichkeit und Anspruchslosigkeit deiner Selbstsucht! Selbstsucht nämlich ist es, sein Urtheil als Allgemeingesetz zu empfinden; und eine blinde, kleinliche und anspruchslose Selbstsucht hinwiederum, weil sie verräth, dass du dich selber noch nicht entdeckt, dir selber noch kein eigenes, eigenstes Ideal geschaffen hast: – diess nämlich könnte niemals das eines Anderen sein, geschweige denn Aller, Aller! – – Wer noch urtheilt "so müsste in diesem Falle Jeder handeln", ist noch nicht fünf Schritt weit in der Selbsterkenntniss gegangen: sonst würde er wissen, dass es weder gleiche Handlungen giebt, noch geben kann, – dass jede Handlung, die gethan worden ist, auf eine ganz einzige und unwiederbringliche Art gethan wurde, und dass es ebenso mit jeder zukünftigen Handlung stehen wird, – dass alle Vorschriften des Handelns sich nur auf die gröbliche Aussenseite beziehen (und selbst die innerlichsten und feinsten Vorschriften aller bisherigen Moralen), – dass mit ihnen wohl ein Schein der Gleichheit, aber eben nur ein Schein erreicht werden kann, – dass jede Handlung, beim Hinblick oder Rückblick auf sie, eine undurchdringliche Sache ist und bleibt, – dass unsere Meinungen von "gut", "edel", "gross" durch unsere Handlungen nie bewiesen werden können, weil jede Handlung unerkennbar ist, – dass sicherlich unsere Meinungen, Werthschätzungen und Gütertafeln zu den mächtigsten Hebeln im Räderwerk unserer Handlungen gehören, dass aber für jeden einzelnen Fall das Gesetz ihrer Mechanik unnachweisbar ist. Beschränken wir uns also auf die Reinigung unserer Meinungen und Werthschätzungen und auf die Schöpfung neuer eigener Gütertafeln: – über den "moralischen Werth unserer Handlungen" aber wollen wir nicht mehr grübeln! Ja, meine Freunde! In Hinsicht auf das ganze moralische Geschwätz der Einen über die Andern ist der Ekel an der Zeit! Moralisch zu Gericht sitzen soll uns wider den Geschmack gehen! Ueberlassen wir diess Geschwätz und diesen üblen Geschmack Denen, welche nicht mehr zu thun haben, als die Vergangenheit um ein kleines Stück weiter durch die Zeit zu schleppen und welche selber niemals Gegenwart sind, – den Vielen also, den Allermeisten! Wir aber wollen Die werden, die wir sind, – die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selberSchaffenden! Und dazu müssen wir die besten Lerner und Entdecker alles Gesetzlichen und Nothwendigen in der Welt werden: wir müssen Physiker sein, um, in jenem Sinne, Schöpfer sein zu können, – während bisher alle Werthschätzungen und Ideale auf Unkenntniss der Physik oder im Widerspruch mit ihr aufgebaut waren. Und darum: Hoch die Physik! Und höher noch das, was uns zu ihr zwingt, – unsre Redlichkeit!

  336.

  Geiz der Natur. – Warum ist die Natur so kärglich gegen den Menschen gewesen, dass sie ihn nicht leuchten liess, Diesen mehr, jenen weniger, je nach seiner innern Lichtfülle? Warum haben grosse Menschen nicht eine so schöne Sichtbarkeit in ihrem Aufgange und Niedergange, wie die Sonne? Wie viel unzweideutiger wäre alles Leben unter Menschen!

  337.

