Die fröhliche Wissenschaft (German Edition)

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Die fröhliche Wissenschaft (German Edition) Page 25

by Friedrich Wilhelm Nietzsche


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  Unser Glaube an eine Vermännlichung Europa's. – Napoleon verdankt man's (und ganz und gar nicht der französischen Revolution, welche auf "Brüderlichkeit" von Volk zu Volk und allgemeinen blumichten Herzens-Austausch ausgewesen ist), dass sich jetzt ein paar kriegerische Jahrhunderte auf einander folgen dürfen, die in der Geschichte nicht ihres Gleichen haben, kurz dass wir in's klassische Zeitalter des Kriegs getreten sind, des gelehrten und zugleich volksthümlichen Kriegs im grössten Maassstabe (der Mittel, der Begabungen, der Disciplin), auf den alle kommenden Jahrtausende als auf ein Stück Vollkommenheit mit Neid und Ehrfurcht zurückblicken werden: – denn die nationale Bewegung, aus der diese Kriegs-Glorie herauswächst, ist nur der Gegen-choc gegen Napoleon und wäre ohne Napoleon nicht vorhanden. Ihm also wird man einmal es zurechnen dürfen, dass der Mann in Europa wieder Herr über den Kaufmann und Philister geworden ist; vielleicht sogar über "das Weib", das durch das Christenthum und den schwärmerischen Geist des achtzehnten Jahrhunderts, noch mehr durch die "modernen Ideen", verhätschelt worden ist. Napoleon, der in den modernen Ideen und geradewegs in der Civilisation Etwas wie eine persönliche Feindin sah, hat mit dieser Feindschaft sich als einer der grössten Fortsetzer der Renaissance bewährt: er hat ein ganzes Stück antiken Wesens, das entscheidende vielleicht, das Stück Granit, wieder heraufgebracht. Und wer weiss, ob nicht dies Stück antiken Wesens auch endlich wieder über die nationale Bewegung Herr werden wird und sich im bejahenden Sinne zum Erben und Fortsetzer Napoleon's machen muss: – der das Eine Europa wollte, wie man weiss, und dies als Herrin der Erde.-

  363.

  Wie jedes Geschlecht über die Liebe sein Vorurtheil hat. – Bei allem Zugeständnisse, welches ich dem monogamischen Vorurtheile zu machen Willens bin, werde ich doch niemals zulassen, dass man bei Mann und Weib von gleichen Rechten in der Liebe rede: diese giebt es nicht. Das macht, Mann und Weib verstehen unter Liebe jeder etwas Anderes, – und es gehört mit unter die Bedingungen der Liebe bei beiden Geschlechtern, dass das eine Geschlecht beim andren Geschlechte nicht das gleiche Gefühl, den gleichen Begriff "Liebe" voraussetzt. Was das Weib unter Liebe versteht, ist klar genug: vollkommene Hingabe (nicht nur Hingebung) mit Seele und Leib, ohne jede Rücksicht, jeden Vorbehalt, mit Scham und Schrecken vielmehr vor dem Gedanken einer verklausulirten, an Bedingungen geknüpften Hingabe. In dieser Abwesenheit von Bedingungen ist eben seine Liebe ein Glaube: das Weib hat keinen anderen. – Der Mann, wenn er ein Weib liebt, will von ihm eben diese Liebe, ist folglich für seine Person selbst am entferntesten von der Voraussetzung der weiblichen Liebe; gesetzt aber, dass es auch Männer geben sollte, denen ihrerseits das Verlangen nach vollkommener Hingebung nicht fremd ist, nun, so sind das eben – keine Männer. Ein Mann, der liebt wie ein Weib, wird damit Sklave; ein Weib aber, das liebt wie ein Weib, wird damit ein vollkommeneres Weib... Die Leidenschaft des Weibes, in ihrem unbedingten Verzichtleisten auf eigne Rechte, hat gerade zur Voraussetzung, dass auf der andren Seite nicht ein gleiches Pathos, ein gleiches Verzichtleisten-Wollen besteht: denn wenn Beide aus Liebe auf sich selbst verzichteten, so entstünde daraus – nun, ich weiss nicht was, vielleicht ein leerer Raum? – Das Weib will genommen, angenommen werden als Besitz, will aufgehn in den Begriff "Besitz", "besessen"; folglich will es Einen, der nimmt, der sich nicht selbst giebt und weggiebt, der umgekehrt vielmehr gerade reicher an "sich" gemacht werden soll – durch den Zuwachs an Kraft, Glück, Glaube, als welchen ihm das Weib sich selbst giebt. Das Weib giebt sich weg, der Mann nimmt hinzu – ich denke, über diesen Natur-Gegensatz wird man durch keine socialen Verträge, auch nicht durch den allerbesten Willen zur Gerechtigkeit hinwegkommen: so wünschenswerth es sein mag, dass man das Harte, Schreckliche, Räthselhafte, Unmoralische dieses Antagonismus sich nicht beständig vor Augen stellt. Denn die Liebe, ganz, gross, voll gedacht, ist Natur und als Natur in alle Ewigkeit etwas "Unmoralisches". – Die Treue ist demgemäss in die Liebe des Weibes eingeschlossen, sie folgt aus deren Definition; bei dem Manne kann sie leicht im Gefolge seiner Liebe entstehn, etwa als Dankbarkeit oder als Idiosynkrasie des Geschmacks und sogenannte Wahlverwandtschaft, aber sie gehört nicht in's Wesen seiner Liebe, – und zwar so wenig, dass man beinahe mit einigem Recht von einem natürlichen Widerspiel zwischen Liebe und Treue beim Mann reden dürfte: welche Liebe eben ein Haben-Wollen ist und nicht ein Verzichtleisten und Weggeben; das Haben-Wollen geht aber jedes Mal mit dem Haben zu Ende... Thatsächlich ist es der feinere und argwöhnerischere Besitzdurst des Mannes, der dies "Haben" sich selten und spät eingesteht, was seine Liebe fortbestehn macht; insofern ist es selbst möglich, dass sie noch nach der Hingebung wächst, – er giebt nicht leicht zu, dass ein Weib für ihn Nichts mehr "hinzugeben" hätte. –

