Feel Again

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Feel Again Page 17

by Mona Kasten


  »Du tust so, als wäre das eine Bestrafung«, sagte ich, als wir zusammen zurück ins Wohnzimmer gingen. »Du wirst Spaß dabei haben. Vertrau mir.«

  Dawn und ich setzten uns auf zwei freie Stühle am Esstisch. Isaac blieb unschlüssig stehen. »Du meinst wohl, dass ihr dabei Spaß haben werdet«, grummelte er. »Ich hingegen mache mich wieder total zum Affen.«

  »Warum solltest du?«, fragte ich mit einem Seufzen. »Muss ich dich wirklich noch mal daran erinnern, was die wichtigste Lektion ist, Grant Isaac Grant?«

  »Welche ist die wichtigste Lektion?«, fragte Dawn.

  Ich konnte genau sehen, dass Isaac ein Augenrollen unterdrückte, als er sagte: »Selbstbewusst sein.«

  »Ah«, sagte Dawn.

  Ich drehte mich zu ihr. »Dir und Spencer sind eben fast die Augen rausgefallen, als ihr ihn gesehen habt.« Ich zuckte mit den Schultern. »Aber egal, wie oft man ihm sagt, dass er heiß ist – er glaubt es einfach nicht.«

  »Komm schon, Sawyer«, sagte Isaac mit dunklem Blick.

  Dawn sah lächelnd zwischen uns hin und her. Ich konnte den Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht deuten, aber irgendwas schien gerade in ihrem Kopf vorzugehen. »Ich bin ja immer noch dafür, dass du es mal bei Everly probierst«, sagte sie schließlich.

  Isaac seufzte. »Nicht schon wieder die Liste von deinen Single-Freundinnen, Dawn.«

  »Sie würde sich freuen, wenn du mit ihr sprichst, da bin ich mir sicher. Irgendetwas ist bei ihr los, aber sie will nicht drüber reden. Ein bisschen Ablenkung tut ihr bestimmt gut.« Wir folgten Dawns Blick zur gegenüberliegenden Seite des Raumes, wo ihre Stiefschwester auf dem Sofa saß. Nicht zum ersten Mal fiel mir auf, wie hübsch sie war mit ihren feinen Gesichtszügen, dem blassen Teint und den kurzen schwarzen Haaren. Allerdings starrte sie katatonisch auf ihr Handy und schien überhaupt nicht wahrzunehmen, was um sie herum geschah.

  »Sie sieht eher so aus, als möchte sie allein gelassen werden«, sagte Isaac, hob aber beschwichtigend die Hände, als er meinen Blick sah. »Okay, okay. Ist ja gut.« Er trank seinen Sekt in einem Zug aus. Dann stellte er das Glas auf den Tisch und sah zwischen Dawn und mir hin und her. »Ich gehe jetzt da rüber und werde mich mit diesem Mädchen über Steak unterhalten.«

  Er drehte sich um und ging mit entschlossenen Schritten auf das Sofa und Everly zu.

  »Steak?«, fragte Dawn verwirrt, während sie ihm hinterhersah.

  »Small Talk«, erklärte ich.

  Eine kurze Pause. »Über Fleisch?«

  »Ich hab ihm gesagt, er soll über Themen sprechen, bei denen er sich wohlfühlt, damit es ihm leichter fällt. Er redet halt gerne über die Arbeit.«

  Dawn nickte, und wir beobachteten, wie Isaac sich auf die Sofalehne setzte und Everly ansprach.

  »Vielleich hätte ich ihm dann sagen sollen, dass Everly Vegetarierin ist.«

  Ich starrte sie erschrocken an. Dann brachen wir beide in Gelächter aus.

  »Worüber lacht ihr?«, fragte Spencer. Er kam zu uns und stützte sich auf die Lehne von Dawns Stuhl. Ich fragte mich, ob er vielleicht von ihrem Lachen angelockt worden war.

  »Nichts Wichtiges.«

  »Dann kannst du ja mit mir kommen und ein bisschen tanzen«, sagte er und beugte sich noch ein Stück weiter über den Stuhl. Dawn legte den Kopf in den Nacken und grinste ihn an. Dann drehte sie sich mit fragendem Blick zu mir um.

  Ich machte bloß eine wedelnde Handbewegung. »Geht ruhig. Ist es okay, wenn ich ein paar Bilder mache?«, fragte ich.