  Die zukünftige "Menschlichkeit". – Wenn ich mit den Augen eines fernen Zeitalters nach diesem hinsehe, so weiss ich an dem gegenwärtigen Menschen nichts Merkwürdigeres zu finden, als seine eigenthümliche Tugend und Krankheit, genannt "der historische Sinn". Es ist ein Ansatz zu etwas ganz Neuem und Fremdem in der Geschichte: gebe man diesem Keime einige Jahrhunderte und mehr, so könnte daraus am Ende ein wundervolles Gewächs mit einem eben so wundervollen Geruche werden, um dessentwillen unsere alte Erde angenehmer zu bewohnen wäre, als bisher. Wir Gegenwärtigen fangen eben an, die Kette eines zukünftigen sehr mächtigen Gefühls zu bilden, Glied um Glied, – wir wissen kaum, was wir thun. Fast scheint es uns, als ob es sich nicht um ein neues Gefühl, sondern um die Abnahme aller alten Gefühle handele: – der historische Sinn ist noch etwas so Armes und Kaltes, und Viele werden von ihm wie von einem Froste befallen und durch ihn noch ärmer und kälter gemacht. Anderen erscheint er als das Anzeichen des heranschleichenden Alters, und unser Planet gilt ihnen als ein schwermüthiger Kranker, der, um seine Gegenwart zu vergessen, sich seine Jugendgeschichte aufschreibt. In der That: diess ist Eine Farbe dieses neuen Gefühls: wer die Geschichte der Menschen insgesammt als eigene Geschichte zu fühlen weiss, der empfindet in einer ungeheuren Verallgemeinerung allen jenen Gram des Kranken, der an die Gesundheit, des Greises, der an den Jugendtraum denkt, des Liebenden, der der Geliebten beraubt wird, des Märtyrers, dem sein Ideal zu Grunde geht, des Helden am Abend der Schlacht, welche Nichts entschieden hat und doch ihm Wunden und den Verlust des Freundes brachte –; aber diese ungeheure Summe von Gram aller Art tragen, tragen können und nun doch noch der Held sein, der beim Anbruch eines zweiten Schlachttages die Morgenröthe und sein Glück begrüsst, als der Mensch eines Horizontes von Jahrtausenden vor sich und hinter sich, als der Erbe aller Vornehmheit alles vergangenen Geistes und der verpflichtete Erbe, als der Adeligste aller alten Edlen und zugleich der Erstling eines neuen Adels, dessen Gleichen noch keine Zeit sah und träumte: diess Alles auf seine Seele nehmen, Aeltestes, Neuestes, Verluste, Hoffnungen, Eroberungen, Siege der Menschheit: diess Alles endlich in Einer Seele haben und in Ein Gefühl zusammendrängen: – diess müsste doch ein Glück ergeben, das bisher der Mensch noch nicht kannte, – eines Gottes Glück voller Macht und Liebe, voller Thränen und voll Lachens, ein Glück, welches, wie die Sonne am Abend, fortwährend aus seinem unerschöpflichen Reichthume wegschenkt und in's Meer schüttet und, wie sie, sich erst dann am reichsten fühlt, wenn auch der ärmste Fischer noch mit goldenem Ruder rudert! Dieses göttliche Gefühl hiesse dann – Menschlichkeit!

  338.