  364.

  Der Einsiedler redet. – Die Kunst, mit Menschen umzugehn, beruht wesentlich auf der Geschicklichkeit (die eine lange Uebung voraussetzt), eine Mahlzeit anzunehmen, einzunehmen, zu deren Küche man kein Vertrauen hat. Gesetzt, dass man mit einem Wolfshunger zu Tisch kommt, geht Alles leicht ("die schlechteste Gesellschaft lässt dich fühlen –", wie Mephistopheles sagt); aber man hat ihn nicht, diesen Wolfshunger, wenn man ihn braucht! Ah, wie schwer sind die Mitmenschen zu verdauen! Erstes Princip: wie bei einem Unglücke seinen Muth einsetzen, tapfer zugreifen, sich selbst dabei bewundern, seinen Widerwillen zwischen die Zähne nehmen, seinen Ekel hinunter stopfen. Zweites Princip: seinen Mitmenschen "verbessern", zum Beispiel durch ein Lob, so dass er sein Glück über sich selbst auszuschwitzen beginnt; oder einen Zipfel von seinen guten oder "interessanten" Eigenschaften fassen und daran ziehn, bis man die ganze Tugend heraus hat und den Mitmenschen in deren Falten unterstecken kann. Drittes Princip: Selbsthypnotisirung. Sein Verkehrs-Objekt wie einen gläsernen Knopf fixiren, bis man aufhört, Lust und Unlust dabei zu empfinden, und unbemerkt einschläft, starr wird, Haltung bekommt: ein Hausmittel aus der Ehe und Freundschaft, reichlich erprobt, als unentbehrlich gepriesen, aber wissenschaftlich noch nicht formulirt. Sein populärer Name ist – Geduld. –

  365.