  »Klar«, sagte Spencer und begann, an Dawns Armen zu ziehen, damit sie aufstand.

  Dawn lächelte. »Bin sofort wieder zurück, Sawyer.«

  Die beiden gingen in die Mitte des Raums, wo sich schon ein paar Leute zum Takt der Musik bewegten – oder es zumindest versuchten.

  Ich holte Frank aus meinem Rucksack, und als ich mir die Kamera um den Hals hängte, fühlte ich mich augenblicklich wohler. Ich schraubte das Objektiv ab und schoss ein Bild von der provisorischen Tanzfläche. Ich versuchte, auch eine Nahaufnahme von Spencer und Dawn zu bekommen, aber die beiden bewegten sich so schnell, dass der Großteil der Schüsse verschwommen war. Als Dawn merkte, dass ich die Kamera auf sie richtete, streckte sie mir die Zunge raus und zog eine Grimasse. Ich lächelte und drückte genau im richtigen Moment auf den Auslöser. Das Bild würde ich ausdrucken und ihr übers Bett hängen.

  Ich blickte durch die Linse und schwenkte die Kamera möglichst unauffällig in Isaacs Richtung.

  Er saß noch immer auf der Lehne des Sofas, aber Everly hatte sich inzwischen zu ihm gedreht. Er sagte etwas, das sie zum Lachen brachte. Sofort drückte ich auf den Auslöser. Ich wusste nicht, worüber sie sich unterhielten, aber Isaacs Wangen waren rot. Ich zoomte sein Gesicht näher heran. Genau in dem Moment beugte er sich vor, und ich musste wieder rauszoomen, um sehen zu können, was er machte.

  Mein Herz stockte.

  Isaac hatte die Hand auf Everlys Arm gelegt und strich mit dem Daumen über ihre nackte Haut. Sie lächelte ihn an und ließ es zu.

  Ob ich ihn auch so angesehen hatte, als er mich berührt hatte? Mein Finger verharrte über dem Auslöser, während ich die beiden beobachtete. Wie sie an den Lippen des anderen hingen. Wie sie einander anlächelten. Wie Everly ihre Hand kaum merklich in Isaacs Richtung schob, als würde sie sich erhoffen, dass er sie dort ebenfalls berührte.

  Offensichtlich hatte ich alles richtig gemacht.

  Wieso fühlte es sich dann an, als würde gerade etwas schrecklich verkehrt laufen?

  Ich konnte unmöglich auf den Auslöser drücken. Das, was Isaac da tat, konnte ich unmöglich auf einem Bild festhalten. Wie von selbst ließ ich die Kamera sinken. Doch das machte es noch schlimmer. Durch die Linse hatte die Szene beinahe wie ein Schauspiel gewirkt – nicht echt und irgendwie gestellt.

  Aber das hier passierte wirklich, und zwar direkt vor meinen Augen. Ich konnte nicht wegsehen.

  Jetzt hatte Everly etwas gesagt, und Isaac lachte. Da war kein Funken Schüchternheit an ihm zu erkennen. Nichts von der Zurückhaltung und den Selbstzweifeln, die ihm sonst immer so deutlich ins Gesicht geschrieben standen.

  Ich biss die Zähne fest zusammen und wandte den Blick ab. Dann schaltete ich meine Kamera aus und stopfte sie zurück in den Rucksack. Ohne einen weiteren Blick auf Isaac und Everly erhob ich mich und ging in die Küche, geradewegs zu der Anrichte, wo Spencer den Alkohol aufgebaut hatte. Ich betrachtete die verschiedenen Flaschen, bis ich meinen Lieblingswodka unter ihnen entdeckte.

  Ich goss mir einen großzügigen Schluck davon in ein Glas und wollte ihn gerade mit Orangensaft mischen, als sich jemand neben mich stellte, so nah, dass sich unsere Seiten von der Schulter bis zur Hüfte berührten.

  Für den Bruchteil einer Sekunde hoffte ich, dass es Isaac war.

  Doch stattdessen grinste mich Cooper schief von der Seite an. »Hey.«

  Einen kurzen Moment lang hatte ich keine Ahnung, wie ich reagieren sollte, und sah ihn nur fassungslos an.

  Dann stellte ich in aller Ruhe die Flasche zurück auf den Tisch, nahm mein Glas in die Hand und ging, ohne ein Wort zu sagen, an ihm vorbei zurück in Richtung Wohnzimmer.