  Der Wille zum Leiden und die Mitleidigen. – Ist es euch selber zuträglich, vor Allem mitleidige Menschen zu sein? Und ist es den Leidenden zuträglich, wenn ihr es seid? Doch lassen wir die erste Frage für einen Augenblick ohne Antwort. – Das, woran wir am tiefsten und persönlichsten leiden, ist fast allen Anderen unverständlich und unzugänglich: darin sind wir dem Nächsten verborgen, und wenn er mit uns aus Einem Topfe isst. Ueberall aber, wo wir als Leidende bemerkt werden, wird unser Leiden flach ausgelegt; es gehört zum Wesen der mitleidigen Affection, dass sie das fremde Leid des eigentlich Persönlichen entkleidet: – unsre "Wohlthäter" sind mehr als unsre Feinde die Verkleinerer unsres Werthes und Willens. Bei den meisten Wohlthaten, die Unglücklichen erwiesen werden, liegt etwas Empörendes in der intellectuellen Leichtfertigkeit, mit der da der Mitleidige das Schicksal spielt: er weiss Nichts von der ganzen inneren Folge und Verflechtung, welche Unglück für mich oder für dich heisst! Die gesammte Oekonomie meiner Seele und deren Ausgleichung durch das "Unglück", das Aufbrechen neuer Quellen und Bedürfnisse, das Zuwachsen alter Wunden, das Abstossen ganzer Vergangenheiten – das Alles, was mit dem Unglück verbunden sein kann, kümmert den lieben Mitleidigen nicht: er will helfen und denkt nicht daran, dass es eine persönliche Nothwendigkeit des Unglücks giebt, dass mir und dir Schrecken, Entbehrungen, Verarmungen, Mitternächte, Abenteuer, Wagnisse, Fehlgriffe so nöthig sind, wie ihr Gegentheil, ja dass, um mich mystisch auszudrücken, der Pfad zum eigenen Himmel immer durch die Wollust der eigenen Hölle geht. Nein, davon weiss er Nichts: die "Religion des Mitleidens" (oder "das Herz") gebietet, zu helfen, und man glaubt am besten geholfen zu haben, wenn man am schnellsten geholfen hat! Wenn ihr Anhänger dieser Religion die selbe Gesinnung, die ihr gegen die Mitmenschen habt, auch wirklich gegen euch selber habt, wenn ihr euer eigenes Leiden nicht eine Stunde auf euch liegen lassen wollt und immerfort allem möglichen Unglücke von ferne her schon vorbeugt, wenn ihr Leid und Unlust überhaupt als böse, hassenswerth, vernichtungswürdig, als Makel am Dasein empfindet: nun, dann habt ihr, ausser eurer Religion des Mitleidens, auch noch eine an
dere Religion im Herzen, und diese ist vielleicht die Mutter von jener: – die Religion der Behaglichkeit. Ach, wie wenig wisst ihr vom Glücke des Menschen, ihr Behaglichen und Gutmüthigen! – denn das Glück und das Unglück sind zwei Geschwister und Zwillinge, die mit einander gross wachsen oder, wie bei euch, mit einander – klein bleiben! Aber nun zur ersten Frage zurück. – Wie ist es nur möglich, auf seinem Wege zu bleiben! Fortwährend ruft uns irgend ein Geschrei seitwärts; unser Auge sieht da selten Etwas, wobei es nicht nöthig wird, augenblicklich unsre eigne Sache zu lassen und zuzuspringen. Ich weiss es. es giebt hundert anständige und rühmliche Arten, um mich von meinem Wege zu verlieren, und wahrlich höchst "moralische" Arten! Ja, die Ansicht der jetzigen Mitleid-Moralprediger geht sogar dahin, dass eben Diess und nur Diess allein moralisch sei: – sich dergestalt von seinem Wege zu verlieren und dem Nächsten beizuspringen. Ich weiss es ebenso gewiss: ich brauche mich nur dem Anblicke einer wirklichen Noth auszuliefern, so bin ich auch verloren! Und wenn ein leidender Freund zu mir sagte: "Siehe, ich werde bald sterben; versprich mir doch, mit mir zu sterben" – ich verspräche es, ebenso wie mich der Anblick jenes für seine Freiheit kämpfenden Bergvölkchens dazu bringen würde, ihm meine Hand und mein Leben anzubieten: – um einmal aus guten Gründen schlechte Beispiele zu wählen. Ja, es giebt eine heimliche Verführung sogar in alle diesem Mitleid-Erweckenden und Hülfe-Rufenden: eben unser "eigener Weg" ist eine zu harte und anspruchsvolle Sache und zu ferne von der Liebe und Dankbarkeit der Anderen, – wir entlaufen ihm gar nicht ungerne, ihm und unserm eigensten Gewissen, und flüchten uns unter das Gewissen der Anderen und hinein in den lieblichen Tempel der, "Religion des Mitleidens". Sobald jetzt irgend ein Krieg ausbricht, so bricht damit immer auch gerade in den Edelsten eines Volkes eine freilich geheim gehaltene Lust aus: sie werfen sich mit Entzücken der neuen Gefahr des Todes entgegen, weil sie in der Aufopferung für das Vaterland endlich jene lange gesuchte Erlaubniss zu haben glauben – die Erlaubniss, ihrem Ziele auszuweichen: – der Krieg ist für sie ein Umweg zum Selbstmord, aber ein Umweg mit gutem Gewissen. Und, um hier Einiges zu verschweigen: so will ich doch meine Moral nicht verschweigen, welche zu mir sagt: Lebe im Verborgenen, damit du dir leben kannst! Lebe unwissend über Das, was deinem Zeitalter das Wichtigste dünkt! Lege zwischen dich und heute wenigstens die Haut von drei Jahrhunderten! Und das Geschrei von heute, der Lärm der Kriege und Revolutionen, soll dir ein Gemurmel sein! Du wirst auch helfen wollen: aber nur Denen, deren Noth du ganz verstehst, weil sie mit dir Ein Leid und Eine Hoffnung haben – deinen Freunden: und nur auf die Weise, wie du dir selber hilfst: – ich will sie muthiger, aushaltender, einfacher, fröhlicher machen! Ich will sie Das lehren, was jetzt so Wenige verstehen und jene Prediger des Mitleidens am wenigsten: – die Mitfreude!

 

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