  Der Einsiedler spricht noch einmal. – Auch wir gehn mit "Menschen" um, auch wir ziehn bescheiden das Kleid an, in dem (als das) man uns kennt, achtet, sucht, und begeben uns damit in Gesellschaft, das heisst unter Verkleidete, die es nicht heissen wollen; auch wir machen es wie alle klugen Masken und setzen jeder Neugierde, die nicht unser "Kleid" betrifft, auf eine höfliche Weise den Stuhl vor die Thüre. Es giebt aber auch andre Arten und Kunststücke, um unter Menschen, mit Menschen "umzugehn": zum Beispiel als Gespenst, – was sehr rathsam ist, wenn man sie bald los sein und fürchten machen will. Probe: man greift nach uns und bekommt uns nicht zu fassen. Das erschreckt. Oder: wir kommen durch eine geschlossne Thür. Oder: wenn alle Lichter ausgelöscht sind. Oder: nachdem wir bereits gestorben sind. Letzteres ist das Kunststück der posthumen Menschen par excellence. ("Was denkt ihr auch?" sagte ein Solcher einmal ungeduldig, "würden wir diese Fremde, Kälte, Grabesstille um uns auszuhalten Lust haben, diese ganze unterirdische verborgne stumme unentdeckte Einsamkeit, die bei uns Leben heisst und ebensogut Tod heissen könnte, wenn wir nicht wüssten, was aus uns wird, – und dass wir nach dem Tode erst zu unserm Leben kommen und lebendig werden, ah! sehr lebendig! wir posthumen Menschen!"-)

  366.

  Angesichts eines gelehrten Buches. – Wir gehören nicht zu Denen, die erst zwischen Büchern, auf den Anstoss von Büchern zu Gedanken kommen – unsre Gewohnheit ist, im Freien zu denken, gehend, springend, steigend, tanzend, am liebsten auf einsamen Bergen oder dicht am Meere, da wo selbst die Wege nachdenklich werden. Unsre ersten Werthfragen, in Bezug auf Buch, Mensch und Musik, lauten: "kann er gehen? mehr noch, kann er tanzen?"... Wir lesen selten, wir lesen darum nicht schlechter – oh wie rasch errathen wir's, wie Einer auf seine Gedanken gekommen ist, ob sitzend, vor dem Tintenfass, mit zusammengedrücktem Bauche, den Kopf über das Papier gebeugt: oh wie rasch sind wir auch mit seinem Buche fertig! Das geklemmte Eingeweide verräth sich, darauf darf man wetten, ebenso wie sich Stubenluft, Stubendecke, Stubenenge verräth. – Das waren meine Gefühle, als ich ebe
n ein rechtschaffnes gelehrtes Buch zuschlug, dankbar, sehr dankbar, aber auch erleichtert... An dem Buche eines Gelehrten ist fast immer auch etwas Drückendes, Gedrücktes: der "Specialist" kommt irgendwo zum Vorschein, sein Eifer, sein Ernst, sein Ingrimm, seine Ueberschätzung des Winkels, in dem er sitzt und spinnt, sein Buckel, – jeder Specialist hat seinen Buckel. Ein Gelehrten-Buch spiegelt immer auch eine krummgezogene Seele: jedes Handwerk zieht krumm. Man sehe seine Freunde wieder, mit denen man jung war, nachdem sie Besitz von ihrer Wissenschaft ergriffen haben: ach, wie auch immer das Umgekehrte geschehn ist! Ach, wie sie selbst auf immer nunmehr von ihr besetzt und besessen sind! In ihre Ecke eingewachsen, verdrückt bis zur Unkenntlichkeit, unfrei, um ihr Gleichgewicht gebracht, abgemagert und eckig überall, nur an Einer Stelle ausbündig rund, – man ist bewegt und schweigt, wenn man sie so wiederfindet. Jedes Handwerk, gesetzt selbst, dass es einen goldenen Boden hat, hat über sich auch eine bleierne Decke, die auf die Seele drückt und drückt, bis sie wunderlich und krumm gedrückt ist. Daran ist Nichts zu ändern. Man glaube ja nicht, dass es möglich sei, um diese Verunstaltung durch irgend welche Künste der Erziehung herumzukommen. Jede Art Meisterschaft zahlt sich theuer auf Erden, wo vielleicht Alles sich zu theuer zahlt; man ist Mann seines Fachs um den Preis, auch das Opfer seines Fachs zu sein. Aber ihr wollt es anders haben – "billiger", vor Allem bequemer – nicht wahr, meine Herren Zeitgenossen? Nun wohlan! Aber da bekommt ihr sofort auch etwas Anderes, nämlich statt des Handwerkers und Meisters den Litteraten, den gewandten "vielgewendeten" Litteraten, dem freilich der Buckel fehlt – jenen abgerechnet, den er vor euch macht, als der Ladendiener des Geistes und "Träger" der Bildung –, den Litteraten, der eigentlich Nichts ist, aber fast Alles "repräsentirt", der den Sachkenner spielt und "vertritt", der es auch in aller Bescheidenheit auf sich nimmt, sich an dessen Stelle bezahlt, geehrt, gefeiert zu machen. – Nein, meine gelehrten Freunde! Ich segne euch auch noch um eures Buckels willen! Und dafür, dass ihr gleich mir die Litteraten und Bildungs-Schmarotzer verachtet! Und dass ihr nicht mit dem Geiste Handel zu treiben wisst! Und lauter Meinungen habt, die nicht in Geldeswerth auszudrücken sind! Und dass ihr Nichts vertretet, was ihr nicht seid! Dass euer einziger Wille ist, Meister eures Handwerks zu werden, in Ehrfurcht vor jeder Art Meisterschaft und Tüchtigkeit und mit rücksichtslosester Ablehnung alles Scheinbaren, Halbächten, Aufgeputzten, Virtuosenhaften, Demagogischen, Schauspielerischen in litteris et artibus – alles Dessen, was in Hinsicht auf unbedingte Probität von Zucht und Vorschulung sich nicht vor euch ausweisen kann! (Selbst Genie hilft über einen solchen Mangel nicht hinweg, so sehr es auch über ihn hinwegzutäuschen versteht: das begreift man, wenn man einmal unsern begabtesten Malern und Musikern aus der Nähe zugesehn hat, – als welche Alle, fast ausnahmslos, sich durch eine listige Erfindsamkeit von Manieren, von Nothbehelfen, selbst von Principien künstlich und nachträglich den Anschein jener Probität, jener Solidität von Schulung und Cultur anzueignen wissen, freilich ohne damit sich selbst zu betrügen, ohne damit ihr eignes schlechtes Gewissen dauernd mundtodt zu machen. Denn, ihr wisst es doch? alle grossen modernen Künstler leiden am schlechten Gewissen... )