  An der Tür holte er mich ein. Seine Hand landete auf meinem Oberarm. »Warte doch mal.«

  Mit hochgezogenen Augenbrauen drehte ich mich zu ihm. »Was willst du?«

  Cooper blinzelte. »Ich wollte nur Hi sagen.«

  »Hi«, sagte ich trocken und wollte meinen Arm seinem Griff entziehen, aber er hielt mich fest.

  »Was ist denn mit dir los?«, fragte er.

  »Willst du mich verarschen? Lass mich in Ruhe, Cooper, und geh zu deiner Freundin.«

  Er sah ehrlich verwirrt aus, als hätte er keine Ahnung, was mein Problem war.

  Ich runzelte die Stirn. Es konnte doch unmöglich sein, dass er nicht wusste, warum ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Ich öffnete den Mund genau in dem Moment, als hinter mir eine eiskalte Stimme sagte: »Hände weg von meinem Freund, Dixon.«


  Ich erstarrte.

  Konnte dieser Abend noch schlimmer werden? Warum um alles in der Welt hatte Spencer all diese Leute eingeladen?

  Ich drehte mich um und sah in Amandas wutverzerrtes Gesicht.

  Cooper nahm seine Hand von meinem Arm. »Babe …«, sagte er und machte einen Schritt auf sie zu.

  Doch Amanda beachtete ihn überhaupt nicht. Sie sah nur mich an. »Du musst es echt nötig haben«, sagte sie bitter und deutete mit der Bierflasche in der Hand auf mich. »Kannst du wirklich nicht die Finger von den Freunden anderer Frauen lassen?«

  Oh Mann. Ich konnte dieses Drama gerade wirklich nicht gebrauchen. »Du hast keine Ahnung, wovon du redest, Amanda«, sagte ich so ruhig, wie ich nur konnte.

  Sie lachte schrill. »Jeder hier weiß genau, wovon ich rede«, sagte sie laut. Gleich mehrere Leute auf einmal drehten sich in unsere Richtung. »Einmal Schlampe, immer Schlampe.«

  Ich zuckte zusammen.

  Genau wie deine Mutter.

  Aus dem Augenwinkel registrierte ich, dass Isaac sich vom Sofa erhoben hatte. Ich biss die Zähne fest zusammen und senkte den Blick auf meine Schuhe. Ich wollte nicht, dass er das mit ansah.

  »Amanda«, sagte Cooper leise, aber beharrlich. »Lass es gut sein.«

  »Du hast es mir versprochen, Cooper! Du hast gesagt, dass es nur eine einmalige Sache mit ihr war! Dass jeder einmal auf Sawyer Dixon steigt und es nichts bedeutet.«

  Jemand lachte laut. In meinen Ohren rauschte es, und vor meinen Augen verschwamm alles. Ich ballte die Hände zu Fäusten, so fest, dass es wehtat. Ich konnte nicht mehr atmen.

  Du Hure. Du bist genau wie deine Mutter.

  Amanda hatte recht.

  Was machte ich hier eigentlich? Hatte ich wirklich geglaubt, dass das die Normalität für mich werden konnte? Auf eine Party zu gehen, gemeinsam mit Freunden, und einfach nur Spaß zu haben?

  Das war nicht meine Realität.

  Meine Realität war, dass der Typ, mit dem ich den Abend verbringen wollte, zu dem unschuldigsten Mädchen im gesamten Raum ging und sie ansprach. Wie lächerlich, zu glauben, dass ich für jemanden mehr als eine schnelle Nummer für eine Nacht sein könnte.

  Ich schluckte trocken. Es tat weh, mehr als die Ohrfeige, die Amanda mir an jenem Tag verpasst hatte.

  »Ihr beiden solltet jetzt verschwinden«, erklang eine leise Stimme neben mir. Dawn.

  »Sonst was?«, höhnte Amanda. »Das hier ist nicht dein Haus.«

  »Aber meins«, sagte Spencer. »Und ich kann mich nicht erinnern, euch eingeladen zu haben.«

  »Aber sie, oder was?«

  »Ja, weil sie eine Freundin ist«, sagte er ausdrücklich. »Und ich lasse nicht zu, dass du sie schikanierst. Geht jetzt, bitte.«

  Ich starrte auf meine Schuhspitzen, als Cooper etwas Beruhigendes zu Amanda sagte und die beiden schließlich den Raum verließen. Ich war nicht fähig, mich auch nur ein Stück zu bewegen.