  367.

  Wie man zuerst bei Kunstwerken zu unterscheiden hat. – Alles, was gedacht, gedichtet, gemalt, componirt, selbst gebaut und gebildet wird, gehört entweder zur monologischen Kunst oder zur Kunst vor Zeugen. Unter letztere ist auch noch jene scheinbare Monolog-Kunst einzurechnen, welche den Glauben an Gott in sich schliesst, die ganze Lyrik des Gebets: denn für einen Frommen giebt es noch keine Einsamkeit, – diese Erfindung haben erst wir gemacht, wir Gottlosen. Ich kenne keinen tieferen Unterschied der gesammten Optik eines Künstlers als diesen: ob er vom Auge des Zeugen aus nach seinem werdenden Kunstwerke (nach "sich" –) hinblickt oder aber "die Welt vergessen hat": wie es das Wesentliche jeder monologischen Kunst ist, – sie ruht auf dem Vergessen, sie ist die Musik des Vergessens.

  368.

  Der Cyniker redet. – Meine Einwände gegen die Musik Wagner's sind physiologische Einwände: wozu dieselben erst noch unter ästhetische Formeln verkleiden? Meine "Thatsache" ist, dass ich nicht mehr leicht athme, wenn diese Musik erst auf mich wirkt; dass alsbald mein Fuss gegen sie böse wird und revoltirt – er hat das Bedürfniss nach Takt, Tanz, Marsch, er verlangt von der Musik vorerst die Entzückungen, welche in gutem Gehen, Schreiten, Springen, Tanzen liegen. – Protestirt aber nicht auch mein Magen? mein Herz? mein Blutlauf? mein Eingeweide? Werde ich nicht unvermerkt heiser dabei? – Und so frage ich mich: was will eigentlich mein ganzer Leib von der Musik überhaupt? Ich glaube, seine Erleichterung: wie als ob alle animalischen Funktionen durch leichte kühne ausgelassne selbstgewisse Rhythmen beschleunigt werden sollten; wie als ob das eherne, das bleierne Leben durch goldene gute zärtliche Harmonien vergoldet werden sollte. Meine Schwermuth will in den Verstecken und Abgründen der Vollkommenheit ausruhn: dazu brauche ich Musik. Was geht mich das Drama an! Was die Krämpfe seiner sittlichen Ekstasen, an denen das "Volk" seine Genugthuung hat! Was der ganze Gebärden-Hokuspokus des Schauspielers!... Man erräth, ich bin wesentlich antitheatralisch geartet, – aber Wagner war umgekehrt wesentlich Theatermensch und Schauspieler, der begeistertste Mimomane, den es gegeben hat, auch noch als Musiker!.. Und, beiläufig gesagt: wenn es Wagner's Theorie gewesen ist "das Drama ist der Zweck, die Musik ist immer nur dessen Mittel", – seine Praxis dagegen war, von Anfang bis zu Ende, "die Attitüde ist der Zweck, das Drama, auch die Musik ist immer nur ihr Mittel". Die Musik als Mittel zur Verdeutlichung, Verstärkung, Verinnerlichung der dramatischen Gebärde und Schauspieler-Sinnenfälligkeit; und das Wagnerische Drama nur eine Gelegenheit zu vielen dramatischen Attitüden! Er hatte, neben allen anderen Instinkten, die commandirenden Instinkte eines grossen Schauspielers, in Allem und Jedem: und, wie gesagt, auch als Musiker. – Dies machte ich einstmals einem rechtschaffenen Wagnerianer klar, mit einiger