  Jemand legte mir sanft die Hand auf die Schulter. Ich zuckte zusammen und hob den Kopf. Dawn sah mich aus kugelrunden Augen an. »Alles okay?«, wisperte sie.

  Ich hatte immer noch keine Luft geholt. Ich wusste, dass ich dringend atmen musste, aber es war, als hätte ich verlernt, wie.

  »Wollen wir nach Hause?«, fragte Dawn weiter.

  Ich brachte nur ein Nicken zustande.

  Ohne ein weiteres Wort mit irgendjemandem zu wechseln, ließ ich mich von Dawn in die kühle Septembernacht hinausführen. Ich konnte erst wieder atmen, als wir Spencers Haus hinter uns ließen und die Geräusche der Party in der Nacht verklangen.

  KAPITEL 17

  Dawn ließ mich die ganze Nacht nicht allein. In unserem Zimmer angekommen schob sie mich entschlossen zu ihrem Bett, holte ihren Laptop, kletterte neben mich und rief Netflix auf. Ich entschied mich halbherzig für die neueste Staffel von Supernatural, schaute aber nicht wirklich zu. Mir war schwindelig und schlecht, und ich wollte weder die Schokolade essen, die Dawn aus den Tiefen ihres Nachttisches kramte, noch mit ihr über das sprechen, was gerade geschehen war. Irgendwann gab Dawn ihre Versuche auf, mich zum Reden zu bringen.

  Im frühen Morgengrauen schlief sie schließlich neben mir ein. Ich klappte den Laptop zu und versuchte, so leise wie möglich aus ihrem Bett zu schlüpfen. Ich zog meine Jacke an, schnappte mir meinen Rucksack und schloss geräuschlos die Tür hinter mir.

  Ich brauchte dringend frische Luft. Und ich brauchte Ruhe. Ruhe und Zeit, um meine Gedanken zu ordnen und zurück zu mir selbst zu finden.

  Es war so früh, dass auf den Straßen kaum etwas los war. Die Sonne war noch nicht richtig aufgegangen, und der Himmel konnte sich noch nicht entscheiden, ob er lieber pink oder dunkelblau sein wollte. Ich holte meine Kamera hervor und legte den Kopf in den Nacken, um die Farben auf einem Bild festzuhalten. Den gesamten Weg vom Wohnheim bis zu meinem Lieblingsort in Woodshill – der kleine See im Tal der Berge, an dem auch das Steakhouse lag – machte ich Fotos. Ich hatte eine Gänsehaut, und meine Finger waren so kalt, dass es mir schwerfiel, die Kamera richtig zu bedienen, aber ich war froh, etwas zu tun zu haben. Es war besser, ich konzentrierte mich auf das Schöne hier draußen und nicht auf das, was in meinem Inneren vorging.

  Ich machte Halt bei einer Parkbank, von der aus man über den See direkt auf das Steakhouse blicken konnte. Ich zog die Beine an meinen Körper und schlang die Arme um meine Knie. Dann legte ich den Kopf in den Nacken und atmete tief ein. Die frische Luft tat gut. Ich hatte das Gefühl, dass ich all das Gute wieder einatmen musste, das aus mir herausgepresst worden war, als Amanda mir diesen Spruch an den Kopf geworfen hatte.

  Einmal Schlampe, immer Schlampe.

  Amandas Worte hallten in Dauerschleife in meinem Kopf. Immer und immer wieder hörte ich ihre spöttische, verbitterte Stimme. Und sie vermischte sich mit einer anderen Stimme. Einer aus meiner Vergangenheit, die ich seit Jahren versuchte zu vergessen.

  Genau wie deine Mutter.

  Ich schluckte trocken und umfasste das Medaillon von Mom, in der Hoffnung, mich dadurch besser zu fühlen.

  Ob Mom mich für eine Schlampe gehalten hätte? Ich wusste es nicht. Sie war gestorben, lange bevor ich begonnen hatte, mir Gedanken über Jungs zu machen und mit ihr darüber hätte sprechen können. Ich wusste nicht viel über sie, aber … ich meinte trotzdem, sie zu kennen. Von den wenigen Momenten, an die ich mich noch erinnerte, von den Fotos, die Riley damals unter ihrem Bett versteckt hatte, damit sie uns niemand wegnahm, und von den Erzählungen von Moms bester Freundin Gloria, die in Renton wohnte und Riley und mich früher oft beherbergt hatte, wenn wir es bei Melissa nicht mehr ausgehalten hatten. Von ihr wussten wir, dass Mom und Dad sich nie darum geschert hatten, was andere von ihnen dachten, und ihren Rock-’n’-Roll-Lebensstil durchgezogen hatten, auch wenn sie von anderen stets nur belächelt wurden.

  Wir hatten damals zu viert in einer winzigen Wohnung gelebt, ohne Fernseher und ohne Computer. Aber ich erinnerte mich noch genau daran, wie gemütlich es bei uns gewesen war und wie gern Riley und ich mit Mom auf der Couch gekuschelt und einfach nur gemeinsam eine neue CD oder eine neue Platte durchgehört hatten. Anderen in unserem Alter war es wichtiger gewesen, angesagte Klamotten oder ein eigenes Handy zu haben. Riley und ich hatten unsere Eltern angebettelt, uns mit in den Plattenladen, auf ein Konzert oder eine After-Show-Party zu nehmen.

  Es war uns auch egal, dass unsere Mitschüler nichts mit uns zu tun haben wollten, nur weil Mom Band-T-Shirts trug, als wären sie Kleider, und Dad Motorrad fuhr. Die eine Lektion, die unsere Eltern uns beigebracht hatten, war, immer nur das zu tun, was sich richtig für einen selbst anfühlte, und nie auf das zu hören, was andere über einen sagten. So hatten Riley und ich von klein auf versucht, zu leben. Und es hatte auch immer gereicht.

  Natürlich wusste ich, dass ich ein Problem damit hatte, feste Bindungen einzugehen. Ich hatte keine Freundin außer Dawn, und sie war nur meine Freundin, weil sie mir keine andere Wahl gelassen hatte. Männer ließ ich nur auf eine Weise an mich heran. Allein der Gedanke, mich jema
ndem zu öffnen und von meiner Vergangenheit zu erzählen, versetzte mich in Panik.

  Ich brauchte niemanden.

  Zumindest hatte ich das geglaubt.

  Ich dachte an gestern Abend. Irgendetwas hatte sich in mir verändert. Ich wusste nicht genau, was es war, aber tief in mir drin fühlte sich etwas anders an. Bevor Cooper und Amanda aufgetaucht waren, hatte ich Spaß gehabt – mit Dawn und mit Isaac. Und wenn ich an die letzten Wochen zurückdachte, musste ich zugeben, dass es nicht das erste Mal gewesen war.

  Ich fragte mich, was wäre, wenn ich … anders wäre. Mich nicht mehr nur abschottete, sondern Leute an meinem Leben teilhaben ließ. Dawn hatte sich letzte Nacht rührend um mich gekümmert. Spencer hatte mich vor all seinen Freunden verteidigt. Und Isaac …

  Isaac löste etwas in mir aus, über das ich mir deutlich mehr Gedanken machen sollte als über Amandas Worte.

  Konnte ich das, was Riley geschafft hatte, auch hinbekommen? Sie hatte damals noch viel mehr durchgemacht als ich, schließlich hatte sie keine große Schwester, die sich um sie kümmerte. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr war sie vollkommen auf sich allein gestellt.

  Aber jetzt war sie glücklich. Sie hatte einen Mann, der sie liebte, Freunde, auf die sie sich verlassen konnte, und einen Job, in dem sie gut war und der sie erfüllte. Sie hatte sich ein richtiges Zuhause geschaffen. Wenn sie die Kurve bekam … vielleicht würde es mir auch irgendwann gelingen.

  Ich betrachtete die spiegelglatte Oberfläche des Sees und fasste einen Entschluss. Vorsichtig hob ich die Kamera von meinem Hals und legte sie auf der Bank ab. Dann zog ich meine Jacke, mein Shirt und meine Jeans aus und legte sie daneben. Nur noch mit Unterwäsche bekleidet lief ich zum See. Ich machte einen ersten Schritt ins Wasser. Zischend holte ich Luft, machte aber sofort einen zweiten. Scheiße, war das kalt. Ein dritter Schritt. So verdammt kalt.

  Ich lief weiter. Unter meinen Füßen spürte ich Sand, Steine und Pflanzen. Es fühlte sich glitschig an. Die Kälte kroch von meinen Beinen aufwärts in jeden Winkel meines Körpers. Sie weckte und betäubte mich gleichzeitig. Das war gut. Ich lief weiter, bis ich bis zur Hüfte im Wasser stand.

 

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