Mühe; und ich hatte Gründe, noch hinzuzufügen "seien Sie doch ein wenig ehrlicher gegen sich selbst: wir sind ja nicht im Theater! Im Theater ist man nur als Masse ehrlich; als Einzelner lügt man, belügt man sich. Man lässt sich selbst zu Hause, wenn man in's Theater geht, man verzichtet auf das Recht der eignen Zunge und Wahl, auf seinen Geschmack, selbst auf seine Tapferkeit, wie man sie zwischen den eignen vier Wänden gegen Gott und Mensch hat und übt. In das Theater bringt Niemand die feinsten Sinne seiner Kunst mit, auch der Künstler nicht, der für das Theater arbeitet: da ist man Volk, Publikum, Heerde, Weib, Pharisäer, Stimmvieh, Demokrat, Nächster, Mitmensch, da unterliegt noch das persönlichste Gewissen dem nivellirenden Zauber der "grössten Zahl", da wirkt die Dummheit als Lüsternheit und Contagion, da regiert der "Nachbar", da wird man Nachbar... " (Ich vergass zu erzählen, was mir mein aufgeklärter Wagnerianer auf die physiologischen Einwände entgegnete: "Sie sind also eigentlich nur nicht gesund genug für unsere Musik?"-)

  369.

  Unser Nebeneinander. – Müssen wir es uns nicht eingestehn, wir Künstler, dass es eine unheimliche Verschiedenheit in uns giebt, dass unser Geschmack und andrerseits unsre schöpferische Kraft auf eine wunderliche Weise für sich stehn, für sich stehn bleiben und ein Wachsthum für sich haben, – ich will sagen ganz verschiedne Grade und tempi von Alt, Jung, Reif, Mürbe, Faul? So dass zum Beispiel ein Musiker zeitlebens Dinge schaffen könnte, die dem, was sein verwöhntes Zuhörer-Ohr, Zuhörer-Herz schätzt, Schmeckt, vorzieht, widersprechen: – er brauchte noch nicht einmal um diesen Widerspruch zu wissen! Man kann, wie eine fast peinlich-regelmässige Erfahrung zeigt, leicht mit seinem Geschmack über den Geschmack seiner Kraft hinauswachsen, selbst ohne dass letztere dadurch gelähmt und am Hervorbringen gehindert würde; es kann aber auch etwas Umgekehrtes geschehn, – und dies gerade ist es, worauf ich die Aufmerksamkeit der Künstler lenken möchte. Ein Beständig-Schaffender, eine "Mutter" von Mensch, im grossen Sinne des Wortes, ein Solcher, der von Nichts als von Schwangerschaften und Kindsbetten seines Geistes mehr weiss und hört, der gar keine Zeit hat, sich und sein Werk zu bedenken, zu vergleichen, der auch nicht mehr Willens ist, seinen Geschmack noch zu üben, und ihn einfach
vergisst, nämlich stehn, liegen oder fallen lässt, – vielleicht bringt ein Solcher endlich Werke hervor, denen er mit seinem Urtheile längst nicht mehr gewachsen ist: so dass er über sie und sich Dummheiten sagt, – sagt und denkt. Dies scheint mir bei fruchtbaren Künstlern beinahe das normale Verhältniss, – Niemand kennt ein Kind schlechter als seine Eltern – und es gilt sogar, um ein ungeheueres Beispiel zu nehmen, in Bezug auf die ganze griechische Dichter- und Künstler-Welt: sie hat niemals "gewusst", was sie gethan hat...

 

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